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ASIEN/898: Afghanistan - Kriegsmüdigkeit am Hindukusch ... (SB)


Afghanistan - Kriegsmüdigkeit am Hindukusch ...


Im Januar 2017 zog der Republikaner Donald Trump als US-Präsident ins Weiße Haus ein. Seitdem nehmen in Afghanistan die Bombenangriffe der US-Luftwaffe erheblich zu. Im Oktober 2017 wurde mit 653 abgeworfenen Bomben und Raketen ein neuer Monatsrekord aufgestellt. In den ersten fünf Monaten dieses Jahres waren es 2.339 - mehr als jeweils in den beiden letzten Amtsjahren des Demokraten Barack Obama als Präsident 2015 und 2016. Bleibt die US-Luftwaffe bei der aktuellen Angriffsrate, so dürfte die Zahl der 2018 abgeworfenen Explosivkörper mit 5.613 Stück den bisherigen Rekord von 2017 - 4.361 - um einiges übertreffen. Die genannten Zahlen entstammen dem Artikel "The US Is On Pace To Bomb Afghanistan More Than Ever This Year - With No End In Sight", der am 21. Juni von der US-Wirtschaftszeitung Business Insider veröffentlicht wurde.

Der verstärkte Einsatz der US-Luftwaffe im Afghanistankrieg läßt sich mit der geringen Anzahl der amerikanischen Soldaten am Boden - 14.000 Mann - erklären. Auf dem Höhepunkt der Eskalationsstrategie, zu der sich 2009 Obama von den beiden Generälen und vermeintlichen Aufstandsbekämpfungskoryphäen David Petraeus und Stanley McChrystal hat überreden lassen, waren es 140.000. Und trotzdem hat man die Taliban nicht zur Kapitulation zwingen können. Heute steht mehr afghanisches Territorium unter der Kontrolle der früheren Kampfgefährten von Mullah Mohammad Omar als zu irgendeinem Zeitpunkt seit dem gewaltsamen Sturz des "Islamischen Emirats" und der Vertreibung aus Kabul zur Jahreswende 2001/2002. Folglich sind die verstärkten Luftangriffen der US-Luftwaffe auch als Ausdruck eines hilfslosen Aktionismus zu bewerten. Das Pentagon demonstriert damit, daß es immer noch Sachen aus großer Höhe in die Luft jagen kann, selbst wenn am Boden der Krieg lange nicht mehr zu gewinnen ist.

Wegen dieses unbestreitbaren Umstands kommt es immer wieder zu Bemühungen um einen Ausweg aus der militärischen Auseinandersetzung. Vor einigen Jahren haben die Taliban - offenbar mit dem Einverständnis Washingtons - ein Verbindungsbüro in der katarischen Hauptstadt Doha eingerichtet. Die informellen Gespräche dort endeten jedoch abrupt, als im Mai 2016 Mullah Omars Nachfolger als Taliban-Chef, Akhtar Mohammad Mansur, im pakistanischen Belutschistan mittels eines spektakulären CIA-Drohnangriffs liquidiert wurde. Bis heute ist unklar, wer den Befehl zu dieser Aktion, die den Friedensbemühungen einen erheblichen Schlag versetzt hat, gab. Der Verdacht steht im Raum, daß Kriegsfalken beim Militär bzw. dem Auslandsgeheimdienst der USA die Friedenspolitik Obamas gezielt torpedieren wollten.

Trump steht dem militärischen Engagement der USA am Hindukusch bekanntlich skeptisch bis ablehnend gegenüber. Äußerst widerwillig hat er im Herbst 2017 einer Truppenaufstockung zugestimmt, die jedoch so gering ausfiel, daß sie keine nennenswerte Veränderung der Kräfteverhältnisse zeitigen dürfte. Statt dessen sieht alles danach aus, als würde die Trump-Regierung nach Wegen suchen, einen Kompromiß mit den Taliban zu finden und diese in die politischen Strukturen Afghanistans zu reintegrieren. Ende Mai erklärte der scheidende Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte in Afghanistan, General John Nicholson, es hätte bereits erste informelle Gespräche auf niedriger Ebene zwischen beiden Seiten gegeben. Auch wenn die Taliban die Behauptung Nicholsons als unrichtig abgetan haben, sind die Dinge in Afghanistan in Bewegung gekommen - und zwar in Richtung Friedensprozeß, wie auch immer der sich gestalten läßt.

Am 5. Juni hat der afghanische Präsident Ashraf Ghani einen einseitigen, zehntägigen Waffenstillstand für die Eid-Feierlichkeiten zum Ende des Fastenmonats Ramadan verkündet. Vier Tage später haben die Taliban ihrerseits erstmals seit 2001 ebenfalls einen Waffenstillstand erklärt, der sich über die letzten drei Tage des Eid-Festes erstrecken sollte. Folglich herrschte vom 15. bis zum 17. Juni in ganz Afghanistan zum erstenmal seit fast 17 Jahren Frieden. Taliban-Kämpfer sowie Mitglieder der afghanischen Sicherheitskräfte haben ohne Gefahr ihre Familien in jeweils von den anderen kontrollierten Landesteilen besuchen können. In allen Städten des Landes herrschte eine ausgelassene Stimmung. Teilweise kam es zu Szenen der Verbrüderung zwischen Taliban-Anhängern und Armee- und Polizeiangehörigen. Unterbrochen wurde die Jubelorgie durch zwei Bombenanschläge der Terrormiliz Islamischer Staat (IS), die am 16. Juni nahe der Stadt Jalalabad und am 17. Juni in der Provinz Narangahar 17 respektive 26 Menschen in den Tod rissen.

Wie Lisa Pence, die im Nationalen Sicherheitsrat für südasiatische Angelegenheiten zuständige Mitarbeiterin, am 8. Juni beim Auftritt am U. S. Institute for Peace in Washington bekanntgab, hat die Trump-Administration in Person von Vizepräsident Mike Pence und Außenminister Mike Pompeo die Regierung Pakistans um Vermittlung in Sachen Afghanistankrieg gebeten. Am 19. Juni meldete die afghanische Nachrichtenagentur Tolo News, Vertreter der Regierung in Kabul hätten sich in den vergangenen Monaten mehrmals mit Taliban-Kommandeuren getroffen; die Gespräche zur Beilegung des Kriegs kämen gut voran. Tolo News zitierte General Abdul Razik, Polizeichef der Taliban-Hochburg Kandahar, die Aufständischen seien kriegsmüde, "50 Prozent" ihres obersten Entscheidungsgremiums im pakistanischen Quetta unterstütze den Friedensprozeß. Dies habe er bei Begegnungen mit führenden Taliban-Vertretern erfahren, so Razik.

Mike Pompeo hat auch eine interessante Formulierung verwendet, als er am 18. Juni Ghanis einseitig verkündeten Waffenstillstand begrüßte. Laut Pompeo würden "Friedensverhandlungen zwangsläufig auch eine Diskussion über die Rolle internationaler Akteure und Kräfte beinhalten". Die Vereinigten Staaten seien bereit, "diese Diskussionen zu unterstützen, zu ermöglichen und sich an ihnen zu beteiligen". Auch wenn etwas umwunden, sagt Amerikas oberster Diplomat, daß die USA prinzipiell über die Kernforderung der Taliban nach Abzug aller ausländischen Streitkräfte aus Afghanistan zu sprechen bereit sind.

Bei der Anhörung im Washingtoner Senat am 19. Juni über seine Ernennung zum Nachfolger Nicholsons gab der neue Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte in Afghanistan in spe, General Scott Miller, ebenfalls einen vielsagenden Satz von sich: "Ich denke, ein unordentlicher und überstürzter Abzug hätte negative Folgen für die nationale Sicherheit der USA." Also wird im Pentagon bereits über den Abzug - ordentlich und nicht überstürzt, versteht sich - bereits nachgedacht. Als eigentliche Bedrohung in diesem Zusammenhang sprach Miller lediglich von Al Kaida und IS - nicht aber von den Taliban. Bleiben also die Taliban bei ihren früheren Zusicherungen, der Schulbildung von Mädchen nicht mehr im Weg zu stehen und keine terroristischen Umtriebe in Afghanistan zuzulassen, steht ihnen offenbar die Rückkehr aus dem politischen Abseits offen. Im Gegenzug kann man sich eine Situation vorstellen, bei der sich ihrerseits die Taliban mit dem Verbleib eines kleinen Restkontingents irgendwelcher US-Spezialstreitkräfte und Luftwaffenangehörigen zwecks "Terrorbekämpfung" auf dem einen oder anderen entlegenen Stützpunkt abfinden würden. Die kommenden Wochen und Monate werden zeigen, ob Taliban und Trump-Regierung tatsächlich die "Art of the Deal" beherrschen.

22. Juni 2018


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