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JUSTIZ/703: London - Tendenz Polizeistaatlichkeit ... (SB)


London - Tendenz Polizeistaatlichkeit ...


In Großbritannien bläst den Menschenrechts- und Umweltaktivisten ein ganz rauher Wind ins Gericht. Mit immer rabiateren Polizeimethoden und unnachgiebiger juristischer Verfolgung will der Staat jeden Widerstand gegen seine umstrittenen Entscheidungen brechen und den Bürgern - genaugenommen handelt es sich allesamt um Untertanen des Königshauses Windsor - jeden Gedanken an zivilem Ungehorsam austreiben. In den höchsten britischen Politkreisen wird sogar offen der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Menschenrechtskonvention befürwortet.

Am 26. September hat ein Gericht im nordwestenglischen Preston vier Umweltaktivisten, die im Juli 2017 im Rahmen einer Protestaktion auf Lastwagen stiegen und somit für mehrere Tage die Belieferung der ersten Fracking-Bohrstelle in Großbritannien mit Ausrüstung verhinderten, wegen "Erregung öffentlichen Ärgernisses" zu eineinhalb Jahren bzw. einem Jahr Freiheitsstrafe verurteilt. Das Fracking-Vorhaben des Privatunternehmens Quadrilla bei Preston ist hoch umstritten. Ursprünglich hatte der Kommunalrat der Grafschaft Lancashire den Antrag der Firma, bei Preston Fracking nach Schiefergas durchzuführen, unter anderem wegen der von den eingesetzten Chemikalien ausgehenden Gefahr für das Grundwasser sowie des Risikos einer erhöhten Erdbebenaktivität abgelehnt. Doch nachdem die Quadrilla-Eigentümer und die britische Energielobby auf die konservative Zentralregierung um Premierminister David Cameron Druck ausgeübt hatten, überging London 2016 die Lokalbehörden und erteilte die Fracking-Genehmigung.

In der gesamten britischen Umweltschutzszene hat der Ukas aus der Themse-Hauptstadt große Empörung ausgelöst. In Lancashire selbst empfindet die Mehrheit der Menschen, daß ihre natürliche Umgebung und ihre Gesundheit den Profitinteressen Quadrillas und der Energie-Lobby geopfert wird. Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, daß in den letzten zwei Jahren bei Protesten vor dem Fracking-Areal mehr als 300 Menschen von der Polizei festgenommen worden sind. Der Richter beim jüngsten Prozeß, Robert Altham, hat deshalb so schwere Strafen verhängt, weil, wie er es in seiner Begründung formulierte, die Verurteilten ihr Handeln für rechtens hielten und nicht die geringste Reue zeigten. Die vier Männer, ein 31jähriger Schullehrer aus Devon, ein 26jähriger Bodenwissenschaftler aus Sheffield, ein 36jähriger Klavierrestaurateur aus London und ein 47jähriger Aktivist aus Torquay, die einen großen Unterstützerkreis hinter sich wissen, haben Widerspruch gegen das Urteil eingelegt und einen Revisionsprozeß beantragt.

Weitaus größeren Ärger haben sich die fünfzehn Menschenrechtsaktivisten eingehandelt, die sich in der Nacht des 28. März 2017 Zugang zum Rollfeld des Londoner Flughafens Stansted verschafft und um eine Boeing 767 herum aneinandergekettet haben, um eine Massenabschiebung mehrerer "illegaler" Einwanderer aus Ghana, Nigeria und Sierra Leone durch das britische Innenministerium zu verhindern. Die Aktivisten hielten Transparente mit der Aufschrift "No one is illegal" hoch, und ihre Aktion blockierte den regulären Betrieb in Sansted um mehr als eine Stunde. Abflüge litten unter Verspätungen. Mehrere Passagiermaschinen, die sich bereits im Anflug auf Stansted befanden, mußten auf andere Londoner Flughäfen umdirigiert werden. Es dauerte bis acht Uhr morgens, ehe die Polizei alle Aktivisten voneinander getrennt und weggebracht hatte.

Die Beteiligten der spektakulären Aktion stehen nun alle vor Gericht. Der Prozeß hat am 2. Oktober vor dem Chelmsford Crown Court begonnen und soll acht Wochen dauern. Wegen des Eingriffs in den internationalen Flugverkehr wird den Angeklagten im Alter zwischen 27 und 44 Jahren "Terrorismus" vorgeworfen. Ihnen droht lebenslange Haft. Alle fünfzehn Aktivisten plädieren auf nicht schuldig. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International nimmt als Beobachterin am Prozeß teil. Deren Leiterin, Kate Allen, hat das Vorgehen der Justizbehörden gegen die "Stansted 15" als "mit Kanonen auf Spatzen schießen" bezeichnet.

Leider tritt in Großbritannien der Polizeistaat immer offener in Erscheinung. Aktuell finden auf der Insel zwei große Untersuchungen statt, die erhebliche Zweifel an dem rechtsstaatlichen Verständnis der britischen Behörden aufkommen lassen. Bei der einen Untersuchung soll geklärt werden, wie die Londoner Polizei und das britische Innenministerium zulassen konnten, daß verdeckte männliche Ermittler in der Umwelt- und Tierrechtsszene Liebesbeziehungen zu Aktivistinnen aufnehmen und diesen teilweise über Jahre eine echte Partnerschaft vorgaukeln konnten. Insgesamt zwölf Frauen haben wegen derlei Praktiken Anzeige erstattet. Sie verlangen nicht nur Aufklärung, sondern auch finanzielle Entschädigung. Mehrere Prozesse, die zu diesem Komplex gehören, laufen derzeit.

Vor dem Investigatory Powers Tribunal versuchen zudem zwei Menschenrechtsorganisationen aus Großbritannien, Reprieve und Privacy International, sowie zwei aus Nordirland, das Pat Finucane Centre und das Committee on the Administration of Justice, Licht in die bislang geheimen Praktiken des Innenministeriums sowie dessen Geheimdienst MI5 zu bringen. Das Pat Finucane Centre ist nach einem Anwalt in Belfast genannt, der 1989 in der eigenen Küche vor den Augen seiner Frau und vier Kinder von zwei maskierten loyalistischen Paramilitärs erschossen wurde. Finucane war als Menschenrechtsanwalt, der immer wieder IRA-Mitglieder vor Gericht vertreten hatte, den Behörden in Belfast und London ein Dorn im Auge. Später stellte sich heraus, daß seine Mörder vor und nach der Tat Hilfe vom britischen Militärgeheimdienst erhalten hatten, wofür sich später Premierminister Cameron bei der Finucane-Familie entschuldigen mußte.

Bei der jüngsten Anhörung des Investigatory Powers Tribunal kam heraus, daß MI5-Offiziere auf der Basis bislang geheimer Vorschriften Verbrechen begehen dürfen, ohne sich dabei strafbar zu machen. Dies berichtete am 4. Oktober der Geheimdienstexperte Ian Cobain in der Zeitung Middle East Eye. Die sonderbare Praxis, deren Rechtmäßigkeit angezweifelt werden kann, existiert angeblich seit Jahrzehnten. In ihrer jüngsten Form heißt sie seit 2014 "Third Direction". Damals wurde sie von Cameron als Premierminister schriftlich abgesegnet. 2017 hat Camerons Nachfolgerin Theresa May die Praxis verlängert.

Die heutige Regierungschefin und Tory-Vorsitzende steht an der Spitze derjenigen Politiker in Großbritannien, die für einen Austritt des Landes aus der Europäischen Menschenrechtskonvention eintreten. Als Innenministerin Camerons hatte May eine schwere Niederlage erlitten, als 2012 der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strasbourg die Ausweisung des mutmaßlichen islamistischen "Terroristen" Abu Qatada nach Jordanien blockierte. Die Aufregung um dieses Urteil, besonders die Hetze, welche die britische Boulevardpresse darum entfaltete, hat nicht unwesentlich zur Anti-EU-Stimmung in Großbritannien und schließlich zur Mehrheit für Ja beim Brexit-Referendum im Juni 2016 beigetragen. Dabei ist der EGMR gar keine EU-Institution, sondern hängt mit dem Europarat zusammen, der 1949 gegründet wurde und dem 47 Staaten, darunter Rußland und die Türkei, angehören.

7. Oktober 2018


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