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ASIEN/836: NATO richtet sich auf Dauerkrieg in Afghanistan ein (SB)


NATO richtet sich auf Dauerkrieg in Afghanistan ein

Indiens Partnerschaft mit den USA treibt Pakistan in die Arme Chinas


Beim NATO-Gipfel in Warschau Anfang Juli dürfte die Dauerstationierung westlicher Truppen in Afghanistan besiegelt werden. Spätestens dann werden sich die früheren Ankündigungen eines Truppenabzugs endgültig als Täuschung erweisen. Durch die Liquidierung des Taliban-Chefs Mullah Aktar Muhammad Mansur am 21. Mai per Drohnenangriff in der westpakistanischen Provinz Belutschistan haben die USA ihre Teilnahme an einer seit 2014 laufenden Vier-Länder-Initiative, zusammen mit Afghanistan, Pakistan und China die Taliban an den Verhandlungstisch zu holen und den Krieg in Afghanistan zu beenden, frühzeitig und einseitig aufgekündigt. Afghanistan bleibt bis auf weiteres ein Ort des Chaos wie zugleich Aufmarschgebiet für die NATO, von wo aus Geheimdienste und Militär des Westens in den Hinterhof von Rußland und China einwirken können. Ohnehin hat die NATO zu keinem Zeitpunkt in den letzten 15 Jahren die geringste Bereitschaft signalisiert, auf die Kernforderung des militärischen Gegners, der Taliban, nach einer Beendigung der fremdländischen Truppenpräsenz in Afghanistan einzugehen. Von daher waren die vielfachen Absichtserklärungen bezüglich eines Abzugs mehr Schaumschlägerei als ernstzunehmende Perspektive.

Am 3. Juni haben 13 ehemalige US-Diplomaten und -Generäle, darunter David Petraeus, Stanley McChrystal und Zalmay Khalizad, bei der konservativen Politzeitschrift National Interest in einem offenen Brief an Präsident Barack Obama appelliert, die Anzahl der amerikanischen Soldaten in Afghanistan von derzeit rund 9000 nicht weiter zu reduzieren, sondern zu erhöhen und deren Aktionsradius, der sich seit eineinhalb Jahren auf "Terrorbekämpfung" sowie Ausbildung und Beratung der afghanischen Armee und Polizei beschränkt, wieder zu erweitern. Wenige Tage später ist Obama dem Drängen der Kriegsfalken gefolgt. Wie Obamas Pressesprecher Josh Earnest am 11. Juni erklärte, hat am Abend zuvor das Weiße Haus an das Pentagon die Erlaubnis für die US-Streitkräfte übermittelt, nach eigenem Ermessen aktiv in das afghanische Kriegsgeschehen einzugreifen. US-Kommandeure vor Ort dürfen künftig über den Zweck der Selbstverteidigung hinaus eigene Bodentruppen einsetzen sowie Luftangriffe anordnen - letztere auch auf der pakistanischen Seite der Grenze zu Afghanistan.

In einem Bericht der Nachrichtenagentur Associated Press hieß es unter Verweis auf eine Quelle bei der Obama-Administration, die neue Richtlinie soll das US-Militär in den Stand versetzen, "den Afghanen soweit zu helfen, daß sie den Krieg bestreiten und gewinnen können". Die Aussicht auf einen Sieg für Amerika und seiner Verbündeten im Afghanistankrieg ist vollkommen illusorisch. Trotz des Einsatzes Hunderttausender NATO-Soldaten und Finanzmittel in Höhe von rund 700 Milliarden Dollar ist Afghanistan heute genauso wie nach dem gewaltsamen Sturz der Taliban-Regierung Ende 2001 ein "gescheiterter Staat". Der Krieg, der bisher 2000 westlichen Soldaten, mehr als 90.000 afghanischen Kombattanten und mehr als 26.000 Zivilisten das Leben gekostet hat, läßt weder ein normales Leben und noch einen "Wiederaufbau", der diesen Namen verdient, zu.

Ihrerseits bereiten sich die Taliban auf ein Aufflammen der Kämpfe vor. Vier Tage nach dem gewaltsamen Tod von Mullah Mansur haben die Taliban nach einem Geheimtreffen der Führungsriege Mullah Mawlawi Haibatullah Akhundzada zum neuen Chef ernannt. Mawlawi Haibatullah, der einst dem Islamischen Emirat Afghanistan als Richter in Kandadar sowie in Kabul diente, gilt als geistliche Autorität und Koran-Exeget, auf dessen Rat einst Taliban-Gründer Mullah Mohammed Omar häufig zurückgegriffen hat. Mit seiner Ernennung zum neuen Chef soll verhindert werden, daß es zum Machtkampf innerhalb der Taliban kommt. Diesem Zweck dient auch die Ernennung des erfahrenen Rebellenkommandeurs Saradschuddin Hakkani sowie von Mullah Omars Sohn, Mullah Muhammad Jakub, zu den Stellvertretern Mawlawi Haibatullahs. Darüber hinaus gehört der neue Talibanchef zum mächtigen Stamm der Nurzai, aus dessen Reihen sich eine Dissidentengruppe 2015 nach Bekanntwerden des Todes von Mullah Omar zwei Jahre zuvor abgespalten hatte. Wahrscheinlich wird Mawlawi Haibatullah versuchen, seine Stammesvetter für eine Rückkehr zur eigentlichen Talibanbewegung zu gewinnen.

Die Wende in Richtung Kriegseskalation, die Washington mit dem tödlichen Angriff auf Mullah Mansur eingeleitet hat, birgt weit größere Gefahren als nur die Fortsetzung des blutigen Dauerkrieges in Afghanistan. Mit der Operation haben sich die USA von ihrem bisherigen Verbündeten Pakistan demonstrativ abgewandt. In Islamabad und Rawalpindi, dem Sitz des mächtigen pakistanischen Militärs, ist man über den unangekündigten, erstmaligen Drohnenangriff der Amerikaner außerhalb der paschtunischen Stammesgebiete auf der pakistanischen Seite der Grenze zu Afghanistan mehr als erzürnt. Hinzu kommt die Aufwertung Indiens infolge des Besuchs von Premierminister Narenda Modi in Washington Ende Juni zum strategischen Partner der USA, während Weißes Haus, Pentagon und Kongreß Pakistan ungeachtet der hohen innenpolitischen und ökonomischen Kosten, die das Land im Rahmen seiner jahrelangen Beteiligung am großen Antiterrorkrieg hat aufbringen müssen, weiterhin quasi als Schurkenstaat behandeln. Aus Angst, infolge der verstärkten Rüstungszusammenarbeit der USA mit Indien hinter dem großen Nachbarn militärisch ins Hintertreffen zu geraten, hat Pakistan bereits den forcierten Ausbau seines taktischen Atomwaffenarsenals angekündigt. Gleichzeitig wendet sich Pakistan immer mehr China zu in der Hoffnung, von Peking militärische und wirtschaftliche Hilfe zu erhalten. So gesehen ist der Konflikt in Afghanistan lediglich der sichtbarste Teil eines geopolitischen Ringens, das sich jederzeit in einen großen Krieg zwischen mehreren Atomstaaten entladen kann.

17. Juni 2016


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