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HISTORIE/330: Armenien-Resolution zur deutschen Mitschuld (SB)


Aufarbeitung der Geschichte im Schneckengang

Bundesregierung glänzt durch Abwesenheit


Lange hat es gedauert, bis der Forderung nach einer Einstufung der Massaker an der armenischen Bevölkerung im Osmanischen Reich in den Jahren 1915/16 als Völkermord auch im Bundestag im Rahmen einer offiziellen Resolution entsprochen wurde. Die Widerstände dagegen waren stets groß, und das gilt auch für Abgeordnete, die der Armenien-Resolution heute zugestimmt haben. Die Aufarbeitung der Geschichte mörderischer Eskalationen ist immer eine Angelegenheit der Gegenwart, und nicht nur in früheren Jahren sprachen macht- und bündnispolitische Ziele häufig gegen einen solchen Schritt, wie die Abwesenheit der führenden Mitglieder der Bundesregierung und Regierungskoalition bei der Abstimmung zeigt. Darin wird die Singularität der Vernichtung der europäischen Juden durch das NS-Regime ebenso bestätigt wie eine Mitschuld des deutschen Reiches eingestanden:

"Der Bundestag bedauert die unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches, das als militärischer Hauptverbündeter des Osmanischen Reichs trotz eindeutiger Informationen auch von Seiten deutscher Diplomaten und Missionare über die organisierte Vertreibung und Vernichtung der Armenier nicht versucht hat, diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu stoppen."[1]

Diese Mitschuld des Kaiserreiches und Weltkriegsakteurs erinnert daran, daß man, wenn die Staatsräson es gebietet, die Bedingungen und Folgen eigener Interessenpolitik auch heute in Berlin gerne ignoriert. Die Unterdrückung der zivilen Opposition in der Türkei und die Kriegführung Ankaras gegen die kurdische Bevölkerung im Südosten des Landes haben zum Beispiel nichts daran geändert, daß die Türkei als sicherer Drittstaat eingestuft wird und Partner im Rahmen eines Flüchtlingsabkommens ist, mit dem die zivilen Opfer eines weiteren Brandherdes in der Region von Europa ferngehalten werden soll. Auch von daher lohnt es sich, einen Blick auf die in der Armenien-Resolution angedeutete Historie deutscher Beteiligung am Genozid zu werfen. Schließlich gründete die Mitschuld an der Ermordung von bis zu 1,5 Millionen Armeniern in den strategischen Interessen einer Allianz, die schon vor der Reichsgründung 1871 ausgebaut wurde.

Als sich 1835 ein junger preußischer Hauptmann namens Helmuth Graf von Moltke zu einer Studienreise nach Istanbul aufmachte, tat er dies nicht aus bloßem touristischen Interesse, sondern im Zusammenhang mit der Umgestaltung der Armee des Osmanischen Reichs. Er wurde sogleich vom Kriegsminister und Oberkommandierenden des türkischen Heeres empfangen, einem begeisterten Verehrer preußischer Militärinstitutionen, und Sultan Mahmud II. als geeigneter Kandidat für die Ausbildung der türkischen Streitkräfte anempfohlen. Dieser verständigte sich mit dem preußischen König Friedrich Wilhelm III., der von Moltke schließlich zur Instruktion und Organisation der türkischen Truppen abkommandierte. Moltke blieb vier Jahre lang in türkischen Diensten, bevor er eine glänzende Karriere bis zum preußischen Generalfeldmarschall absolvierte, als der er maßgeblich für den Sieg des Jahres 1871 über Frankreich verantwortlich war.

Auf diesen ersten deutschen Militärberater in der Türkei folgten viele andere, die den Grundstein zu einer Allianz legten, auf die die Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland heute noch aufbauen, haben beide Länder seither doch niemals auf verschiedenen Seiten einer Front gestanden. Neben der Eröffnung von Militärschulen wurde die Armee des Osmanischen Reichs von grundauf neu strukturiert. Zum ersten Mal wurden logistische Abteilungen von den Gefechtsfeldtruppen getrennt, und die dezentrale Aufteilung in verschiedene Regionalstreitkräfte machte es dem osmanischen Heer möglich, an mehreren Fronten zugleich zu kämpfen. Des weiteren stärkten die Einführung einer geregelten Wehrpflicht und einer Reservearmee nach preußischem Vorbild die Schlagkraft der osmanischen Streitkräfte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutlich.

Ansonsten jedoch gärte es im Osmanischen Reich gewaltig, und der Zustand des morbiden Gebälks, auf dem ein reaktionäres Sultanat thronte, entging auch von Moltke nicht. Im April 1836 ließ er sich in einem Brief ausführlich über den desolaten Zustand des Reiches aus und warnte davor, daß sein Zusammenbruch ganz Europa bedrohen könnte. Die von Moltke diagnostizierte Schwäche der Osmanen führte zum Erstarken diverser oppositioneller Gruppen, die sich schließlich im Komitee für Einheit und Fortschritt zusammenschlossen. In diesem politisch sehr gemischten Gremium, in dem nationalistische Militärs und westlich orientierte Intellektuelle für eine Beschränkung des Sultanats auf das Niveau einer konstitutionellen Monarchie mit unabhängigem Parlament und starker Regierung eintraten, setzten die nationalistischen Jungtürken ihre Interessen schließlich am effizientesten durch.

Auf die Unabhängigkeit Bulgariens, die Annexion Bosnien-Herzegowinas durch Österreich und Kretas durch Griechenland, den Verlust letzter afrikanischer Territorien und schließlich der Niederlagen in den Balkankriegen von 1912 und 1913 reagierten die Jungtürken mit einem aggressiven Nationalismus, der sich besonders für die Armenier verheerend auswirken sollte. Das heutige Armenien bildet in etwa denjenigen Teil des Landes, den Rußland 1827 eroberte und in das Zarenreich integrierte, während viele Armenier im Osmanischen Reich verblieben und dort als in vielerlei Hinsicht unterdrückte Minderheit die Gleichstellung mit der muslimischen Mehrheit sowie Autonomierechte verlangten.

Dabei wurden sie von den europäischen Großmächten unterstützt, die dem Osmanischen Reich im Berliner Vertrag von 1878 unter anderem weitreichende Reformen in Armenien abverlangten. Das Interesse der Kolonialmächte an einer Zerstückelung des "kranken Mannes am Bosporus", über dessen Staatshaushalt man aufgrund seiner hochgradigen Verschuldung bei westlichen Banken bereits weitreichende Kontrolle erlangt hatte, war unübersehbar, so daß die Anschläge armenischer Untergrundorganisationen, die die ihnen versprochenen Rechte einforderten, vom osmanischen Heer um so blutiger niedergeschlagen wurden. Da die Armenier als potentielle Separatisten expansiven Ländern wie Rußland Interventionsvorwände boten, können die ersten großangelegten Vernichtungsfeldzüge der Jahre 1894 bis 1896, bei denen zwischen 50.000 und 300.000 Armenier umkamen, auch als Ergebnis der durch die europäischen Mächte herausgeforderten osmanischen Hegemonie verstanden werden.

Kaiser Wilhelm II., der 1889 Istanbul besucht hatte, hielt auch nach den ersten großen Massakern an den Armeniern standhaft als einziger europäischer Herrscher zum osmanischen Sultan Abdul Hamid, wie ein 1896 verfaßtes Schriftstück aus dem Berliner Außenministerium belegt, in dem er "die Blutbäder in Armenien, so bedauerlich sie auch sein mögen, das kleinere Übel" nannte. Die deutschen Interessen in der Region waren klar umrissen und richteten sich gegen die von Großbritannien beanspruchte Vormachtstellung. Mit seinen guten Kontakten zur Hohen Pforte sicherte sich der Kaiser eine Ausgangsposition für weitere Exkursionen, die sich in seiner eroberungslustigen Fantasie bis hinunter zum indischen Subkontinent erstreckten. Generalfeldmarschall von der Goltz, Kopf der preußischen Militärmission, träumte von einer Expedition entlang der Route der Bagdad-Bahn, deren militärische Last allerdings türkische Truppen tragen sollten.

Schon im Jahre 1897 hatte von der Goltz der osmanischen Führung seine strategischen Visionen dargelegt, die sich durchaus mit den Ambitionen des Sultans gedeckt haben dürften. Er träumte von Landgewinn "in Transkaukasien, wo Rußland militärisch schwach ist und wo die völkischen und militärischen Bande mit der örtlichen muslimischen Bevölkerung auf der Hand liegen. Innertürkische Differenzen wirkten sich auf die preußische Militärmission nicht aus, man hatte eine feste Funktion als Schwertarm des jeweiligen Machthabers inne. Die Machtübernahme durch das Komitee für Einheit und Fortschritt 1908 verschlechterte die Lage der nationalen Minderheiten erheblich, verfolgten die in dem Komitee tonangebenden Jungtürken doch eine Politik, die in der Türkifizierung aller Bürger des Reichs das geeignete Bindemittel für dessen Erhalt erachtete. Unter ihrer bis 1917 andauernden Herrschaft war die deutsch-türkische Militärkooperation, die wesentlich dafür verantwortlich war, daß die Türken an der Seite der Mittelmächte in den Ersten Weltkrieg eintraten, am intensivsten.

Lange vor dem deutsch-türkischen Militärabkommen vom August 1914 unterstanden drei der fünf osmanischen Armeen unmittelbar dem Kommando deutscher Generäle. Der führende Jungtürke, Kriegsminister Enver Pascha, hatte sich und seine Streitkräfte ohnehin Kaiser Wilhelm II. unterstellt, so daß das Abkommen lediglich den offiziellen Vollzug einer bereits erfolgten Entwicklung betraf. Die enge Verbindung zu den Jungtürken nutzte die Berliner Regierung zur Verfolgung ihrer strategischen Ziele, für die etwa die Turkvölker Rußlands im Sinne der großtürkischen Ideologie agitiert wurden, um dem russischen Gegner an einer zweiten Front zuzusetzen. Des weiteren ging es schon damals um das Erdöl von Baku und Mossul, das türkische Truppen den britischen Kolonialherren für Deutschland abnehmen sollten.

Die Armenier kämpften im Ersten Weltkrieg teilweise auf der Seite des Osmanischen Reiches, zum Teil aber auch auf der Rußlands. Da sie in großer Mehrheit für die Neutralität des Reiches eingetreten waren, hatte sich doch der russische Zar aktiv für die Stärkung ihrer Rechte eingesetzt, galten sie als unsichere Kantonisten. Als die türkische Regierung im April 1915 begann, die vermeintliche fünfte Kolonne Rußlands durch systematische Verhaftungen und Hinrichtungen ihrer politischen Führer zu drangsalieren, leisteten die Armenier Widerstand. Bei der Belagerung der mehrheitlich von Armeniern bewohnten ostanatolischen Stadt Van durch die türkischen Truppen wurden sie militärisch von Rußland unterstützt. Da die Türkei an den Dardanellen unter erheblichem Druck eines britischen Expeditionsheeres stand, galten die Armenier als Verräter an den Verteidigern der Türkei. Ein Regierungsbeschluß vom Mai 1915 ordnete die zu diesem Zeitpunkt bereits begonnene Vertreibung aller Armenier aus ihren Wohngebieten bei Konfiskation ihres Eigentums an.

Daraufhin wurde ein Großteil der zwei Millionen Menschen umfassenden armenischen Bevölkerung in einer 18 Monate währenden Aktion nach Syrien oder in die mesopotamische Wüste deportiert. Das vorgebliche Ziel der Neuansiedlung war nicht ernstgemeint, denn schon während des Marsches wurden viele Vertriebene Opfer physischer Entbehrungen und gewalttätiger Übergriffe. Sie verdursteten, verhungerten, starben an Seuchen oder wurden, insbesondere wenn es sich um Männer im waffenfähigen Alter handelte, ermordet. Daran beteiligten sich nicht nur das türkische Militär und die Polizei, sondern auch die Bevölkerung am Wegesrand. Jegliche humanitäre Hilfe des Auslands wurde zurückgewiesen, und wer sich in den eigenen Reihen für die Armenier einsetzte, wurde schwer bestraft und mitunter ebenfalls ermordet. Bis zu 1,5 Millionen Menschen kamen bei den Märschen und Massakern ums Leben, das osmanische Innenministerium selbst gab 1919 die Zahl von 800.000 ermordeten Armeniern an.

Mit Ausbruch des Krieges standen 800 deutsche Offiziere und 12.000 deutsche Soldaten in der Türkei. Die als Militärberater zu den türkischen Truppen abgestellten Offiziere waren über alle Operationen ihrer Bündnispartner informiert. Der deutsche Oberbefehlshaber der I. und VI. Osmanischen Armee, Generalfeldmarschall Colmar von der Goltz, hatte bereits von 1883 bis 1896 das türkische Heer nach preußischem Vorbild reorganisiert und fungierte als Berater von Kriegsminister Enver Pascha, den er selbst ausgebildet hatte. Goltz sprach sich kurz vor Beginn der Todesmärsche für die Deportation einer halben Million Armenier, die in der Nähe der russischen Grenze lebten, in die Regionen Aleppo und Mesopotamien aus.

Während deutsche Offiziere der osmanischen Generalität mit solchen Anweisungen einen Vorwand für die Vernichtung der Armenier gaben, unterdrückte die Regierung in Berlin jegliche Kritik am Vorgehen ihrer Alliierten und verordnete ihren Diplomaten einen Maulkorb. Der armenische Historiker Vahakn N. Dadrian hat in seinem Standardwerk "The History of the Armenian Genocide" belegt, in welchem Ausmaß deutsche Generäle sowie die Reichsregierung in Berlin in den Genozid verwickelt waren. Auf der Grundlage der im Auswärtigen Amt archivierten Berichte im Osmanischen Reich tätiger deutscher Diplomaten und Offiziere gelangte er im Deutschlandfunk am 22. September 1997 zu dem Schluß:

"Die Deportationen fanden nicht in einem politischen oder militärischen Vakuum statt, und Deutschland war kein neutraler Staat. Deutschland war nicht nur der politisch-militärische Partner der Türkei, sondern vor allem der dominante Partner. Die Vernichtung der armenischen Bevölkerung war die Folge der gemeinsamer deutsch-türkischer Überlegungen und Entscheidungen."

Unterstützt wird diese These von dem Journalisten Wolfgang Gust, der in seinem Werk "Der Völkermord an den Armeniern 1915/16" zahlreiche Dokumente aus dem Archiv des Auswärtigen Amts ausgewertet hat, die in jedem Fall die Duldung des Genozids durch das Kaiserreich belegen und zumindest in einigen Fällen nahelegen, daß die Befehlsgewalt deutscher Offiziere auch bei konkreten Vernichtungsaktionen gegen die Armenier zur Geltung gelangte.

Das Bündnis mit dem Osmanischen Reich war von elementarer Bedeutung für die Kriegsführung des Deutschen Reichs. Es hielt den Mittelmächten den Rücken frei, indem die Dardanellen für Nachschub nach Rußland unpassierbar gemacht wurden. Generalfeldmarschall von der Goltz führte einen erfolgreichen Feldzug in Mesopotamien gegen die Briten, was ihm den Titel eines Pascha einbrachte. Das ehrgeizige Projekt der Bagdad-Bahn, von der sich Kaiser Wilhelm II. die Expansion des deutschen Einflusses bis nach Indien erhoffte, wurde mithilfe Zehntausender armenischer Zwangsarbeiter realisiert. Nachdem sie nicht mehr gebraucht wurden, wurden sie mit deutscher Einwilligung deportiert.

Wollte man verheerende Entwicklungen dieser Art künftig vermeiden, dann wäre heute, da sich die Bundesrepublik anschickt, als militärischer Akteur im Weltmaßstab zu reüssieren, weit mehr Aufmerksamkeit für die macht- und interessenpolitischen Folgen imperialistischer Politik erforderlich, als es im Fall der Armenien-Resolution des Bundestages zugelassen wurde.


Fußnote:

[1] http://www.tagesspiegel.de/politik/armenien-resolution-im-wortlaut-der-bundestag-verneigt-sich-vor-den-opfern-der-massaker/13677568.html

2. Juni 2016


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