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LATEINAMERIKA/2246: Brasilien lenkt im Strompreisstreit mit Paraguay ein (SB)


Geringer Preis für stabile Verhältnisse und Gewogenheit im Nachbarland


Paraguay mit seinen nur sechs Millionen Einwohnern, das zu den ärmsten Ländern Südamerikas gehört, ist der Form nach eine parlamentarische Demokratie, de facto jedoch eine Oligarchie weniger mächtiger Familien, die ihre Pfründe insbesondere durch den Export von Soja und Rindfleisch sichern und mehren. Der deutschstämmige General Alfredo Stroessner drangsalierte von 1954 bis 1989 als Diktator von außergewöhnlicher Brutalität seine Landsleute, wobei auch nach der Rückkehr zur formalen Demokratie und der Durchführung freier Wahlen ein System der Patronage die herrschende Klasse fest im Sattel hielt. Da ein Prozent der Bevölkerung rund 77 Prozent des Grund und Bodens besitzt, führt die extreme Polarisierung der Gesellschaft insbesondere unter der ländlichen Bevölkerung zu weit verbreitetem Elend. Offiziellen Angaben zufolge leben mindestens 33 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze und nicht weniger als eine Million Paraguayer im Ausland.

Das Binnenland zwischen Argentinien, Brasilien und Bolivien ist für die Vereinigten Staaten von enormer strategischer Bedeutung, wobei das politische Establishment Paraguays um seiner Privilegien willen ein äußerst willfähriger Vasall Washingtons blieb, solange nur die Dollars flossen und der mächtige Verbündete als Garant der herrschenden Verhältnisse fungierte. Kernstück der starken militärischen und geheimdienstliche Präsenz der USA ist ein großer Stützpunkt, der als zentrale Operationsbasis im Herzen Südamerikas alle umliegenden Länder bedroht.

Politisches Werkzeug der Oligarchie war traditionell die Colorado-Partei, die sich seit 1947 und damit länger als jede andere politische Gruppierung weltweit durchgängig an der Macht gehalten hatte. Ihr Regime endete 2008 nach 61 Jahren, als mit Fernando Lugo Méndez ein ehemaliger "Bischof der Armen" an der Spitze der "Patriotischen Allianz für den Wechsel", eines breiten Bündnisses von Parteien des linken Flügels, des Zentrums wie auch der größten Oppositionspartei, die rechts der Mitte anzusiedeln ist, das Präsidentenamt errang. Von den Eliten des Landes und der US-Administration argwöhnisch belauert, repräsentierte der 57jährige die Hoffnungen der Gewerkschaften, Landarbeiter und Indianern, da er für bessere Lebensverhältnisse der armen Bevölkerung eintrat. Zudem hatte sein deutlicher Wahlsieg im April 2008 gezeigt, daß erhebliche Teile der Mittelschichten des elitären und abgeschlossenen Regimes müde waren.

Bei seinem Amtsantritt im August stellte er in der Hauptstadt Asunción eine umfassende Landreform, den energischen Kampf gegen die weit verbreitete Korruption, höhere Abgaben auf den Export landwirtschaftlicher Erzeugnisse und soziale Reformen in Aussicht. Da der politische Machtapparats in Händen weniger einflußreicher Familien allenfalls geschwächt, doch keineswegs gebrochen und Lugo bei seinen Reformvorhaben auf Koalitionen im Parlament angewiesen war, standen dem Präsidenten zwangsläufig Konflikte und Bremsmanöver ins Haus, sobald er seine zunächst recht allgemein formulierte Reformpolitik in Angriff nahm.

Von enormer Bedeutung für seine Amtsführung ist das Verhältnis zu den Nachbarländern, wobei insbesondere die aufstrebende Wirtschaftsmacht Brasilien großen Einfluß auf die künftige Entwicklung Paraguays hat. Nach der Wahl hatte Lugo seinen Traum von einem geachteten und integrierten Paraguay formuliert, wobei er einen Platz unter den tendentiell linksgerichteten politischen Führern des Kontinents einnehmen wollte. Dies entsprang nicht zuletzt der Erkenntnis, daß er seine Vorhaben unmöglich allein gegen die einheimische Oligarchie und deren Schutzherrn in Washington durchsetzen kann. Allerdings ist die Nachbarschaft zum Giganten Brasilien zwangsläufig nicht frei von Tücken, wie sich bereits in Lugos Wahlkampf deutlich abgezeichnet hatte.

Er stellte eine Neuverhandlung der für sein Land ungünstigen Verträge über das gemeinsam mit Brasilien betriebene Wasserkraftwerk Itaipú am Grenzfluß in Aussicht, was bei der Wählerschaft gut ankam, jedoch jenseits der Grenze naturgemäß auf keine Gegenliebe stieß. Nun mußte sich zeigen, welche Zugeständnisse Luiz Inácio Lula da Silva ein Bündnispartner wie Fernando Lugo wert war, dessen Land schwach, aber im Kontext brasilianischen Führungsanspruchs in der Region durchaus nicht bedeutungslos ist.

Das Wasserkraftwerk Itaipú am Grenzfluß Paraná im Dreiländereck, das Brasilien und Paraguay mit Argentinien bilden, nahm 1984 die Produktion auf, wobei seine Leistung von vierzehn Gigawatt zu 90 Prozent von der brasilianischen Industrie in Anspruch genommen wird. Die Stroessner-Diktatur hatte bereits 1973 ein Abkommen mit der brasilianischen Junta geschlossen, wonach sich beide Länder an der Errichtung des Kraftwerks mit jeweils hundert Millionen Dollar beteiligten und der Rest über Kredite finanziert wurde. Den Partnern standen je 50 Prozent des erzeugten Stroms zu, wobei sie sich verpflichteten, den ungenutzten Teil an das Nachbarland zu verkaufen. [1]

Im Jahr 1985 erklärte sich Paraguay bereit, Brasilien bei der Bewältigung der Wirtschaftskrise zu unterstützen und den überschüssigen Strom seines Anteils zu einem festgelegten Tarif deutlich unter dem Weltmarktpreis an den Nachbarn abzugeben. Daß sich Paraguay damit bereitwillig ins eigene Fleisch schnitt, dürfte darauf zurückzuführen sein, daß Stroessner an politischer Allianz und einem sicheren Geldfluß zur Umsetzung seiner Interessen gelegen war, während ihm ein Ausbau der Infrastruktur und die Entwicklung seines Landes nicht nur gleichgültig, sondern angesichts dadurch zu erwartender Reformprozesse höchst suspekt war. Der Staudamm blieb jahrelang eine Kasse, aus der sich die Colorado-Partei auf höchst undurchsichtigen Wegen bediente. Während Brasilien die industrielle Entwicklung im Bundesstaat Sao Paulo vorantrieb, steigerte Paraguay seinen Anteil an der genutzten Energie in den zurückliegenden 25 Jahren lediglich von zwei auf zehn Prozent und vernachlässigte selbst den Aufbau eines modernen Stromnetzes.

Für die Bevölkerung Paraguays wurde Itaipú zum Inbegriff nationaler Schwäche und Benachteiligung durch Brasilien, weshalb Lugo zweifellos viele Stimmen gewann, als er die Aushandlung eines fairen Vertrags auf seine Agenda setzte. Bei der Einlösung dieses Versprechens biß er jedoch zunächst auf Granit, da die brasilianische Regierung keinerlei Entgegenkommen zeigte. Die Spannungen nahmen kürzlich sogar an Schärfe zu, als Brasilien Anfang des Monats ein Militärmanöver mit rund 10.000 Soldaten an seiner südlichen Grenze abhielt, das in Paraguay scharf verurteilt wurde. Offiziell galt die Operation "Frontera Sul 2009" der Bekämpfung des Drogen- und Waffenschmuggels, des Menschenhandels und der Produktpiraterie, womit sie auf den illegalen Warenverkehr aus dem Nachbarland abzielte. Da der paraguayische Bundesstaat Alto Paraná unbestritten ein Zentrum für Billigwaren ist und Ciudad del Este als weltweit drittgrößter Warenumschlagplatz gilt, der enorm vom reibungslosen Grenzverkehr profitiert, wiesen die dortigen Behörden die Truppenpräsenz als einschüchternd und schädlich für den Tourismus zurück. [2]

Nach dieser Machtdemonstration des großen Nachbarn, der sein im Dezember 2007 verabschiedetes Nationales Mobilisierungssystem in militärischen Übungen umsetzt, die in den Nachbarländern zwangsläufig als Provokation und Drohkulisse aufgefaßt werden, schien eine Lösung in der Kontroverse um das gemeinsam betriebene Wasserkraftwerk in weite Ferne gerückt. Um so überraschender kam das plötzliche Einlenken Luiz Inácio Lula da Silvas, der einer Neuregelung zustimmte, welche die Einkünfte Paraguays aus der Nutzung Itaipús verdreifachen. Künftig soll der überschüssige Strom zu Marktpreisen an Brasilien abgegeben werden, woraus Mehreinnahmen in Höhe von jährlich 240 Millionen Dollar resultieren dürften.

Diese Lösung des Konflikts beschert Präsident Lugo einen enormen Prestigegewinn, den er nach dem Ansehensverlust in Folge der Enthüllungen über Kinder, die er in seiner Zeit als Bischof gezeugt hatte, dringend gebrauchen kann. Vor allem aber erlauben ihm die zusätzlichen Einkünfte, Sozialprogramme zur Armutsbekämpfung, Gesundheitsversorgung und Schulspeisung zu finanzieren, wie auch durch Ausbau und Modernisierung des Stromnetzes Investoren anzulocken und Arbeitsplätze zu schaffen.

Während die Mehreinnahmen für Paraguay ansehnlich sind, ist ihre Höhe für Brasilien von so untergeordneter Bedeutung, daß Präsident da Silva einen geringen Preis für stabile Verhältnisse im Nachbarland und einen Stimmungsumschwung zugunsten engerer Partnerschaft im regionalen Umfeld gezahlt hat. Sein Land sei nicht an Wachstum und Entwicklung interessiert, wenn das nicht gleichermaßen für seine Partner gelte, faßte er die Entscheidung im Rahmen einer Rede auf einen griffigen Kernsatz zusammen. Die brasilianischen Ambitionen, als Flaggschiff Lateinamerikas auch im Konzert der weltgrößten Schwellenländer den Ton anzugeben, lassen Machtgelüste erkennen, die den Nachbarn in Südamerika unheimlich werden. Um dieser Entfremdung entgegenzusteuern und nicht zuletzt radikaleren Entwürfen für die künftige Entwicklung der Region das Wasser abzugraben, ist der brasilianische Staatschef über den Schatten nationalen Vorteilsstrebens gesprungen und hat Lugo ins Boot geholt.

Anmerkungen:

[1] Energy Deal With Brazil Gives Boost to Paraguay (27.07.09)
New York Times

[2] Lugo kritisiert Lula. Brasilianische Truppenbewegungen sorgen für Protest aus Paraguay (10.07.09)
junge Welt

30. Juli 2009