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ASIEN/914: Afghanistan - kriegsmüde ... (SB)


Afghanistan - kriegsmüde ...


Bei den Verhandlungen über eine Beilegung des Afghanistankriegs, die seit Oktober mit Unterbrechungen in Doha stattfinden, scheint der entscheidende Durchbruch erzielt worden zu sein. Am 26. Oktober meldete die Nachrichtenagentur Reuters unter Verweis auf Taliban-Quellen, die US-Delegation habe einem Abzug aller amerikanischen Streitkräfte aus Afghanistan innerhalb von 18 Monaten nach Eintreten eines Waffenstillstands zugestimmt. Seitens des Weißen Hauses und des State Department hat es diesbezüglich kein Dementi gegeben, was den Angaben der Taliban Glaubwürdigkeit verleiht. Auch wenn aus Sicht der meisten Amerikaner der Krieg in Afghanistan nach 17 Jahren immer sinnloser erscheint, stoßen die Abzugspläne von US-Präsident Donald Trump bei der außenpolitischen Elite in Washington auf Widerstand. Die angeblichen Experten befürchten bereits jetzt dauerhaften Schaden für das Ansehen der USA sowie den Verlust amerikanischer Militärpräsenz im einem geostrategisch enorm wichtigen Land, die "power projection" in Richtung China, Rußland, Pakistan und Irans ermöglicht.

Die letztjährige Entscheidung, Zalmay Khalilzad als Chefunterhändler mit weitreichenden Vollmachten in die Hauptstadt Katars zu Gesprächen mit den Taliban zu schicken, hat die Ernsthaftigkeit der Absicht der Regierung Donald Trumps nahegelegt, das traurige Kapitel Afghanistan in der US-Militärgeschichte zu beenden. Khalilzad, der selbst afghanischer Paschtune ist, hat jahrelang als Staatssekretär im Außenministerium und Botschafter die Politik der Regierung George W. Bushs in Sachen Zentralasien und Naher Osten bestimmt. Khalilzad war es auch, der nach dem gewaltsamen Sturz der Taliban durch die Streitkräfte der USA und ihrer Verbündeten zur Jahreswende 2001/2002 bei der Afghanistan-Konferenz auf dem Petersberg bei Bonn quasi im Alleingang Hamid Karsai zum neuen afghanischen Staatspräsidenten erkor.

Seitens der Taliban wurde am 25. Januar eine wichtige Weichenstellung vorgenommen, als die Koranschüler die Ernennung von Mullah Abdul Ghani Baradar zum neuen Chefunterhändler bekanntgaben. Baradar ist Gründungsmitglied der Taliban und langjähriger Vertrauensmann des legendären früheren Chefs der Organisation, des 2013 unter bis heute nicht eindeutig geklärten Umständen verstorbenen Mullah Mohammed Omar. 2010 war Baradar in Pakistan festgenommen worden, angeblich weil Islamabad damals keine Fortschritte bei einer Friedensinitiative zwischen den Taliban und dem afghanischen Präsidenten Karsai wünschte. 2016 kam Omars Nachfolger als Talibanchef, Mullah Akhtar Mansur, bei einem Drohnenangriff der CIA auf offener Straße im pakistanischen Belutschistan ums Leben. Schon damals vermuteten Beobachter eine gezielte Aktion der "Firma" mit dem Ziel, die vorsichtigen Friedenssignale der Administration Barack Obamas an die Adresse der Taliban zu diskreditieren - was auch gelang.

Die Freilassung Baradars im vergangenen Oktober deutet auf ein Entgegenkommen Pakistans der Trump-Regierung gegenüber hin. Der neue pakistanische Präsident Imran Khan wendete sich als Oppositioneller jahrelang gegen den sinnlosen Krieg der USA in Afghanistan vor allem wegen des hohen Preises, den Pakistan deshalb entrichten mußte - Destabilisierung des eigenen Landes, Aufstand in den paschtunischen Stammesgebieten, wirtschaftliche Schäden in astronomische Höhe und Zehntausende Tote und Verletzte. Man kann davon ausgehen, daß bei einer eventuellen Friedenslösung in Afghanistan auch die Interessen Pakistans berücksichtigt werden müssen. Ein Passus des in Doha vereinbarten Entwurfs eines Friedensvertrags enthält laut Reuters eine Garantie, daß Afghanistan künftig nicht als Rückzugsort von belutschischen Separatisten, die von Indien finanziert und ausgerüstet werden, genutzt wird. Eine ähnliche Garantie seitens der Taliban, daß Afghanistan künftig nicht durch irgendwelche "radikalislamischen" Gruppen zur Vorbereitung von Anschlägen gegen die USA und die anderen westlichen Industrienationen benutzt wird, soll ebenfalls in der Endfassung vorgesehen sein.

Während Mullah Baradar demnächst seine neue Stelle in Doha antreten soll, war Khalilzad nach Kabul aufgebrochen, um dort Präsident Ashraf Ghani über den fortgeschrittenen Stand der Verhandlungen mit den Taliban zu informieren. In Kabul wird erwartet, daß nach Beginn eines Waffenstillstands auch Verhandlungen über die Bildung einer Interimsregierung mit Taliban-Beteiligung aufgenommen werden. Wie sich eine solche Entwicklung auf die Präsidentenwahl auswirken wird, die im Juli stattfinden soll und bei der Ghani, Premierminister Abdullah Abdullah und der frühere Warlord Gulbuddin Hektmatyar kandidieren, ist völlig unklar. Fest steht, daß sich die meisten Afghanen nach einem raschen Ende des Blutvergießens sehnen. Bei einem Selbstmordanschlag der Taliban auf einen Militärstützpunkt in der Provinz Wardak kamen am 20. Januar mehr als 160 Angehörige der afghanischen Streitkräfte ums Leben, während bei Bombenangriffen der afghanischen und der amerikanischen Luftwaffe in Helmand am 23. Januar mehr als 30 Menschen, die meisten von ihnen Zivilisten, starben.

Dennoch gibt es viele Fragen zu klären. Ziehen nach 18 Monaten die USA tatsächlich alle Soldaten aus Afghanistan ab? Wer wird dann die Bildung der afghanischen Streitkräfte und die Wartung ihrer westlichen Waffensysteme übernehmen - etwa private Militärdienstleister? Überlassen die USA und die NATO künftig die Bekämpfung der "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) den Taliban und der afghanischen Armee oder bleiben zu diesem Zweck kleinere Kontingente amerikanischer Spezialstreitkräfte und CIA-Offiziere im Lande? Wie wollen die USA und die EU dafür sorgen, daß die Versöhnung zwischen den Taliban und den Kräften, welche jahrelang die pro-westliche Regierung in Kabul gestützt haben, gelingt - oder wollen sie das Land wieder in den Bürgerkrieg versinken lassen? Sinnvolle und weitreichende Maßnahmen zum Wiederaufbau und zur Begleitung des afghanischen "Friedensprozesses", sofern es sich hier tatsächlich um einen handelt, sind ungeachtet aller Mißerfolge der letzten Jahre dringend gefordert.

28. Januar 2019


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