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LATEINAMERIKA/2226: Ende der Ära Kirchner in Argentinien eingeläutet? (SB)


Verheerende Niederlage bei den Zwischenwahlen zum Kongreß


Ende Oktober 2007 wurde mit Cristina Fernández de Kirchner erstmals in der 191jährigen Geschichte Argentiniens eine Frau ins höchste Staatsamt gewählt. Die neue Präsidentin setzte sich als Nachfolgerin ihres Mannes mühelos durch, wobei die Beteiligung trotz der herrschenden Wahlpflicht so niedrig wie noch nie seit der Rückkehr zur Demokratie gewesen war. Néstor Kirchner war damals so populär, daß er mit Sicherheit für eine zweite Amtszeit gewählt worden wäre. Er verzichtete jedoch zugunsten seiner Frau, die als Kandidatin der von ihm geführten "Frente para la Victoria" ins Rennen ging. Dadurch entfiel die übliche parteiinterne Kür der Kandidaten, wie überhaupt die Konkurrenz kaum Chancen hatte, die Stabübergabe der Kirchners zu verhindern.

So wurde Cristina Fernández de Kirchner eher mangels ernstzunehmender Gegner, als mit großer Begeisterung gewählt. Die argentinische Parteienlandschaft bot ein desolates Bild, was sowohl für die in zerstrittene Fraktionen zerfallene peronistische Bewegung als auch die anderen politischen Lager galt. Die neue Präsidentin hatte zuvor zehn Jahre lang dem Senat angehört, wo sie als Vorsitzende der Mehrheitsfraktion die Politik ihres Mannes unterstützte. Die beiden waren in der Vergangenheit ein Gespann und wollten es auch in Zukunft bleiben, was sie offen einräumten. Da mit dem Namen "Kirchner" ein Aufschwung assoziiert war, hielt sich das Unbehagen über den eigentümlichen innerfamiliären Machtwechsel, der nicht von ungefähr an die Etablierung einer Dynastie erinnerte, in Grenzen.

In Argentinien werden bei den Zwischenwahlen zur Mitte der präsidialen Amtszeit die Hälfte der Mitglieder des Abgeordnetenhauses und ein Drittel der Senatoren neu gewählt. Daher hat diese Abstimmung den Charakter einer Zwischenbilanz des jeweiligen Staatschefs. Für Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner und ihren Mann Néstor fiel diese verheerend aus, mußten die beiden doch eine herbe Niederlage einstecken. Während die Staatschefin bei ihrem damaligen Wahlsieg 47 Prozent der Stimmen erhalten hatte, stimmten nun bei der Parlamentswahl nur noch knapp 30 Prozent für ihre Partei, so daß ihr künftiger Handlungsspielraum im Kongreß beträchtlich eingeengt worden ist, da sie gegen eine oppositionelle Mehrheit regieren muß. [1]

Am härtesten umkämpft war die besonders wichtige Provinz Buenos Aires, in der 37 Prozent der Wähler leben. Néstor Kirchner unterlag in dieser Hochburg des Peronismus dem Konservativen Francisco de Narváez, einem abtrünnigen Peronisten, auf den 34 Prozent der Stimmen entfielen, während sich nur knapp 32 Prozent der Wähler für Kirchner aussprachen. Damit profilierte sich der Kaufhauserbe, Finanzinvestor und Medienmagnat als einer der stärksten Gegenspieler der Kirchners. "Ich habe immer gesagt, daß wir eines Tages die Geschichte verändern werden, und dieser Tag ist heute", triumphierte de Narváez, der sich offenbar für den Anfang vom Ende des Peronismus hält.

De Narváez vertritt die Auffassung, daß sich der Staat stärker aus der Wirtschaft heraushalten müsse. Er wurde 2005 ins Parlament gewählt und scheiterte zwei Jahre später beim Versuch, Gouverneur der Provinz Buenos Aires zu werden. Da er nicht in Argentinien geboren ist, sondern aus Kolumbien stammt, ist ihm der Aufstieg ins Präsidentenamt verwehrt.

Auch in der Hauptstadt Buenos Aires mit neun Prozent aller Wähler siegte die Kandidatin des Rechtsbündnisses Unión-PRO, wobei dieses Ergebnis den Erwartungen entsprach. Während man mit dem Sieg Gabriela Michettis gerechnet hatte, die früher Stellvertreterin des liberalen Bürgermeisters Mauricio Macri gewesen war, landete der Filmregisseur Fernando "Pino" Solanas, der mit einem linken Wahlprogramm vor allem Protestwähler angezogen hatte, überraschend auf dem zweiten Platz. Die Peronisten endeten abgeschlagen auf dem Rang vier.

Aus fast allen Landesteilen trafen Hiobsbotschaften für das Regierungslager ein, denn auch in den wichtigen Provinzen Santa Fé, Córdoba und selbst in Kirchners Heimatprovinz Santa Cruz unterlagen die Regierungsbewerber den Kandidaten der Opposition. Im tiefsten Süden Patagoniens besiegte der Kandidat der "Radikalen Bürgerunion" (UCR) erstmals den Bewerber der Kirchners um einen Abgeordnetensitz im Nationalparlament. Enttäuschend für diese war zudem der überwältigende Sieg der Kandidaten des Vizepräsidenten Julio Cobos in dessen Provinz Mendoza. Cobos hatte mit seiner entscheidenden Stimme im Senat ein Gesetz zur Erhöhung einer Agrarexportsteuer zu Fall gebracht und damit das wichtigste und zugleich umstrittendste Vorhaben der Präsidentin torpediert.

In beiden Kammern des Kongresses verlor die linksperonistische "Front für den Sieg" der Kirchners die Mehrheit, die im Abgeordnetenhaus auf 22 Mandate verzichten muß. Nach der Niederlage trat Néstor Kirchner von seinem Amt als Vorsitzender der Peronisten-Partei PJ zurück und bat den Gouverneur der Provinz Buenos Aires, Daniel Scioli, diesen Posten zu übernehmen. Zugleich forderte Kirchner seinen Nachfolger auf, das am Vortag gewonnene Parlamentsmandat nicht anzutreten und weiterhin Gouverneur zu bleiben.

Da Néstor Kirchner offenbar befürchtete, zu einem späteren Zeitpunkt noch schlechter abzuschneiden, hatte er darauf gedrungen, die Wahlen von Oktober auf Juni vorzuverlegen. Mit seiner Kandidatur für ein Mandat im Kongreß in der Provinz Buenos Aires wollte er seine einstige Popularität für sich und seine Frau in die Waagschale werfen, was jedoch gründlich mißlang. Da half es auch nichts, daß er eine ganze Reihe namhafter Politiker und Künstler dafür gewann, sich als sogenannte "Zeugenkandidaten" auf seiner Liste aufstellen zu lassen. Vermutlich kam es bei den Wählern schlecht an, daß die Mehrzahl dieser Bewerber gar keinen Abgeordnetenposten antreten würde.

Kirchner selbst hatte die Wahl nicht nur zu einem Plebiszit über seine Person und die Amtsführung seiner Frau, sondern auch einer Vorentscheidung über mögliche Kandidaturen für die Präsidentenwahlen 2011 hochgespielt. Der Nimbus der Kirchners gilt jedoch als verbraucht, und die Option, daß Kirchner 2011 ins Amt zurückkehren und damit eine Art Familiendynastie fortsetzen könnte, dürfte so gut wie ausgeschlossen sein. Hingegen hat sich ausgerechnet Julio Cobos als möglicher Kandidat profiliert, den die Kirchners seit seiner Blockadehaltung gegen ihre Agrarpläne geschnitten haben. Auch trägt sich Francisco de Narváez mit dem Gedanken, den Bürgermeister von Buenos Aires, Mauricio Macri, für die konservative Partei ins Rennen zu schicken.

Wenngleich man mit einer Niederlage der Kirchners gerechnet hatte, fiel sie doch erheblich drastischer als erwartet aus. Cristina Fernández de Kirchner wird es künftig weitaus schwerer haben, ihre Politik durchzusetzen, was nicht allein an den Mehrheitsverhältnissen im Kongreß liegt. Ein entscheidender Grund für die Niederlage dürften die Lebensverhältnisse in Argentinien sein, da sich die Polarisierung der Gesellschaft in den letzten Jahren deutlich verschärft hat. So liegt die Armut offenbar bei 30 Prozent und damit wieder auf dem Niveau von 1999. Die Inflationsrate wird in der offiziellen Statistik mit sieben Prozent angegeben, liegt aber aber nach Einschätzung von Kritikern bei 22 Prozent und damit wesentlich höher, was die ärmeren Teile der Bevölkerung besonders schwer in Mitleidenschaft zieht.

Die jüngste Abstimmung war nicht zuletzt ein Votum über das Kirchnersche Wirtschaftsmodell. Die Präsidentin hat den langen Machtkampf mit dem einflußreichen Agrarsektor um eine Erhöhung der Exportsteuern im vergangenen Jahr verloren und dabei viele Sympathien in den von Landwirtschaft geprägten Provinzen, aber auch bei den städtischen Mittelschichten eingebüßt. Damit ist der Versuch, Teile der Einkünfte bei den wichtigsten Ausfuhrgütern des Landes abzuschöpfen und in Sozialleistungen für die armen Bevölkerungsschichten umzuverteilen, weitgehend gescheitert.

Die Kirchners stehen für eine Politik, die regulierende Eingriffe des Staates in die Wirtschaft favorisiert. Sie machen den extrem neoliberalen Kurs der 1990er Jahre verantwortlich für die schwere Wirtschaftskrise und den Zusammenbruch von 2001. Schutz der nationalen Produktion, Anreize zur Schaffung einer weiterverarbeitenden Industrie, eine staatliche Ausgabenpolitik für die öffentliche Infrastruktur und der Vorrang argentinischer Interessen gegenüber internationalen Anforderungen dominieren das Regierungshandeln. Vor den jüngsten Wahlen war ein umfangreiches staatliches Investitionsprogramm auf den Weg gebracht worden, dessen Kernstück den Rückfluß von 30 Prozent der Steuereinkünfte aus dem Sojaexport für Infrastrukturprojekte in den Provinzen vorsieht. Im März zog die Regierung sogar eine Nationalisierung aller Agrarexporte in Erwägung, die den Staat zum alleinigen Käufer landwirtschaftlichen Erzeugnisse wie insbesondere Getreide und Rindfleisch gemacht hätte, wobei die Ausfuhrerlöse direkt in den öffentlichen Haushalt zurückfließen würden.

In den Jahren des Aufschwungs nach dem Zusammenbruch fand dieser Kurs weithin die Unterstützung der Wähler. Gegen Ende seiner Amtszeit hatte Néstor Kirchner jedoch heraufziehende Probleme wie die hohe Inflation, eine Energiekrise und eine steigende Kriminalitätsrate unter den Teppich gekehrt, um die Wahl seiner Frau sicherzustellen. Ihr gemeinsamer Versuch, die tendentielle Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums fortzusetzen, stieß auf erbitterten Widerstand der Eliten und Mittelschichten und kostete die Präsidentin ihre anfängliche Popularität.

Nachdem die Wirtschaft sechs Jahre lang mit Quoten von rund acht Prozent gestiegen war, ist sie dieses Jahr erstmals seit der Krise 2001/2002 wieder geschrumpft. Der Sturzflug der Preise für Agrarprodukte, die Weltwirtschaftskrise und eine verheerende Dürre haben Argentiniens vermeintlicher Stärke schwere Schläge versetzt und zu sinkenden Einnahmen im Staatshaushalt geführt, welche die Regierung der Mittel zur Umsetzung ihrer Investitions- und Sozialprogramme beraubt. Zwar schaffte die staatliche Übernahme des Vermögens der privaten Rentenversicherung noch einmal Luft, doch waren seither dringend notwendige Kredite allenfalls zu horrenden Zinsen zu bekommen.

Im Verlauf der Krise zu Anfang des Jahrzehnts war die Hälfte der Bevölkerung unter die Armutsgrenze gerutscht. Zwar gelang es bis 2006, rund 8,5 Millionen Menschen aus der Armut herauszuholen, doch fielen mit dem Anstieg der Inflation etwa zwei Millionen wieder ins Elend zurück. So waren es vor allem verelendete Teile der Mittelschicht, die von dem zwischenzeitlichen Aufschwung profitierten, während sich Millionen arm gebliebene oder gewordene Argentinier nur vorübergehend oder gar nicht aus dem Elend erheben konnten. [2]

Während weite Kreise der argentinischen Gesellschaft Néstor Kirchner mit dem phänomenalen Aufschwung assoziierten, sind es heute nur noch die ärmeren Bewohner in den großen Randgebieten der Städte, mit deren Unterstützung Cristina Fernández de Kirchner rechnen kann. Der alte Traum einer egalitären Gesellschaft, wie er in Argentinien noch in den frühen 1960er Jahren in ungewöhnlich hohem Maße umgesetzt zu sein schien, steht in dem vormals reichsten Land Südamerikas auf den tönernen Füßen einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die das Lehen einer gesicherten Existenz allenfalls befristet vergibt.

Anmerkungen:

[1] http://www.fr-online.de/in_und_ausland/politik/aktuell/1816192 _Argentinien-Kirchners-sind-nicht-mehr-erwuenscht.html

[2] Sozialistische Tageszeitung (27. Juni 2009)

30. Juni 2009