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ASIEN/666: Blutzoll des Afghanistankrieges drastisch angestiegen (SB)


Blutzoll des Afghanistankrieges drastisch angestiegen

UN-Bericht belegt das Ergebnis von Obamas Eskalationsstrategie


Einem am 19. Juni veröffentlichten Bericht der Vereinten Nationen zufolge nimmt die Gewalt in Afghanistan drastisch zu. Allein die Anzahl der Anschläge der Taliban mit improvisierten Sprengkörpern (Improvised Explosive Devices - IEDs) auf Fahrzeuge und Fußpatrouillen der NATO sind in den ersten vier Monaten dieses Jahres um 94 Prozent im Vergleich zum selben Zeitraum 2009 angestiegen. Attentate auf Vertreter der Regierung Hamid Karsais bzw. der afghanischen Armee und Polizei sind in den drei Monaten vor dem 16. Juni um 45 Prozent angestiegen. Die größte Veränderung, sowohl quantitativ als auch qualitativ, ist bei den Selbstmordanschlägen zu verzeichnen. Davon gibt es im Durchschnitt inzwischen drei pro Woche - im Vergleich zu einem pro Woche im letzten Jahr. Hinzu kommt, daß in zwei von drei Fällen der Selbstmordanschlag keine Aktion eines Einzeltäters ist, sondern als Teil einer größeren Operation erfolgt, an der auch Schützen beteiligt sind. Als Ursache der allgemeinen Zunahme der Gewalttaten in Afghanistan wird im UN-Bericht der Anstieg der Anzahl der dort stationierten ausländischen Streitkräfte der NATO und ihrer Aktivitäten genannt (Einem Bericht der Londoner Zeitung Independent vom 21. Juni zufolge ist die Zahl der britischen Soldaten, die durch Schüsse der Taliban verletzt oder getötet wurden, in den letzten Monaten von 13 auf 40 Prozent hochgeklettert, was auf zunehmende Scharfschützenfähigkeiten seitens der Aufständischen schließen läßt).

Für diese Situation trägt US-Präsident Barack Obama die Hauptverantwortung. Seit dem Einzug des Demokraten ins Weiße Haus im Januar 2009 hat das Pentagon die Zahl der US-Soldaten in Afghanistan von rund 30.000 auf derzeit 94.000 erhöht. Mit den zusätzlichen Truppen soll der Oberkommandierende vor Ort, US-General Stanley McChrystal, die Taliban und die mit ihnen verbündeten Milizen von Gulbuddin Hekmatyar und Sirajuddin Hakkani bezwingen und den inzwischen offiziell längsten Krieg der US-Geschichte zu einem erfolgreichen Abschluß führen. Den ehrgeizigen Plänen Obamas und McChrystals zufolge sollen die US-Streitkräfte nach verrichteter Arbeit bereits im Juli 2011 mit dem Abzug beginnen.

Daß es sich bei diesem Termin um einen Wunschtraum handelt und er es vermutlich auch bleiben wird, wurde am 15. und am 16. Juni beim Auftritt von McChrystals unmittelbarem Vorgesetzten, dem CENTCOM-Chef General David Petraeus, und Admiral Michael Mullen, dem Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs, vor dem Kongreß anläßlich der Anhörungen des Verteidigungsausschusses des Senats zum Thema Afghanistan deutlich. Auf direkte Nachfrage des Ausschußvorsitzenden, des demokratischen Senators aus Michigan, Carl Levin, wollte sich Petraeus partout nicht festlegen, ob bereits in zwölfeinhalb Monaten mit dem Abbau der amerikanischen Militärpräsenz am Hindukusch würde begonnen werden können. Er bezeichnete den für Juli 2011 geplanten Beginn des Abzugs als eine "Projektion", die erst in die Tat umgesetzt werden könnte, wenn sich die "Bedingungen" vor Ort zugunsten der Streitkräfte der nordatlantischen Allianz und der Karsai-Regierung verbessert hätten, und behielt sich auch ausdrücklich vor, notfalls die Entsendung weiterer US-Soldaten nach Afghanistan zu beantragen.

Was diese bringen würden, ist unklar. Bereits jetzt herrscht eine Patt-Situation, in der die NATO-Streitkräfte die Taliban nicht besiegen, während die Aufständischen die ausländischen Invasoren nicht zum Abzug zwingen können. Je mehr NATO-Soldaten nach Afghanistan kommen, desto mehr gewinnt der Aufstand an Zulauf, während Pakistan im Zuge des zunehmenden Chaos im Nachbarland immer mehr destabilisiert wird. Wegen des mangelnden Erfolges der jüngsten kombinierten Militäroperation der NATO und der afghanischen Armee in der Gegend um Mardschah in der Provinz Helmand hat McChrystal die Großoffensive, mit der er im Frühsommer die Taliban aus ihrer traditionellen Hochburg Kandahar, Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, vertreiben wollte, bis September verschoben.

Vor diesem Hintergrund scheint der Ansatz von Präsident Karsai, in Vorgespräche mit den Taliban über die Möglichkeit einer Beendigung des Krieges zu treten, nicht verkehrt zu sein. Presseberichten zufolge hat Karsai den Glauben, daß die NATO den Krieg gegen die Taliban gewinnt, verloren. Im Gegenteil geht er davon aus, daß der bevorstehende Abzug der Kanadier und Niederländer das Signal für einen generellen Rückzug der NATO sein wird und daß er deshalb einen Ausgleich mit den Taliban und mit Pakistan suchen muß, um in der Nachkriegsordnung bestehen bzw. überleben zu können. Karsai will sicherlich nicht wie der letzte Platzhalter des Auslands in Kabul, Mohammed Nadschibullah, enden. Das kann man gut nachvollziehen und ihm auch nicht wünschen. Der letzte Regierungchef des kommunistischen Afghanistans hielt sich nach dem Abzug der Sowjetarmee 1989 noch drei Jahre an der Macht. 1992 wurde seine Armee von den Mudschaheddin besiegt. Nadschibullah flüchtete auf das Gelände der UN-Vertretung in Kabul, wo er die nächsten vier Jahre wohnen mußte. Als 1996 die Taliban die afghanische Hauptstadt eroberten, drängten sie gewaltsam in die UN-Vertretung ein, schnappten sich Nadschibullah, folterten ihn auf offener Straße brutalst und schnitten ihm sogar den Penis ab und steckten ihn ihm in den Mund, bevor sie ihr Opfer - noch lebend - an einer Straßenlaterne erhängten.

Vermutlich wegen der zunehmenden Aussichtslosigkeit des westlichen Unterfangens am Hindukusch lancierte am 15. Juni das Pentagon in der New York Times mit der Hilfe des Journalisten James Risen die Nachricht, Afghanistan verfüge über Bodenschätze in unvorstellbarem Ausmaß und könnte sich in den kommenden Jahrzehnten durch die Unterstützung ausländischer Bergwerksunternehmen zum "Saudi-Arabien des Lithiums" entwickeln. Daß diese spektakuläre Nachricht die zunehmende Verzweiflung unter NATO-Militärs und -Politikern über das weitere Vorgehen auffangen und ihnen neue Kampfmoral verleihen könnte, ist fraglich.

Während zum Beispiel Obamas Verteidigungsminister Robert Gates Durchhalteparolen zum besten gibt, sehen weniger voreingenommene Experten die Lage in Afghanistan nicht nur kritischer, sondern auch objektiver. In mehreren Interviews, die er in den letzten Tagen der Financial Times, der Nachrichtenagentur Reuters und der britischen Sonntagszeitung Observer gegeben hat, stellte Richard Barrett, ein früheres ranghohes Mitglied des britischen Auslandsgeheimdienstes MI6, der heute das UN Taliban-al-Qaeda Sanctions Monitoring Committee leitet, sowohl die Begründung für den Afghanistankrieg als auch die erklärten Ziele in Frage. Das Argument Obamas wie auch des früheren deutschen Verteidigungsministers Peter Struck, man bekämpfe den "Terrorismus" in Afghanistan, um die Sicherheit der Bürger im Westen zu gewährleisten, tat Barrett als absurd ab. Weniger Soldaten bedeuteten weniger Aufständische und umgekehrt. Man müsse endlich zu einer politischen Lösung und einem Ausgleich mit den Taliban kommen, so der Ex-MI6-Agent.

Wenn man bedenkt, daß die NATO seit achteinhalb Jahren Krieg in Afghanistan führt, fällt das, was Anthony Cordesman vor wenigen Tagen in einer Analyse für das angesehene Center for Strategic and International Studies (CSIS) in Washington geschrieben hat, vernichtend aus. Cordesman gilt als einer der scharfsinnigsten Militärexperten Amerikas und berät häufig deshalb das Pentagon. Seine wichtigsten Überlegungen zum Thema Afghanistan wurden am 18. Mai von Robert Reid in einer Meldung der Nachrichtenagentur Associated Press wie folgt zitiert: "Zwei kritische Fragen beherrschen jede Diskussion des Konflikts. Die erste ist, ob der Krieg den Aufwand wert ist. Die zweite ist, ob er gewonnen werden kann. Die Antworten auf beide Fragen stehen noch aus."

21. Juni 2010