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INTERVIEW/002: Annette Groth (MdB Die Linke) zum Überfall auf die "Mavi Marmara" (SB)



Wie es dazu kam, daß in den frühen Morgenstunden des 31. Mai bei der Unterbindung der Fahrt eines mit Hilfsgütern für den Gazastreifen beladenen Schiffskonvois im östlichen Mittelmeer neun Zivilisten durch ein israelisches Spezialkommando getötet und rund 50 verletzt wurden, ist unklar. Deswegen verlangt die Regierung der Türkei, aus der die meisten Todesopfer stammen, daß sich eine internationale Untersuchungskommission mit dem Vorfall befaßt. Ihrerseits behauptet die Regierung Benjamin Netanjahus, daß die israelischen Marinesoldaten, nachdem sie sich von Hubschraubern auf die türkische Fähre Mavi Marmara abgeseilt hatten, von gewaltbereiten Islamisten angegriffen wurden und sich deshalb unter Einsatz von Schußwaffen verteidigen mußten. Gegen diese Version spricht das Ergebnis der in der Türkei an den neun Getöteten durchgeführten Autopsie. Demnach wurden 30 Schüsse auf sie abgegeben. Furkan Dogan, einem 19jährigen US-Bürger türkischer Herkunft, wurde fünfmal aus einer Entfernung von weniger als 45 Zentimeter ins Gesicht, einmal in den Hinterkopf, einmal in den Rücken und zweimal ins Bein geschossen.

In einem Artikel, der am 6. Juni in der britischen Zeitung Independent on Sunday unter der Überschrift "The hijacking of the truth: Film evidence 'destroyed'" erschien, gab die IoS-Journalistin Caterina Stewart unter anderem die Erlebnisse von Jamal Elshayyal, der für den Nachrichtensender Al Jazeera bis zur Unterbrechung der Übertragung durch die israelische Marine live von der Mavi Marmara berichtete, wieder:

Herr Elshayyal, ein Reporter des arabischen Senders Al Jazeera, stand auf der einen Seite des Schiffs und hatte sowohl den Bug als auch das Heck im Blick, als die Kämpfe ausbrachen. Seiner Schilderung zufolge haben die Soldaten, noch bevor einer von ihnen einen Fuß auf das Schiff gesetzt hatte, aus den Hubschraubern heraus auf die Demonstranten hinuntergeschossen. Ein Mann, der neben ihm stand, wurde durch die Schädeldecke erschossen und starb sofort.

"Was ich gesehen habe, war, wie Schüsse von den Hubschraubern aus und später unten auf dem Schiff abgegeben wurden", erklärte Herr Elshayyal. "Soweit es mich betrifft, ist es eine Lüge zu behaupten, sie hätten erst auf dem Deck zu schießen begonnen."

Mindestens zwei andere Augenzeugen sahen, wie Soldaten von oben auf die Schiffe schossen, bevor sie auf dem Deck der Marmara landeten. Es ist möglich, daß es dies war, was den erbitterten Widerstand auslöste, auf den die Soldaten nach der Landung auf Deck trafen. Mehrere Passagiere berichten, wie die Organisatoren andere Mitfahrer eindringlich darum baten, die Soldaten nicht zu schlagen, weil dies sich auf ihre Behauptung, friedliche Demonstranten zu sein, nachteilig auswirken würde. [1]

Annette Groth

Annette Groth

Annette Groth, menschenrechtspolitische Sprecherin der Fraktion der Partei Die Linke im Deutschen Bundestag, Mitglied im Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe und im Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, begleitete die Gaza Freedom-Flottille an Bord der Mavi Marmara. Der Schattenblick hatte Gelegenheit, Frau Groth am 4. Juni telefonisch über ihre Erlebnisse zu befragen.

SB: Wenn wir es richtig verstanden haben, waren Sie mit einem anderen Boot unterwegs und mußten dann in Zypern auf die Mavi Marmara umsteigen. Würden Sie uns bitte berichten, wie sich das zugetragen hat?

AG: Ja, wir waren zuerst auf der Challenger One und sind dann am Samstagmittag auf die Marmara gekommen. Dort herrschte eine super Atmosphäre. Es war alles sehr gut organisiert. Viele Presseleute fuhren mit. Allein Al Jazeera war mit vier Teams vertreten. Ich habe am Sonntagabend Al Jazeera sowie einigen anderen Medien Interviews gegeben. So gegen 23.30 Uhr oder 24.00 Uhr sind wir unter Deck und ins Bett gegangen. Um 4.20 Uhr morgens hieß es dann plötzlich: Schwimmwesten anziehen. Unser Schiff ist von Soldaten und Motorbooten umgeben. Wir sollten uns ruhig verhalten.

Die Tür wurde abgeschlossen. Und dann haben wir Frauen erstmal leise dort gesessen. Wir hörten unentwegt Getrappel und irgendwelche komischen Geräusche, aber keine Schießerei, denn es war alles zu weit weg. Um 5.10 Uhr hat der türkische Kapitän über Lautsprecher bekanntgegeben, daß das Schiff jetzt unter israelischer Kontrolle sei, daß wir keinen Widerstand leisten und uns ruhig verhalten sollten. In dem Moment war klar, daß wir Gaza nicht erreichen würden.

Nach etwas mehr als einer Dreiviertelstunde sind wir dann auf das obere, das Männerdeck beordert worden. Auf dem Weg dorthin zeigte sich im Treppenhaus ein Bild des totalen Chaos. Ich sah einen Verletzten am Boden. Ich habe aber versucht ihn nicht anzuschauen. Dann waren wir ersteinmal auf dem Männerdeck. Dort befanden sich keine Soldaten, aber sie standen draußen, alle mit dem Finger am Abzug.

Irgendwann ist Hanin Zoabi, die israelisch-arabische Knesset-Abgeordnete, mit einem Schild aus Pappe, das sie selber beschriftet hatte, durch die Reihen auf die israelischen Soldaten, die draußen wachestanden, zugegangen. Hinterher habe ich erfahren, was auf dem Schild stand, und zwar auf Hebräisch: "Die Verletzten brauchen dringend Hilfe!" Ihr wurde aber ziemlich schnell bedeutet, daß sie sich zurückziehen sollte. Später sagte mir eine britische Krankenschwester, die dabei war: "Annette, Du mußt berichten, daß es eindreiviertel bis zwei Stunden gedauert hat, bis die Verletzten überhaupt medizinische Hilfe bekamen." Das ist wirklich unglaublich, denn in der Zeit sind wahrscheinlich noch zwei oder drei Leute verblutet. Dieselbe Krankenschwester aus Großbritannien war dann auch freiwillig bei den Leuten am Oberdeck - in der prallen Sonne drei bis vier Stunden. Das war ebenfalls unmöglich. Während wir Frauen uns in diesem unteren Deck, dem Männerdeck, befanden, haben die Israelis das ganze Schiff nach Waffen oder sonstigem durchsucht. Ich habe einen Spürhund, der irgendwelche Sachen auf dem Rücken trug, gesehen. Deswegen war klar, die haben alles durchsucht. Wenn sie wirklich etwas gefunden hätten, was glauben Sie, was dann los gewesen wäre!

SB: Klar.

AG: Später sind wir einzeln nach draußen, aufs Außendeck, beordert worden. Dort sind wir gefilzt worden, und man nahm uns auch all unsere Sachen ab. Ich hatte Glück, denn ich hatte nur eine Bauchtasche bei mir und konnte noch mein Portemonaie, meinen MP3- Player und natürlich meinen Diplomatenpaß behalten. Meine Kollegin, Inge Höger, konnte lediglich ihren Paß behalten und durfte ihren kleinen Rucksack, in dem sie Papiere und alles übrige hatte, nicht mitnehmen. Auf dem Außendeck mußten wir eine ganze Weile sitzen. Ich bin auch mit Kabelbinder gefesselt worden, und zwar als eine der wenigen Frauen auf dem Rücken. Bei den meisten von uns waren die Hände vor dem Körper gefesselt. Das hat aber auch nicht so furchtbar lange gedauert, bis sie uns diese Fesseln wieder durchschnitten.

Ich saß auf einer Bank, und vor mir mußten die Leute sich à la Guantánamo auf dem Deck hinsetzen. Viele trugen noch Schwimmwesten, und alle Männer waren mit Kabelbindern auf dem Rücken gefesselt. Das hat dann eine ganze Weile gedauert. Dann habe ich gesehen, wie die Verletzten in einem Tragetuch die Treppe hoch transportiert worden sind, und zwar immer mit dem Kopf nach unten. Normalerweise, wenn man Verletzte die Treppe hoch bringt, dann mit dem Kopf zuerst, nach oben. Das ist mir echt aufgefallen. In dem Moment dachte ich mir: "Das ist ja unglaublich!" Nach ein paar Stunden durften wir uns alle wieder hinunter auf das Männerdeck begeben. In der Zwischenzeit hatten die Israelis alle Koffer und Rucksäcke und was es dort sonst noch gab durchsucht. Das hatte man alles auf einen großen Haufen geworfen. Ich habe Zigaretten auf dem Boden gefunden und eine zertretene Brille. Es war also ganz klar die totale Durchsuchung gewesen.

Gegen sieben Uhr abends kamen wir in Aschdod an. Der Umweg dorthin hat also ganz schön lange, noch acht bis neun Stunden, gedauert. Es war ein krimineller Akt in internationalen Gewässern - ein Akt der Piraterie halt. Um halb neun abends bin ich dann zu einem Soldaten gegangen und habe gesagt: "Ich will jetzt unbedingt mit meiner Botschaft telefonieren, darauf habe ich ein Recht. Seit 18 Stunden werde ich widerrechtlich festgehalten."

SB: Waren Sie noch auf dem Boot oder jetzt inzwischen an Land?

AG: Nein, da war ich immer noch auf dem Schiffsdeck, gegen 20.30 Uhr. Mir wurde gesagt: "Ok, ein paar Minuten oder eine halbe Stunde." Um 21.00 Uhr bin ich wieder hingegangen und habe gesagt: "Jetzt will ich unbedingt die Botschaft kontaktieren." Und dann sind Inge Höger und ich innerhalb von etwa zehn Minuten vom Schiff heruntergekommen.

In Aschdod, in einem extra abgeriegelten Teil des Hafengeländes, wurden alle registriert. Ich sollte eine Erklärung unterschreiben, in der ich mich bereiterklärte, freiwillig abgeschoben zu werden. Ich habe eingewendet: "Das mache ich nicht, solange nicht meine drei Freunde und Kollegen, Norman Paech, Nader El-Saqa, der Vorsitzende der Palästinensischen Gemeinde Deutschland, und Matthias Jochheim von IPPNW, vom Schiff gelassen werden. Wir waren zusammen auf dem Schiff unterwegs, sind hier gelandet und wollen auch zusammen ausreisen." Daraufhin sagte mir ein sehr unangenehmer Beamter, mit der Einstellung würde ich gleich ins Gefängnis kommen. Doch dann tauchte eine Vertreterin des israelischen Außenministeriums auf, hat sich eingeschaltet und ihm wohl gesagt, daß ich Immunität genieße, oder etwas von der Art. Nachdem er weggeschickt wurde, habe ich zu der Frau vom Außenministerium gesagt, ich müsste jetzt unbedingt mit der Botschaft telefonieren. Sie sagte mir, sie habe selbst gerade mit denen gesprochen, und gab mir ihr Handy. Erst dann erfuhr ich, daß die Vertreter der deutschen Botschaft wie auch die Diplomaten der anderen Länder seit zwei Uhr nachmittags draußen, quasi am Zaun dieses Sicherheitsbereichs im Hafen von Aschdod, standen und versuchten herauszufinden, was mit uns war.

Per Telefon sagte mir die Vertreterin der deutschen Botschaft, daß ihnen nicht erlaubt wäre, zu uns zu kommen, und daß ich deshalb von meiner Seite aus versuchen sollte, Druck zu machen, ob die Diplomaten nicht hereingelassen werden könnten. Sie fragte, wie es uns ginge und ob wir in einigermaßen guter Verfassung seien, und erwähnte in dem Zusammenhang, daß die Angehörigen schon angerufen hätten. Nach diesem Gespräch wandte ich mich wieder an die israelische Beamtin und fragte bei ihr nach, ob die Botschaftsvertreter nicht zu uns hereingelassen werden könnten. Sie wies mich darauf hin, daß es auch in Deutschland bestimmte Sicherheitsbereiche wie Abschiebehaft gebe, zu denen Unbefugte, also auch Journalisten oder Diplomaten, keinen Zutritt bekämen.

Also haben wir noch ein paar Stunden gewartet, bis unsere anderen drei Kollegen ebenfalls vom Schiff herunterkamen. Und um zwei Uhr morgens sind wir dann mit einem Gefängnistransporter zum Flughafen gefahren worden. Dort brachte man uns in einem weit abgelegenen, offenbar für Abschiebungen benutzten Sicherheitsbereich unter. Um 2.30 Uhr trafen wir mit zwei Angehörigen der deutschen Botschaft zusammen. Von dort aus durften wir telefonieren und unseren Angehörigen Bescheid sagen, daß wir alle unversehrt waren. Um 5.30 Uhr sind wir dann mit Polizeiautos und Blaulicht direkt zum Flugzeug gebracht ...

SB: ... und abgeschoben worden.

AG: Ja. Und um 9.45 Uhr sind wir dann in Berlin gelandet.

Matthias Jochheim, Annette Groth, Norman Paech, Inge Höger,  Nader El-Saqa

Matthias Jochheim, Annette Groth, Norman Paech, Inge Höger,
Nader El-Saqa
SB: Wir hatten uns noch am Sonntag und in den ersten Morgenstunden des Montags das Live-Videofeed von der Mavi Marmara angeschaut. Auf dem Schiff schien die Stimmung ziemlich ausgelassen zu sein. Leute unterhielten sich, wanderten herum et cetera. Was ist Ihr Eindruck von der allgemeinen Stimmung gewesen, bzw. was hatten Sie selbst für Erwartungen, wie die Kontaktaufnahme mit den israelischen Behörden vonstatten gehen würde?

AG: Darüber habe ich überhaupt nicht nachgedacht. Wie Sie sagten, war die Stimmung ausgesprochen gut am Sonntag, als wir von Zypern Richtung Gaza in See stachen. Genau das Gegenteil war natürlich am Montag der Fall, als das ganze vorbei war und wir gekapert wurden. Es herrschte große Frustration und Trauer. Ich habe zum Beispiel eine Weile mit einer türkischen Witwe am Tisch gesessen. Ich kann leider kein türkisch, habe jedoch, so gut wie ich konnte, mein Mitgefühl durch Gesten und mit Blicken zum Ausdruck gebracht. Seitens der Israelis war klar, daß sie uns nach Aschdod bringen würden.

SB: Haben Sie das Gefühl gehabt, daß sich manche Passagiere auf der Mavi Marmara vielleicht auf eine etwas verschärfte Auseinandersetzung mit den Israelis vorbereiteten? Gab es irgendwelche Anzeichen für so etwas?

AG: Nein, überhaupt nicht. Es stand von vornherein fest, daß es eine gewaltfreie, friedliche Aktion sein sollte. Wir haben das auch alle unterschrieben. Was die Auseindersetzung auf dem Oberdeck zwischen einigen Passagieren und den israelischen Soldaten betrifft, so hat meine 83jährige Mutter, als ich in Deutschland mit ihr telefonierte und von der Reise erzählte, gesagt: "Das ist doch ganz klar. Man wartet doch nicht ab, bis man erschossen wird. Man greift sich irgendwas, einen Stuhl oder was auch immer auf dem Schiff herumliegt, und versucht sich zu verteidigen!" Und da dachte ich, meine Mutter hat das eigentlich sehr gut ausgedrückt. Sie hat ja Recht.

SB: Inwieweit können Sie von den Gesprächen her, die Sie nach der Erstürmung geführt haben, da Sie selbst nicht auf dem Oberdeck gewesen sind, die Aussagen anderer Passagiere bestätigen, daß schon auf die Menschen geschossen wurde, bevor die Soldaten überhaupt an Bord kamen?

AG: Davon weiß ich nichts. Soweit ich es mitbekommen habe, haben sich die Soldaten abgeseilt, und dann ist anscheinend erstmal ein Gasgemisch versprüht worden. Ich habe hinterher noch einen Norweger gesehen, der deswegen große Atemschwierigkeiten hatte. Ich habe später mit einer Frau gesprochen, die um 4.00 Uhr morgens noch im Pressezentrum war und also alles miterlebt hat. Sie hat mir auch gesagt, sie habe einen Soldaten gesehen, wie er auf den Kopf eines Passagiers gezielt hat. Inzwischen weiß man, wie die Toten und Verletzten aussehen. Es gibt sehr viele Verletzungen durch Kopfschüsse und Körperschüsse. Also ist nicht auf die Beine gezielt worden. Später unterhielt ich mich mit einer palästinensischen Israelin, einer der Haupt-Koordinatorinnen der Free Gaza Movement, die Hebräisch spricht. Ihr hat ein Soldat ins Gesicht gesagt: "Leute wie ihr gehören alle ins Meer geworfen!" Diese Frau ist dann auch noch über einen Toten gestolpert und hat überall Blut und Verletzte gesehen. Das war alles sehr, sehr unangenehm.

Nach dem Überfall auf dem Schiff und in Aschdod habe ich nur mit Frauen gesprochen, denn wir waren getrennt. Allen, mit denen ich geredet habe, ist klar gewesen, daß sich keiner auf irgendwelche möglichen Gewaltakte vorbereitet hatte. In den letzten Tage habe ich mir darüber den Kopf zerbrochen, weil es ja heißt, die Leute hätten sich mit Eisenstangen verteidigt bzw. die Soldaten damit angegriffen. Ich kann mir das nur so erklären, daß das die Stangen aus dem Baldachin waren, den man über das Hinterdeck gespannt hatte, um dem Pressezentrum Sonnenschutz zu gewähren.

SB: Das konnte man auf dem Live-Feed von der Mavi Marmara erkennen.

AG: Genau. Solche Sonnenschirme haben meistens Plastik- oder Metallstäbe. Daher stammten vermutlich die Stangen, die dann von einigen Passagieren benutzt wurden. Also das macht für mich noch Sinn. Ich habe mir gestern abend die Bilder der Israelis von den sogenannten Waffen angeschaut. Darauf sind hauptsächlich Messer zu sehen, wie man sie in jeder Küche, auch auf einem Schiff, findet. Dazu gab es irgendwelche komischen Zangen. Da haben die Passagiere den Werkzeugkasten aufgemacht, vermute ich. Aber wenn es Schußwaffen, scharfe Munition oder Sprengstoff gegeben hätte, dann wären sie nicht nur von den Spürhunden der Israelis entdeckt worden, sondern dann wäre das ganze noch ganz anders und viel blutiger abgelaufen.

SB: In den vielen Medienberichten war davon die Rede, daß die Israelis mit Farbkugeln geschossen hätten. Waren das vielleicht kleinere Gummigeschosse, die in dem Moment des Aufpralls anstatt Farbe zu versprühen, die Betroffenen leicht lähmen und verunsichern sollen?

AG: Das kann ich nicht bestätigen. Also, daß irgendwelche Geschosse Farbe versprühten, davon weiß ich nichts. Allerdings auf dem Deck, wo ich saß, hat ein Mann, der vor mir kniete, so eine Patrone gefunden und wollte sie mir geben. Im nachhinein muß ich sagen, ich hätte sie vielleicht annehmen sollen. Aber, ehrlich gesagt, ich hatte Angst. Ich dachte, wenn ich sie in meine Bauchtasche stecke und später gefilzt werde und die findet jemand bei mir, dann könnte ich ganz schön in Schwierigkeiten kommen. Also habe ich das verweigert.

SB: Das ist vielleicht besser so. Sonst wären Sie als
Waffenschmugglerin an den Pranger gestellt worden.

AG. Das dachte ich auch. Aber das Blöde ist natürlich, daß unser ganzes Bildmaterial weg ist. Norman Paech, mein Völkerrechtskollege, der hatte Fotos geschossen, als sich die Soldaten abseilten, und auch Bilder von den Verletzten gemacht. Ihm wurde wie allen anderen die Kamera abgenommen. Das ganze Material wird jetzt wahrscheinlich angeschaut und ausgewertet. Gregor Gysi, unser Fraktionschef im Bundestag, war vorgestern beim israelischen Botschafter in Berlin. Ihm wurde versichert, daß wir unsere ganzen Sachen zurückbekommen. Da bin ich gespannt. Ich habe nicht nur mein Handy, sondern blöderweise auch mein Telefonbuch verloren. Ich muß mir gleich erstmal eins kaufen und meine ganzen Kontakte wieder mühselig zusammensuchen.

SB: Ihre Kollegin, Inge Höger, hat im Interview mit der jungen Welt davon gesprochen, daß die Bilder, anhand derer die Israelis einige der Passagiere auf dem Schiff identifiziert haben, Fotos gewesen seien, die eventuell von israelischen Agenten, die sich unter die Free-Gaza-Aktivisten gemischt hatten, schon vor der Abreise der Freiheitsflottille gemacht wurden. Können Sie das bestätigen?

AG: Ja, definitiv. Mein Foto zählt dazu. Denn dieses Foto wurde an unserem ersten Abend in Kreta aufgenommen. Ich trug nämlich so eine Kette mit meinem weißen Namensschild, und das konnte man auf diesem Foto sehr genau erkennen. Insofern war ich natürlich auch etwas verblüfft, wie dieses Foto auf das israelische Fahndungsplakat kommen konnte. Das kann ich mir nicht erklären. Ich weiß nicht, ob das irgend jemand ins Internet gestellt hat oder so. Das habe ich noch nicht recherchiert. Da waren natürlich etliche Leute, die dauernd fotografiert haben. Also, keine Ahnung, wer das war, aber dennoch finde ich den Vorgang ziemlich eigenartig.

SB: Wurden alle Passagiere von den Israelis vor der Abreise für die nachträgliche Kontrolle abfotografiert?

AG: Ich war nur eine von wenigen. Bei dem etwa vierseitigen israelischen Dokument, in dem ich das Foto von mir später sah, ging es um die Personen, die zunächst mit der Challenger One unterwegs waren. Das waren Inge Höger mit Foto, Teresa, eine Schottin, und ich. Also es waren nur ganz wenige Leute mit Foto auf diesem Fahndungsdokument abgelichtet. Was sonst da darauf stand, kann ich nicht sagen, denn die Schrift war hebräisch.

Annette Groth im Blickpunkt der Öffentlichkeit

Annette Groth im Blickpunkt der Öffentlichkeit SB: Nun wird der Vorwurf gegen die türkische Wohltätigkeitsorganisation IHH erhoben, sie habe die Gaza Freedom-Flottille im Grunde genommen für islamistische Ziele instrumentalisiert. Wie beurteilen Sie diese neuartige Zusammenarbeit auf so großer Ebene zwischen den Free Gaza-Aktivisten, die eher westlich-säkular orientiert sind, und den türkischen Aktivisten, die einen islamischen Hintergrund haben?

AG: Der IHH ist eine humanitäre Stiftung für Menschenrechte und Freiheit - in der Türkei. Es gibt viele verschiedene IHHs. Das hat mir die Koordinatorin auf dem Schiff gesagt, die ich dort kennengelernt habe, als wir so viele Stunden saßen. Auf ZEIT-Online vom 1. Juni ist ein sehr guter, neutraler Artikel, der diese Vorwürfe, daß die irgendetwas mit Hamas oder sonst wem zu tun haben, entkräftet [2]. Wer immer in Gaza ist, inklusive der Kirche, die gerade eine Pressekonferenz des Evangelischen Missionswerks in Südwestdeutschland abgehalten hat, betreibt wie auch die UN oder die EU Projekte, bei denen man mit der dortigen Regierung zusammenarbeiten muß, und die wird nun einmal von der Hamas gestellt. Es geht also gar nicht anders. Was ansonsten noch an der IHH dran ist, was jetzt alles verbreitet wird, dazu habe ich gerade diesen Journalisten, die mich darauf festnageln wollten, ganz klar gesagt, daß ich es nicht weiß und das selber erst recherchieren muß. Was ich weiß ist, daß es um humanitäre Arbeit geht und nichts mit Waffen oder sonst etwas zu tun hat. Das möchte ich schon noch einmal betonen, ansonsten kann man ja sehr schnell irgendwelche merkwürdigen Konstrukte fabrizieren etwa der Art, daß die mit Al Quaida oder so zusammenarbeiten, das ist ja das allerletzte.

AG: Wie beurteilen Sie den Einfluß dieser Aktion und ihres Endes in Bezug auf die Diskussion in der Linkspartei zum Thema Israel und Palästina?

AG: Das werden wir sehen. In der nächsten Woche haben wir einige Gespräche, dem will ich nicht vorgreifen.

SB: Könnten Sie sich vorstellen, daß die Berührungsängste mit dem Thema in der Linkspartei nach diesem Vorfall vielleicht nicht mehr so stark sein werden? In Deutschland hat man damit ja ein größeres Problem als in anderen Ländern.

AG: Gerade hier in Deutschland wird immer Religion mit Staat vermischt. Das darf man nicht machen, das ist völlig falsch. Man muß sich damit schon ein bißchen differenzierter beschäftigen. Ich beziehe mich da auf die ehemalige israelische Kultusministerin Schulamit Aloni, die in mehreren Interviews gesagt hat, daß man nicht in Frieden leben kann, wenn ein Volk ein anderes Volk unterdrückt. In den letzten Monaten haben wir im Menschenrechtsausschuß viel Besuch von- und Menschenrechts- und Friedensorgansationen aus Israel bekommen. Deren Vertreter haben erklärt, daß sie jetzt internationale Unterstützung brauchen, weil sie das nicht allein schaffen. Sie sind mit einer zunehmenden Militarisierung der Gesellschaft und auch mit anwachsender Einschränkung der Pressefreiheit und ähnlichem konfrontiert. Wenn Friedensaktivisten immer weniger Bewegungsfreiheit haben und sich immer weniger äußern können, dann ist das ein Problem, zu dem man klar Stellung beziehen muß. Das mache ich auch in anderen Ländern. Dabei zitiere ich gerne Bischof Desmond Tutu, der einmal gesagt hat, daß man sich, wenn man in Situationen der Ungerechtigkeit neutral bleibt, auf die Seite der Unterdrücker stellt. Das finde ich sehr, sehr drastisch. Wo auch immer ich als Menschenrechtspolitikerin aktiv werde, ich verurteile Menschenrechtsverletzungen überall, auch wenn sie von der Hamas oder von wem auch immer ausgehen. Man muß sie anprangern, wo auch immer sie begangen werden. Natürlich auch im eigenen Land, so wie hier teilweise mit Flüchtlingen umgegangen wird und dergleichen.

SB: Wie empfinden Sie die Reaktion der Bundesregierung auf den Vorfall. Halten Sie sie für angemessen oder war sie zu schwach?

AG: Immerhin hat auch Frau Merkel jetzt ein Ende der Blockade gefordert, Donnerwetter. Da kann man sich nur freuen. Wir haben nächste Woche im Bundestag eine aktuelle Stunde zu dem Thema. Herr Westerwelle hat sich ja auch eingemischt, hat seinen Kollegen während dieser ganzen Geschichte mehrmals angerufen und einen Brief geschrieben, in dem er seine Dankbarkeit dafür ausdrückt, daß wir heil und unversehrt zurückgekommen sind. Da tut sich jetzt schon einiges. Das Thema genießt jetzt einfach eine große internationale Aufmerksamkeit. Ob UN oder EU, alle fordern eine unabhängige Untersuchung und alle fordern: Ende der Blockade! Die ist völkerrechtswidrig und verstößt gegen sämtliche Menschenrechte.

SB: Halten Sie strafrechtliche Konsequenzen, oder den Versuch, solche auf internationaler Ebene gegen Israel einzubringen, in dem Zusammenhang für sinnvoll?

AG: Ich halte es jedenfalls nicht für sinnlos. Ich weiß nicht, wie die türkische Regierung weiter vorgehen wird. Sie hat ja die meisten Opfer zu beklagen, ein türkisches Schiff ist gekapert worden, eigentlich darf man das nicht auf sich beruhen lassen. Wir werden auch noch weiter überlegen, was da zu tun ist etwa auch für den Fall, daß wir unsere Sachen nicht zurückbekommen.

SB: Könnten Sie sich vorstellen, daß Sie bei weiteren Aktionen dieser Art dabei sein werden? Es wurde ja schon angekündigt, daß eine weitere Flotte aufgestellt werden soll.

AG: Ehrlich gesagt, ich hoffe, daß es nicht dazu kommt, ich hoffe, daß die Blockade vorher zurückgenommen wird. Jetzt muß man ersteinmal ein bißchen abwarten und Druck aufbauen und wirklich ganz, ganz lautstark: "Ende der Blockade!" fordern.


Fußnoten:

[1] http://www.independent.co.uk/news/world/middle-east/the-hijacking-of-the-truth-film-evidence-destroyed-1992517.html

[2] http://www.zeit.de/politik/ausland/2010-06/gaza-Stiftung

Pressekonferenz zur Rückkehr der deutschen Delegation in Berlin am 1. Juni

Pressekonferenz zur Rückkehr der deutschen Delegation in Berlin am 1. Juni

7. Juni 2010