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ASIEN/601: USA wiederholen die Fehler der Sowjets in Afghanistan (SB)


USA wiederholen die Fehler der Sowjets in Afghanistan

Obama auf Abwegen im Hindukusch


Ungeachtet aller Warnungen hat Barack Obama einen militärischen Sieg im Krieg gegen die Taliban in Afghanistan zu einer der höchsten Prioritäten seiner Außen- und Sicherheitspolitik erklärt. Folglich findet am Hindukusch seit einigen Monaten eine deutliche Eskalation des Konfliktes statt. Die US-Streitkräfte werden aktuell um 21.800 Mann aufgestockt und bekommen in den nächsten Tagen einen neuen Oberbefehlshaber in der Person des Generals Stanley McChrystal, dem ein zweifelhafter Ruf wegen der Methoden der von ihm befehligten Spezialstreitkräfte im Irak vorauseilt. Gleichzeitig gehen auf Drängen Washingtons die Streitkräfte Islamabads gegen die Verbündeten der afghanischen Taliban in Pakistan vor. Rund drei Millionen Menschen sind vor den Kämpfen in der pakistanischen Grenzregion geflüchtet. Die Flüchtlingsproblematik könnte sich bald noch weiter verschärfen. Bei einem Besuch in der pakistanischen Hauptstadt am 5. Juni warnte Obamas Sondergesandter Richard Holbrooke vor einer großen Welle afghanischer Flüchtlinge, sobald auf der anderen Seite der Grenze die zusätzlichen US-Streitkräfte den Kampf gegen die Taliban aufnehmen.

Während die Zahl der CIA-Drohnenangriffe auf mutmaßliche Taliban-Verstecke beiderseits der quer durch paschtunisches Siedlungsgebiet laufenden afghanisch-pakistanischen Grenze, die Zahl der Kämpfe zwischen NATO-Truppen und Aufständischen und die Zahl der Toten und Verletzten auf beiden Seiten sowie unter der Zivilbevölkerung unaufhörlich steigt, gibt es nicht das leiseste Indiz dafür, daß Obamas Eskalationsstrategie, die sich an an einer ähnlichen Offensive seines Vorgängers George W. Bush im Irak anlehnt und die von einigen derselben Akteure - dem alten und neuen Verteidigungsminister Robert Gates und dem früheren Irak-Oberbefehlshaber und heutigen CENTCOM-Chef General David Petraeus - geleitet wird, vom Erfolg gekrönt sein wird. Für einen Artikel, den die US-Zeitungsgruppe McClatchy am 2. Juni unter der Überschrift "U.S. Marines find Iraq tactics don't work in Afghanistan" veröffentlichte, hat Nancy A. Youssef mit Marineinfanteristen gesprochen, die vor kurzem vom Irak nach Delaram in der südwestlichen, umkämpften afghanischen Provinz Farah verlegt worden sind, und die sich mit einem weitaus gefährlicheren Gegner als seinerzeit im Zweistromland konfrontiert sehen. Dazu Youssef:

Im Irak galt ein halbstündiges Feuergefecht als eine lange Auseinandersetzung; hier haben die Marines Schlachten ausgefochten, die bis zu acht Stunden dauerten, gegen einen Feind, dessen Einheiten von einer Zug- auf Kompanie-Größe gewachsen sind.

(...)

Wenn die Taliban es mit den Marines aufnehmen, ist es eine andere Art vom Kampf [als im Irak]. Ein Unterschied besteht darin, daß die Taliban warten, bis sie so weit sind, und ergreifen nicht einfach eine Gelegenheit. Sie räumen das Gebiet von Frauen und Kindern und benutzen sie nicht als menschliche Schutzschilde. Und der Angriff, wenn er kommt, ist häufig ein umfassender Angriff mit Flanken, Gräben und einen Plan, erklärte ein Marinehauptmann und Irakveteran, der darum bat, nicht identifiziert zu werden, denn er war sich nicht sicher, ob er über Taktiken diskutieren dürfe.

Die Afghanen "kämpfen bis zum Tod. Sie bergen ihre Verletzten genau, wie wir es tun", erklärte der Hauptmann. "Wenn ich hier kämpfe, kämpfe ich gegen eine Berufsarmee. Wenn der direkte Kampf nicht funktioniert, setzen sie statt dessen ein IED [Improvised Explosive Device] ein. Um gegen sie kämpfen zu können, muß man auf jeden Trick zurückgreifen, den man kennt."

In den letzten Tagen sind in der englischsprachigen Presse zwei hoch aufschlußreiche Artikel erschienen, in denen namhafte Veteranen von beiden Seiten des Afghanistankrieges der achtziger Jahren zwischen der Sowjetarmee und der von den USA, Israel, Saudi-Arabien und Pakistan unterstützten Mudschaheddin die Politik der Obama-Regierung am Hindukusch als zum Scheitern verurteilt kritisieren. Für den ersteren, "Russian advice: More troops won't help in Afghanistan", von McClatchy am 2. Juni veröffentlicht, hat der Reporter Tom Lasseter unter anderem mit Fikryat Tabeyev, der von 1979 bis 1986 sowjetischer Botschafter in Kabul war, Generalleutnant a. D. Ruslan Aushev, der in Afghanistan zuletzt als Regimentskommandeur gekämpft hat, und dem ehemaligen russischen Verteidigungsminister General a. D. Pavel Grachev, der in Afghanistan eine Luftlandedivision befehligte, gesprochen. Alle russischen Gesprächspartner Lasseters waren sich darin einig, daß der Krieg in Afghanistan für eine reguläre ausländische Armee nicht zu gewinnen sei. Je mehr Truppen man schicke, um so mehr bringe man die Bevölkerung dort gegen sich auf. Nur über den zivilen Aufbau könnte man Einfluß auf das Land nehmen und die Menschen dort für sich gewinnen. Besser man lasse die Afghanen ihre komplizierten Machtverhältnisse ordnen, anstatt selbst von außen dies zu versuchen.

Eine ähnliche Auffassung vertrat Amir Sultan Tarar, der in den achtziger Jahren im Auftrag des pakistanischen Geheimdienstes Inter-Services Intelligence Directorate (ISI) die afghanischen Mudschaheddin ausgebildet und später eine führende Rolle beim Aufstieg der Taliban gespielt hat, in einem Interview, das Marie Colvin für den am 7. Juni bei der Londoner Sunday Times erschienenen Artikel "The Taliban will 'never be defeated'" geführt hat. Tarar, der ähnlich dem heutigen pakistanischen Generalstabschef Ashfaq Parvez Kayani in Fort Bragg, Ausbildungszentrum der US-Spezialstreitkräfte in North Carolina, ausgebildet wurde, hält die Taliban, die sich im Kampf zur Verteidigung ihres eigenen Landes gegen fremdländische Invasoren sehen, für unbesiegbar und rät der Obama-Regierung, bereits jetzt einen Frieden mit Mullah Omar auszuhandeln. Laut Tarar wird es Washington nicht gelingen, die Aufständischen gegeneinander auszuspielen. Wer sich als "gemäßigte Taliban" gibt und ohne die Erlaubnis von Omar auf irgendwelche Zusagen der NATO oder des US-Militärs eingeht, hat das eigene Todesurteil unterzeichnet und nicht mehr lange zu leben. Tarar gab sich "stolz" auf seine früheren "Studenten". Mit ihrem heldenhaften Kampf gegen die technisch überlegenen NATO-Streitkräfte würden sie "der Welt eine Lektion erteilen", erklärte er. Da stellt sich die Frage, wie lange es dauern wird und wie viele Menschen werden sterben müssen, bis Obama die Vergeblichkeit des Strebens nach einem militärischen Sieg in Afghanistan einsieht und einen vernünftigeren Kurs einschlägt.

8. Juni 2009