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ASIEN/830: Taliban-Fraktion verlangt Ende des Afghanistankriegs (SB)


Taliban-Fraktion verlangt Ende des Afghanistankriegs

Der Weg Afghanistans in die Moderne ist mit Hindernissen gepflastert


In Afghanistan zeichnet sich ein düsteres Bild aus niemals endendem Krieg, fehlender Entwicklung und Rückständigkeit ab. Durch ihre zweiwöchige Besetzung der nördlichen Stadt Kundus Ende September, Anfang Oktober haben die Taliban ihre ungebrochene Kampfkraft deutlich unter Beweis gestellt. In Reaktion darauf hat US-Präsident Barack Obama am 15. Oktober den geplanten Abzug der letzten US-Streitkräfte aus Afghanistan ausgesetzt. Bis auf weiteres sollen die verbliebenen 13.000 NATO-Soldaten in Afghanistan die dortige Armee und Polizei ausbilden, beraten und ihnen im Ernstfall zu Hilfe kommen. Die Aussicht, der Konflikt zwischen den Taliban auf der einen Seite und der Zentralregierung in Kabul und deren ausländischen Verbündeten auf der anderen werde niemals abreißen, veranlaßt immer mehr Bürger zur Ausreise. Derzeit bilden die Afghanen nach den Syrern mit 16 Prozent die zweitgrößte Gruppe unter den Hunderttausenden Menschen, die derzeit über die Türkei als Kriegsflüchtlinge nach Europa strömen.

Das Argument des deutschen Innenministers Thomas de Maizière, Berlin habe seit 2001 Steuergelder in Milliardenhöhe für den Wiederaufbau Afghanistans ausgegeben, die Menschen dort sollten das gefälligst anerkennen und sich nicht auf den Weg in die Bundesrepublik machen, ist mehr als schäbig. Tatsächlich ist der größte Teil der westlichen Wiederaufbaugelder für Afghanistan von rund 100 Milliarden Dollar in dunklen Kanälen versickert. Nach wie vor befindet sich die afghanische Wirtschaft in einer tiefen Krise und würde ohne den Opiumhandel vermutlich kollabieren. Der spektakuläre, vom pentagoneigenen Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (SIGAR) am 2. November monierte Fall einer Tankstelle, deren Bau statt ursprünglich 500.000 Dollar sage und schreibe 43 Millionen kostete, stellt lediglich die Spitze jener Korruptionsorgie dar, welche westliche Auftragsunternehmen und ihre afghanischen Lokalpartner seit 14 Jahren am Hindukusch auf Kosten des einfachen afghanischen Volkes und der Steuerzahler in Nordamerika und der EU feiern.

Die Hoffnungen vieler Afghanen, mit der Wahl des Technokraten und ehemaligen Weltbank-Vertreters Aschraf Ghani im letzten Jahr zum neuen Präsidenten würde in ihrem Land ein neues Zeitalter mit Frieden und bescheidenem Wohlstand hereinbrechen, haben sich nicht erfüllt. Die lobenswerten Bemühungen Ghanis um Versöhnung mit den Aufständischen treten auf der Stelle, seit im Juni der Tod von Taliban-Gründer Mullah Mohammad Omar bekannt wurde. Die Übernahme der Führung durch Mullah Aktar Mansur hat bei der Taliban-Bewegung zu einer Spaltung geführt, die selbst den jüngsten militärischen Erfolg in Kundus nicht verhindern bzw. wieder kitten konnte.

Anfang November haben die taliban-internen Gegner Mansurs, die diesen verdächtigen, Mullah Omar vor zwei Jahren eingenhändig umgebracht zu haben, um dessen Position einnehmen zu können, Mullah Mohammad Rasul zu ihrem Anführer gewählt. Während der Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 war Rasul Gouverneur der westlichen respektive südwestlichen Provinzen Farah und Nimruz. Zu Rasuls Verbündeten zählen Mullah Abdul Razak, der ehemalige Taliban-Innenminister, Sayed Tayyab Agha, der zuletzt das Verbindungsbüro der Bewegung in Katars Hauptstadt Doha geleitet hat, und Mullah Hasan Rahmani, ein langjähriger Weggefährte Omars. Sie alle werfen Mansur vor, ein Hochstapler zu sein, der infolge seines langen Aufenthalts im pakistanischen Quetta eine viel zu enge Verbindung zum Geheimdienst- und Militärapparat Pakistans eingegangen sei.

In einem bemerkenswerten Interview mit dem Farsi-Dienst des BBC World Service, das am 8. November ausgestrahlt wurde, hat Mullah Abdul Manan Niazi die Position der neuen Taliban-Fraktion skizziert. Niazi, der in den neunziger Jahren bei den Taliban als Gouverneur der nördlichen Provinzen Kabul, Balch und Herat diente, vertritt im Führungsstreit bislang die Interessen der Familie Omars. Gegenüber der BBC erneuerte er die Behauptung, Mansur habe Omar ermordet, und sprach dem neuen Taliban-Chef deshalb jede Legitimität ab. Gleichzeitig erklärte Niazi, die Rasul-Fraktion der Taliban strebe nach einer Beendigung des sinnlosen "Bruderkrieges" in Afghanistan und stehe Friedensverhandlungen mit Kabul offen gegenüber. Ihm zufolge sei "die Zeit der Vergeltung vorbei". Zwar wiederholte Niazi die alte Grundforderung der Taliban nach Abzug aller ausländischen Soldaten aus Afghanistan, dafür bekannte er sich im Namen der neuen Gruppe zu einer Chancengleichheit für Frauen und Mädchen bei der Bildung sowie im Beruf.

Entgegen des allgemeinen Eindrucks sind es nicht allein die Taliban, die einer Gleichberechtigung von Mann und Frau in Afghanistan bisher im Wege stehen. Ende Oktober wurde unter der Aufsicht von Taliban-Mitgliedern in Ghalmeen, einem Dorf in der zentralafghanischen Provinz Ghor, eine neunzehnjährige Frau namens Rokhshana wegen Ehebruchs zu Tode gesteinigt. Die Veröffentlichung der Videoaufnahme der brutalen Hinrichtung bei YouTube sorgte in Teilen der afghanischen Öffentlichkeit für Entsetzen. Präsident Ghani hat die Handlungsweisen der beteiligten Männer aufs Schärfste verurteilt und eine Delegation zur Untersuchung des Vorfalls nach Ghor entsandt. Hier handelt es sich bestenfalls um eine symbolische Handlung, denn wie die New York Times am 9. November berichtete, wird die Delegation von Mullah Maulavi Inayatullah Baleegh, einem erzreaktionären Mitglied des Nationalen Rats der Religionsgelehrten, der Präsident Ghani in religiösen Angelegenheiten berät, angeführt.

Bereits beim Freitagsgebet am 6. November in der Pul-e-Khisti-Moschee, dem größten Gotteshaus in Kabul, hatte Baleegh die Bluttat von Ghalmeen mit folgenden Worten verteidigt: "Wenn man verheiratet ist und Ehebruch begeht, muß man gesteinigt werden. Die einzige Frage ist, ob die Bestrafung im Einklang mit dem Scharia-Gesetz erfolgte, das heißt mit den erforderlichen Geständnissen und Augenzeugenberichten. Es ist notwendig die Ehre der Frau in der Gesellschaft zu schützen und zu bewahren wie es in der Vergangenheit zu Zeiten des Propheten gemacht wurde." Bereits 2009 hatte Ghanis Vorgänger Hamid Karsai per Präsidialerlaß Steinigungen und Polygamie ausdrücklich verboten. Trotzdem werden beide Bräuche weiterhin in Afghanistan praktiziert, weil religiöse Fundamentalisten wie Mullah Ghalmeen ihren überlieferten Glaubenskodex über das Gesetz des Staates stellen. Selbst wenn sich alle Bürgerkriegsparteien morgen auf ein Friedensabkommen einigten, hätte Afghanistan noch einen langen Weg in die Moderne vor sich.

10. November 2015


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