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ASIEN/594: Bürgerkriegsähnliche Zustände in Pakistan (SB)


Bürgerkriegsähnliche Zustände in Pakistan

Pakistanische Taliban vor den Toren der Hauptstadt Islamabad


Im Ausland wie auch in Pakistan selbst geht die Angst vor dem Auseinderbrechen der Islamischen Republik um. Seit der blutigen Erstürmung der Roten Moschee in Islamabad im Juli 2007 tragen Islamisten und Zentralregierung einen Kampf aus, der sich zunächst in vereinzelten Bombenanschlägen der Regierungsgegner und Razzien von Armee und Polizei Ausdruck fand, sich jedoch allmählich die Form eines regelrechten Bürgerkrieges annimmt. Wenn nun der neue israelische Außenminister Avigdor Lieberman, der sich in den letzten Jahren durch anti-arabische Ausfälle und Drohungen gegenüber dem Iran auf sich aufmerksam macht, plötzlich erklärt - wie er am 22. April im Interview mit der russischen Zeitung Moskowskij Komosolets tat -, daß für Israel die größte "strategische Bedrohung" von Afghanistan und Pakistan ausgehe, dann spricht das Bände über den Ernst der Lage am Hindukusch.

Vier Faktoren sind es, welche den Vormarsch der Gotteskrieger in Pakistan begünstigen: erstens der katastrophale Zustand der Wirtschaft, die von explodierenden Preisen für Grundnahrungsmittel und steigender Arbeitslosigkeit gekennzeichnet ist; zweitens die Korruption des feudalen Landadels, aus dessen Reihen sich die politische Führungsschicht des Landes größtenteils rekrutiert; drittens die Drohnenangriffe der USA, die sich gegen mutmaßliche Unterschlüpfe der afghanischen Aufständischen in der Grenzregion richten, jedoch viele Opfer unter der Zivilbevölkerung fordern; und viertens die Haltung von dem Geheimdienst und den Streitkräften Pakistans, welche die Taliban in Afghanistan und militante Gegner der Besetzung Ostkaschmirs durch Indien über die Jahre finanziell, logistisch und militärisch unterstützt haben, diese nach wie vor als strategische Aktivposten in der Konfrontation mit Indien betrachten und sie deshalb nicht allzu energisch bekämpfen wollen.

Es steht ohnehin zu bezweifeln, ob die pakistanische Armee, selbst wenn sie alle ihre Truppen von der Grenze zu Indien abziehen und sie in das Grenzgebiet zu Afghanistan verlegen würde, in der Lage wäre, die Moslemfundamentalisten zu besiegen. Bisher scheint jede Militäroffensive der Zentralregierung in der Nordwestprontierprovinz (NWFP) und der Federally Administered Tribal Areas (FATA) nichts anderes bewirkt zu haben, als viele Menschen das Leben zu kosten, ganze Landstriche zu verwüsten und die verunsicherte Bevölkerung in die Hände der Aufständischen getrieben zu haben. Nicht umsonst hat General Pervez Musharraf 2006, als er noch Präsident war, ein Friedensabkommen mit den Streitgefährten von Taliban-Chef Mullah Omar in Nordwasiristan beschlossen. Möglicherweise war es dieser Schritt, weshalb Musharraf, der von militärischen Angelegenheiten etwas verstand, bei den USA in Ungnade fallen ließ und zu dessen Rücktritt als Präsident im August letzten Jahres führte.

Unter Vermittlung der USA übernahm im Frühjahr 2008 eine demokratische Regierung unter der Führung von Premierminister Yousaf Raza Gilani von der Pakistan People's Party (PPP) den Ruder. Doch auch ihr will die Quadratur des Kreises - Unterbindung der Nutzung pakistanischen Territoriums für Angriffe gegen die NATO-Streitkräfte in Afghanistan bei gleichzeitiger Beilegung aller Konflikte mit den Stämmen in den autonomen Grenzregionen - nicht gelingen. Das Gegenteil ist der Fall. Die Drohnenangriffe der CIA, die unter dem neuen US-Präsidenten Barack Obama an Häufigkeit zugenommen haben, und das ständige Verlangen Washingtons nach Bekämpfung der Islamisten versetzen immer weitere Teile Pakistans in Aufruhr. Nachdem sich die pakistanischen Taliban militärisch nicht besiegen ließ und von der Gilani-Regierung die Einführung der Scharia im Malakand-Bezirk des NWFP, zu dem auch das Swat-Tal gehört, erwirkt hatte, hielten sie sich nicht an dem vereinbarten Friedensabkommen und marschierten statt dessen weiter nach Bunar, nur 100 Kilometer von der Hauptstadt Islamabad entfernt. Gleichzeitig passiert kaum ein Tag, an dem in nicht Lastwagen mit Ausrüstung und Proviant für die NATO-Truppe in Afghanistan in der Nähe von Peshawar durch Angriffe zerstört werden oder Journalisten vor der bevorstehenden Übernahme der NWFP-Hauptstadt durch die pakistanischen Taliban warnen.

Enormer psychologischer Auftrieb hat die Sache der pakistanischen Islamisten am 16. April durch die Freilassung des radikalen Geistlichen Maulana Abdul Aziz erfahren. In der Ruine der Roten Moschee und unter den "Dschihad! Dschihad!"-Rufen von rund 5000 aufgebrachten Anhängern erklärte am darauffolgenden Tag der frühere Leiter der islamischen Schule dort, der sich wegen der damaligen Geschehnisse gerichtlich verantworten muß, er werde nicht ruhen, bis die Scharia in ganz Pakistan herrscht: "Das Blut derjenigen, die hier den Märtyrertod starben, wird eine islamische Revolution herbeiführen." "Lang lebe Ghazi" brüllten die Versammelten, als Maulana an seinen Bruder Abdul Rashid Ghazi und die anderen rund 100 Personen, die meisten von ihnen Besucherinnen einer religiösen Mädchenschule, die bei der Erstürmung der Moschee ums Leben gekommen waren, erinnerte.

Am 19. April brachte Maulana Sufi Mohammed, mit dem Islamabad das Friedensabkommen für Malakand ausgehandelt hatten, die Gilani-Regierung in Verlegenheit. Der 78jährige Gründer der Tehrik-i-Nifaz-i-Shariat-i-Mohammedi (TNSM), der sechs Jahren im Gefängnis wegen aufwieglerischen Aktivitäten in Verbindung mit seiner Gegnerschaft zur NATO-Präsenz in Afghanistan gesessen hatte und erst 2008 freigelassen worden war, tat öffentlich kund, er erkenne die Legitimität der Verfassung und der herkömmlichen Gesetze Pakistans nicht an, weil diese "un-islamisch" seien, und erklärte, daß es für diejenige, die künftig in Swat nach der Scharia verurteilt würden, keine Möglichkeit geben soll, höhere Instanzen anzurufen. Mohammed bekannte sich zum Ziel der Ausweitung der Scharia auf ganz Pakistan und tat die demokratischen Institutionen seines Landes mit den Worten ab: "Im Koran heißt es, daß es eine große Sünde ist, ein System der Ungläubigen zu unterstützen."

Solche Äußerungen waren nicht nur für die Regierung Gilanis, sondern auch für die Obamas, welche eine Befriedung des Krisenherds "Af-Pak" zu Washingtons außenpolitischer Priorität Nummer Eins gemacht hat, eine fast inakzeptable Herausforderung. Vergeblich hatte Islamabad erwartet, daß nach der Freilassung Sufi Mohammed mäßigend auf dessen Schwiegersohn Maulana Fazlullah auswirken würde. Letzterer ist neben Baitullah Meshud ein der wichtigsten Anführer der pakistanischen Taliban, die offiziell den Titel Tehrik-e-Taliban Pakistan (TTP) trägt. Seit 2004 betreibt er einen kleinen, illegalen FM-Sender mit Namen "Radio Mullah", über den er regelmäßig gegen die Regierung in Islamabad, die Anwesenheit der "Ungläubigen" in Afghanistan und die Ungerechtigkeiten der pakistanischen Gesellschaft wettert. Seit 2006 befinden sich die TTP in Swat, Bajaur und anderer Teile der Grenzregion im Aufstand.

Mit dem jüngsten umstrittenen Abkommen in Swat hatte Islamabad gehofft, die TTP zu Kampfaufgabe zu bewegen. Der Vorstoß der Glaubenskrieger nach Buner und Dir hat diese Hoffnungen jedoch zunichte gemacht. Folglich gehen die regulären Streitkräfte seit zwei Tagen mit Kampfhubschraubern, Artillerie und Bodentruppen im Distrikt Dir, der westlich vom Swat-Tal liegt, gegen die TTP vor und soll Dutzende von Aufständischen getötet haben. Tausende von Menschen fliehen vor den Kämpfen. Inzwischen drohen die Anhänger von Sufi Mohammed und Maulana Fazlullah in Swat damit, erneut zur Waffe zu greifen. Seitens der Regierung scheint man mit seiner Geduld am Ende zu sein und sich innerlich mit der drohenden Entscheidungsschlacht mit der TTP abgefunden zu haben. Die jüngste Offensive der Armee in Dir und Umgebung kommentierte am 26. April Rehman Malik, der De-Facto-Innenminister der Gilani-Regierung, mit den Worten: "Genug ist genug Für sie [die TTP] besteht keine andere Option, als ihre Waffen niederzulegen, denn die Regierung meint es ernst und wird sie aufstöbern." Im pakistanischen Grenzgebiet ist die Eskalation voll im Gange. Ein baldiges Ende der Kämpfe ist nicht in Sicht.

28. April 2009