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JUSTIZ/640: E.ON baut britischen Überwachungsstaat mit auf (SB)


E.ON baut britischen Überwachungsstaat mit auf

Britische Umweltschützer E.ON zuliebe als "Terroristen" behandelt


In Großbritannien stellen diese Tage aufgeklärte und progressive Gemüter mit Erschrecken fest, in was für einen Polizeistaat die sozialdemokratische Labour-Regierung - einst von Tony Blair, seit fast zwei Jahren nun von Gordon Brown angeführt - unter dem Vorwand des Kampfes gegen den "internationalen Terrorismus" die einst liberale Demokratie Großbritannien verwandelt hat. Zwei schockierende Ereignisse stehen im Mittelpunkt der aktuellen Debatte: erstens der tödliche, am 2. April am Rande einer Demonstration in der Londoner City gegen den G20-Gipfel erfolgte Angriff eines Polizisten auf den 47jährigen Zeitungsverkäufers Ian Tomlinson und zweitens die Razzia in den frühen Morgenstunden des 13. April in einer Schule in Sneinton Dale in der englischen Grafschaft Kent und die gleichzeitige Festnahme von 114 Umweltaktivisten, die mit Einverständnis der Besitzer in dem Gebäude übernachteten. In letztere Affäre ist E.ON verwickelt, denn bei den Verhafteten von Sneinton Dale handelte sich allesamt um Gegner der Pläne der deutsche Stromkonzern zum Bau eines Kohlekraftwerkes in Kingsnorth in Kent.

Die Empörung in Großbritannien über den Tod von Tomlinson, der selbst mit der Anti-G20-Demonstration gar nichts zu tun hatte, sondern lediglich auf seinem regulären Weg abends nach Hause von der Arbeit war, speist sich zusätzlich aus den diversen Berichten von anderen Beispielen übermäßiger Polizeigewalt an diesem Tag. Hunderte von Menschen wurden stundenlang eingekesselt. Zahlreiche Demonstranten und einfache Passanten haben bezeugt, daß viele der Polizisten die Nummer auf ihrer Uniformen entweder überdeckt oder entfernt hatten. Eine solche Maßnahme ist nicht nur illegal, weil es im Streitfall die Identifizierung des jeweiligen Beamten und damit eine nachträgliche Kontrolle der Polizei durch Justiz unmöglich macht, sondern läßt zudem darauf schließen, daß diejenige Polizisten beabsichtigten, bei der Ausübung ihrer Pflicht - bzw. dessen, was sie für Pflicht hielten - das Gesetz zu mißachten.

Hinzu kommt, daß nach dem plötzlich Tod von Tomlinson auf dem Bürgersteig die Londoner Polizeibehörde in ihrer ersten Presseerklärung behauptet hat, gewaltätige Demonstranten hätten mit Flaschen diejenigen Beamten angegriffen, die versuchten, dem wegen eines Herzinfarkts kollabierten Zeitungsverkäufer zuhilfe zu kommen. Inzwischen hat sich diese Version der Ereignisse als böswillige "schwarze Propaganda" entpuppt - nicht zuletzt durch die Veröffentlichung der Videoaufnahmen eines amerikanischen Investmentbankers vom tatsächlichen Polizeiübergriff auf Tomlinson auf der Website der Tageszeitung Guardian.

Während sich die Independent Police Complaints Commission (IPCC) und gleich zwei parlamentarische Komitees mit der Untersuchung der Umstände des Todes von Tomlinson befaßt sind und der verantwortliche Polizist suspendiert ist, halten die Umstände der Vorgänge in Kent vor einer Woche die Debatte um polizeiliche Übergriffe auf britische Bürger, die von ihrem demokratischen Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit Gebrauch machen wollen, am Leben. Die mitternächtliche Erstürmung der Schule durch 200 bis 300 Bereitschaftspolizisten und die Festnahme der 114 Gegner des E.ON-Kraftwerkes in Kingsnorth ist deshalb so umstritten, nicht nur weil die Umweltaktivisten nichts verbrochen hatte, sondern weil sie nicht einmal zum Demonstrieren gekommen waren. Folglich handelte sich um den, wie es Juliette Dowd und Matthew Taylor am 14. April in Guardian beschrieb, um "die größte präemptive Razzia gegen Umweltaktivisten in der Geschichte Großbritanniens".

Zur Begründung der drastischen wie zugleich beispiellosen Aktion führte die Polizei im Anschluß gegenüber der Presse "sichergestellte Spezialausrüstung" ins Feld, die belegen sollte, daß "die Festgenommenen eine ernsthafte Bedrohung des Betriebes der Anlage" dargestellt hätten. Als Anfangsverdacht wurde den Verhafteten unterstellt, sie hätten das Gelände des im Bau befindlichen Kohlekraftwerkes unbefugt betreten und dort Sachbeschädigung anrichten wollen. Die Festgenommenen ließ man eineinhalb Stunden in nächtlicher Kälte mit gefesselten Händen auf dem Boden sitzen, während man im Einzelverfahren die jeweiligen Personalien festhielt - unter anderem durch durch das Nehmen von Fotos für die Polizearchive. Danach wurden alle abtransportiert und in Gewahrsam genommen. Erst nach 36 Stunden waren die letzten wieder auf freien Fuß. Gegen keinen einzigen konnte der Anfangsverdacht erhärtet werden. Auch wurde keine einzige Anklage erhoben. Dafür stellte sich die "sichergestellte Spezialausrüstung" als Bolzenschneider heraus, der der Schule gehörte und der sich an seinem Platz im Werkzeughäuschen des Hausmeisters und zu keinem Zeitpunkt im Besitz der Umweltaktivisten befunden hatte.

Inzwischen stellt sich heraus, daß im Vorfeld der Razzia die Polizei Daten über die Umweltgruppe Climate Camp eingeholt hatte, welche sie unzulässigerweise der Department for Business, Enterprise and Regulatory Reform (BERR) im britischen Wirtschaftsministerium hat zukommen lassen. Die BERR hat wiederum die eigentlich strenggeheimen Polizeiinformationen über die Umweltaktivisten an die befreundeten Vertretern von E.ON weiter gereicht. Zu den ausgetauschten Dokumenten gehörte auch ein geheimes Strategiepapier der Umweltschützer, an das das Police National Information and Coordination Centre (PNICC), dessen Aufgabe eigentlich in der Sammlung von Informationen auf der nationalen und internationalen Ebene zur Verhinderung von Notfällen besteht, vermutlich durch die Hilfe eines Polizeispitzels gekommen war. Dies berichteten Matthew Taylor und Paul Lewis am 20. April wiederum im Guardian.

Im Artikel von Taylor und Lewis, der den Titel "Secret police intelligence was given to E.ON before planned demo" trägt, äußerte sich der Parlamentsabgeordnete David Howarth, Justizsprecher der oppositionellen Liberal-Demokraten, der den ausgetauschten E-Mail-Verkehr zwischen den Ministerialbeamten und den Mitarbeitern des deutschen Stromriesen über die geplante Proteste von Kingsnorth zum Teil gesichtet hatte, wie folgt: "Es ist, als würde die BERR die Polizei als Teil des privaten Sicherheitdienstes von E.ON behandeln. Es stellt sich die Frage, wie die Polizeidaten zur BERR gelangten. Kamen sie aus dem Innenministerium oder direkt von der Polizei? Und was haben sie mit den Erkenntnisse gemacht, nachdem sie sie erhalten haben?" Im selbem Artikel ging Shami Chakrabarti, Leiterin der angesehenen Bürgerrechtsorganisationen Liberty, noch weiter und warf der Labour-Regierung vom Premierminister Gordon Brown und Innenministerin Jacqui Smith vor, "Polizeibeamte in Türsteher und private Sicherheitsleute für die Großkonzerne" zu verwandeln. Bekanntlich hat einst Benito Mussolini, den Gründer des Faschismus, diesen als "Korporatismus ... die Fusion von Staats- und Konzernmacht" definiert.

20. April 2009