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ASIEN/644: Propagandaschlacht flankiert Großoffensive in Helmand (SB)


Absurdität einer eskalierenden Kriegsführung zum Wohle der Bevölkerung


Nach dem Massaker von Kundus arbeiten die alliierten Besatzungsmächte in Afghanistan an dem militärischen und propagandistischen Befreiungsschlag, der die Absurdität einer eskalierenden Kriegsführung zum Wohle der Bevölkerung auf die Spitze treiben und den wachsenden Widerstand unter den drangsalierten Afghanen wie auch an der Heimatfront mundtot machen soll. Während die Großoffensive in der Südprovinz Helmand mit dem massivsten Truppenaufmarsch seit Vertreibung der Taliban vor über acht Jahren vorgetragen wird, haben die Kumpane des Waffengangs Kreide gefressen, um den größtmöglichen Schutz der Zivilbevölkerung zu suggerieren.

Die Vereinten Nationen haben einen Appell an die Konfliktparteien gerichtet, in dem diese aufgefordert werden, bei ihren Kampfhandlungen Zivilisten zu schützen. Ins selbe Horn stieß Afghanistans Präsident Hamid Karsai, der sich diesmal nicht von der Offensive distanziert, sondern sie ausdrücklich befürwortet und die Truppen zugleich zu großer Vorsicht aufgerufen hat. Innenminister Mohammad Hanif Atmar kündigte an, man werde auf den Einsatz von schwerer Artillerie verzichten und sich täglich mit Stammesältesten über den Fortgang der Kämpfe beraten. Zudem wolle die Regierung über einen Radiosender die Zivilisten besser informieren.

Da die Operation "Muschtarak" (Gemeinsam) von den NATO-Truppen und der afghanischen Armee in engem Verbund vorgetragen wird, sitzen alle im selben Boot: Niemand kann sich mehr von etwaigen Massakern distanzieren und die Schuld scheinheilig auf andere Fraktionen der Verbündeten abwälzen, weshalb man peinlich bemüht ist, gemeinsam die Bereitschaft zu einer "sauberen" Kriegsführung vorzuhalten. Dabei begann der Vormarsch der von der NATO geführten Internationalen Schutztruppe ISAF mit einem Desaster, da bei einem Angriff zwölf Zivilisten getötet wurden, worunter sich auch sechs Kinder befanden. [1]

Um den naheliegenden Schluß zu entkräften, daß in diesem Guerillakrieg zwangsläufig Zivilisten umgebracht werden, deren Tod die Alliierten folglich nicht nur billigend in Kauf nehmen, sondern gezielt herbeiführen, behauptet man eilfertig, zwei Raketen hätten ihr eigentliches Ziel um mehrere hundert Meter verfehlt. Damit nicht genug, kündigte die ISAF an, sie werde das Raketenwerfersystem bis zur Klärung des Vorfalls nicht mehr einsetzen. Nicht die Soldaten der Besatzungsmächte bringen Afghanen nach dieser Version den Tod, sondern Waffensysteme, von deren Streuwirkung man angeblich bis zu diesem Zeitpunkt nichts wußte. Fehlte nur noch, daß man dem Raketenwerfer einen Schauprozeß macht, in dem er schuldig gesprochen und öffentlich hingerichtet wird!

Doch dazu bleibt keine Zeit, da das Morden weitergehen muß. Wenig später wurden in Mardscha drei weitere afghanische Zivilisten getötet. Die NATO trifft auch diesmal eigenen Angaben zufolge keine Schuld, da die Opfer Warnungen, sich von den Stellungen fernzuhalten, ignoriert und sich dennoch genähert hätten. [2] Zwei der Opfer waren angeblich auf eine Gruppe von Soldaten zugelaufen und hatten mehrere Aufforderungen, anzuhalten, mißachtet. Daraufhin hätten die Soldaten das Feuer eröffnet. Ein dritter Zivilist wurde demnach bei einem Schußwechsel zwischen NATO-Soldaten und Aufständischen von einem Querschläger getroffen. Offen bleibt, was die Einheimischen bewogen hat, in ihr Verderben zu laufen. Konnten sie vielleicht die Flugblätter nicht lesen, haben sie kein Radio oder lebten sie einfach nur dort, wo sich die fremden Soldaten eingenistet hatten? Diese und viele andere möglichen Gründe und Umstände legen nahe, wie perfide die Behauptung der Aggressoren ist, man habe die Menschen rechtzeitig und ausgiebig gewarnt.

Nicht minder zynisch wie die israelischen Streitkräfte, die vor dem Massaker im hermetisch abgeriegelten Gazastreifen Flugblätter mit Warnhinweisen abwarfen, als stünde der Bevölkerung ein Fluchtweg offen, schmücken sich auch die Angreifer bei ihrer Offensive in Helmand mit derselben Schutzbehauptung, man habe die Zivilbevölkerung dazu aufgefordert, sich aller Kontakte mit den Taliban zu enthalten. Wer sich dieser Isolation des Widerstands nicht befleißige, trage selbst die Verantwortung, wenn er zu Schaden komme. Da es nicht selten die eigenen Söhne sind, die sich dem Kampf gegen die Besatzungsmächte angeschlossen haben, und "Taliban" ohnehin ein mehr oder minder unzulässiger Sammelbegriff aus Perspektive der Invasoren ist, der die komplexen Verhältnisse unzulässig simplifiziert und zugleich verschleiert, handelt es sich bei der Warnung um keine Option, die der Bevölkerung eine Alternative böte.

Nahezu zeitgleich wurden bei einem Luftangriff der NATO auf mutmaßliche Aufständische in der Provinz Kandahar fünf Zivilisten getötet und zwei weitere verletzt. Als sei der Zwischenfall damit abgegolten und erledigt, verlautete dazu lapidar, dieser Angriff habe nicht in Zusammenhang mit der von US-Truppen angeführten Offensive gegen die Taliban in Helmand gestanden.

Unterdessen kommen die insgesamt 15.000 Soldaten, darunter auch 4.400 afghanische, nur langsam voran, da versteckte Sprengsätze den Vorstoß bremsen und Heckenschützen die Truppen unter Feuer nehmen. Ein CNN-Korrespondent, der mit der US-Marineinfanterie unterwegs ist, berichtete demgegenüber, Mardscha sei "praktisch eine Geisterstadt". Die Taliban seien schwer zu finden. Die Soldaten hofften, die Aufständischen würden aus ihren Verstecken auftauchen, damit sie bekämpft werden könnten. Während die Berichte von teils heftigem Widerstand, teils weitgehendem Fehlen desselben einander widersprechen, kann man doch davon ausgehen, daß der Gegner kämpft, wie es seinen Zwecken angesichts der haushohen technologischen und personellen Überlegenheit der Alliierten am besten dient. Er vermeidet die offene Schlacht und beschränkt sich bei seinem Rückzug auf Scharmützel, wie er dies seit Jahren praktiziert. Wie US-Brigadegeneral Lawrence Nicholson dem Fernsehsender CBS sagte, könne die Militäroperation in Mardscha daher noch 30 Tage dauern.

Ziel der größten Offensive seit 2001 ist erklärtermaßen, die Rebellen aus den Distrikten Mardscha und Nad Ali zu vertreiben, bei denen es sich angeblich um die letzten Hochburgen der Taliban handelt. Wie viele Gegner inzwischen getötet worden sind, ist ungewiß, da diesbezügliche Angaben weit voneinander abweichen. Der Erfolg der Kampagne hängt aus Sicht der Angreifer davon ab, ob es den afghanischen Truppen gelingt, die zurückeroberten Gebiete später zu halten. Da das kaum jemand für eine realistische Möglichkeit hält, soll es angeblich Stimmen geben, welche die Truppen der Alliierten zum Bleiben auffordern. Abgesehen davon, daß es sich bei dieser Version wohl eher um Propaganda, als die Mehrheitsmeinung der örtlichen Bevölkerung handeln dürfte, der ausländische Invasoren kaum weniger verhaßt als dem Rest des Landes sein dürften, ist eine Dauerpräsenz des massiven Truppenaufgebots weder möglich noch vorgesehen.

US-Außenministerin Hillary Clinton erklärte am Wochenende beim "US-Islamic World Forum" in Doha, die Vereinigten Staaten hätten kein Interesse daran, Afghanistan zu "besetzen". Das ist nach mehr als acht Jahren Besatzungsregime einerseits eine dreiste Lüge, zumal in Afghanistan dauerhafte militärische und geheimdienstliche Stützpunkte errichtet wurden, die unterstreichen, daß man dieses Terrain auf unabsehbare Zeit kontrollieren will. Andererseits klingt in der Aussage Clintons das Dilemma der US-Regierung an, die erhebliche Teile ihrer Truppen abziehen möchte, um für den nächsten Kriegszug Kapazitäten freizusetzen. Wie das praktisch funktionieren soll, ist jedoch völlig ungewiß, weshalb sich die US-Außenministerin in den Standardfloskeln erging, die USA würden Afghanistan nicht im Stich lassen und auch nach dem Abzug der US-Truppen mit einer "zivilen Präsenz" eine "langfristige Partnerschaft" mit Kabul sichern.

Um zu erreichen, was im längsten Krieg, den die Vereinigten Staaten je geführt haben, weniger denn je abzusehen ist, setzt man auf eine geballte Dosis jener Medizin, die bislang nicht angeschlagen hat. Nichts ist neu an dieser Strategie außer der Zahl eingesetzter Soldaten, mit denen sich die Kräfte des Widerstands um so weniger direkt konfrontieren dürften. Wenngleich nur ein Bruchteil der afghanischen Bevölkerung aktiv gegen die Besatzungsmächte und deren Kollaborateure zu Felde zieht, sind es doch im wesentlichen Afghanen, die im eigenen Land kämpfen. Mag das auch ihr einziger Vorteil sein, so hat er sich in der Geschichte des Landes stets als der entscheidende erwiesen.

Anmerkungen:

[1] Afghanistan. Taliban setzen Heckenschützen ein (16.02.10)
http://www.abendblatt.de/politik/ausland/article1384378/Taliban-setzen- Heckenschuetzen-ein.html

[2] Afghanistan. Wieder Zivilisten getötet (16.02.10)
http://www.focus.de/politik/weitere-meldungen/afghanistan-wieder- zivilisten-getoetet_aid_480607.html

16. Februar 2010