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LATEINAMERIKA/2353: Militarisierung der Katastrophenhilfe hat System (SB)


USA setzen hegemoniale Sicherheitsinteressen in Haiti durch


Die vielfach kritisierte Militarisierung der Katastrophenhilfe in dem von Erdbeben heimgesuchten Haiti macht aus Perspektive der Vereinigten Staaten durchaus Sinn, indem sie deren hegemonialem Anspruch auf das karibische Armenhaus Rechnung trägt. Da man nach diesem Desaster weniger denn je in Erwägung zieht, allen Haitianern ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, genießt die Eindämmung und Niederschlagung der zwangsläufig drohenden Hungerrevolte Priorität vor allen anderen Erwägungen. Mit massiver Waffengewalt in Gestalt von zeitweise bis zu 22.000 und derzeit rund 17.000 US-Soldaten auf haitianischem Territorium oder an Bord der Blockadearmada vor der Küste, flankiert von 9.000 Blauhelmen der Vereinten Nationen, treibt man der notleidenden und sterbenden Bevölkerung das Aufbegehren schon im Ansatz aus. Die USA als regionale Führungsmacht haben die Kontrolle wie selbstverständlich an sich gerissen, als rechtfertige der Katastrophenfall jedwede Intervention, und garantieren die Befriedung des drangsalierten Landes.

Washington hat nie aufgehört, ganz Lateinamerika als seinen Hinterhof zu betrachten, weshalb die Regulation der Verhältnisse in Haiti schon für sich genommen unabdingbar erscheint. Hielt man in Zeiten des Kalten Krieges die Dominotheorie vor, um dem Vordringen von Kommunismus und Revolution Einhalt zu gebieten, ist es heute der von der venezolanischen Regierung ausgehende Sozialismus des 21. Jahrhunderts, dessen Vordringen die USA verhindern wollen. Schon aus diesem Grund wird man Haiti keinesfalls seinem Schicksal überlassen, sondern offensiv am Ausbau der Verfügung arbeiten. Dazu gehört die fortgesetzte Ausbeutung haitianischer Arbeitskraft, die so billig wie die der Chinesen zu haben ist und in Sonderzonen organisiert die Profite US-amerikanischer Unternehmen befördert. Hinzu kommen vermutete Ölvorkommen, die als künftige Notreserve für die USA von großem Interesse sein könnten. Und nicht zuletzt bleibt Haiti ein riesiger Feldversuch im Dienst der Frage, mit welchen Mitteln und Maßnahmen sich Menschenmassen auf niedrigstem Niveau der Versorgung im Zaum halten lassen. Aus diesen Gründen gab die US-Regierung ihrem Truppenaufmarsch absoluten Vorrang vor allen anderen Erwägungen, bis die maßgeblichen strategischen Positionen eingenommen waren und man das Feld besetzt hatte.

Nichts könnte irreführender als die Annahme sein, die Situation in Haiti habe sich entspannt, da die Hilfe inzwischen alle Betroffenen erreiche. Auch wenn die fahrlässige oder gezielte Desinformation der tagtäglichen Berichterstattung dies glauben machen will, klafft zwischen der bislang bereitgestellten Unterstützung und dem tatsächliche Bedarf eine riesige Lücke. Nach wie vor verhungern Haitianer oder sterben an vermeidbaren Krankheiten, weil sie mehr als einen Monat nach dem ersten schweren Erdbeben vom 12. Januar noch immer keine Hilfe erreicht hat.

Nach Angaben des UN World Food Program konnten eine Million Menschen mit Lebensmitteln versorgt werden, was gleichzeitig bedeutet, daß mindestens eine weitere Million nach wie vor hungert. Der haitianische Premierminister Jean-Max Bellerive sprach von 300.000 Menschen, die bei dem Erdbeben verletzt worden seien. Berichten aus Krankenhäusern zufolge kann von einer medizinischen Versorgung aller Betroffenen bei weitem nicht die Rede sein. Eine Million Menschen sind noch immer obdachlos und ohne jeden Schutz, da die UNO bislang nur 7.000 Zelte bereitgestellt hat, während nach Einschätzung von Präsident René Preval mindestens 200.000 benötigt werden. Rund 950.000 Haitianern im Erdbebengebiet stehen nicht einmal einfachste sanitäre Anlagen zur Verfügung, was dem Ausbruch von Krankheiten Vorschub leistet. [1]

In diesem Zusammenhang gilt es zu berücksichtigen, daß in der Berichterstattung selten zwischen bloßen Zusagen und Ankündigungen auf der einen und tatsächlich erfolgten Hilfsleistungen auf der anderen Seite unterschieden wird. Auf kaum einem anderen Gebiet wird derart gelogen, verdreht, verrechnet und verschleiert, wobei sich häufig erst Jahre später herausstellt, daß nur ein Bruchteil der in Aussicht gestellten Summen oder Lieferungen bereitgestellt wurde. Auch täuschen die auf den ersten Blick ansehnlichen Beträge über die realen Verhältnisse hinweg. Beispielsweise haben die Vereinigten Staaten 379 Millionen Dollar an Hilfsgeldern für Haiti zugesagt, was umgerechnet auf alle US-Bürger nicht mehr als 1,25 Dollar pro Person ist. Aufschlußreich ist nicht zuletzt, wofür diese Gelder verwendet werden: Von jedem amerikanischen Dollar, der nach Haiti fließen soll, gehen 42 Cent an die technische Katastrophenhilfe, nicht weniger als 33 Cent an die US-Streitkräfte, 9 Cent werden für Lebensmittel und weitere 9 Cent für deren Transport aufgewendet, 5 Cent erhalten Haitianer als Entgelt für Aufräumarbeiten, ein Cent fällt für die haitianische Regierung ab und den letzten bekommt die Dominikanische Republik.

Schon vor dem Erdbeben lag das Gesundheitswesen Haitis darnieder, jetzt ist es buchstäblich pulverisiert. Rund 80 Prozent der Haitianer leben in Armut, da ihnen nicht mehr als ein Dollar pro Tag zur Verfügung steht. Obgleich es seit einem halben Jahrhundert Heilmittel für Tuberkulose gibt, sterben jedes Jahr mehr als 5.000 Menschen in Haiti an dieser Krankheit, deren Infektionsrate auf dem Vormarsch ist. Jährlich fallen 7.000 Haitianer einer HIV-Infektion zum Opfer, welche die häufigste Todesursache der 15- bis 49jährigen ist. Beide Krankheiten stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit der Armut, da die Behandlungsmöglichkeiten in reicheren Ländern ungleich besser sind. [2]

Seit Jahrzehnten wird die medizinische Versorgung der Bevölkerung in hohem Maße von ausländischen Nichtregierungsorganisationen geleistet, ohne daß es zum Aufbau eines eigenständigen Gesundheitssystems in Haiti gekommen wäre. So wichtig die Wohltätigkeit auch auf diesem Gebiet sein mag, kann sie doch eine dauerhafte und moderne medizinische Infrastruktur nicht ersetzen, die von den Haitianern selbst organisiert werden sollte. Daß ihnen Verhältnisse aufgezwungen werden, die fremden Maßgaben folgen, zeigte sich einmal mehr beim Anlaufen der Katastrophenhilfe, bei der bald von einem logistischen Alptraum und mangelnder Koordination die Rede war. War die Lage nach dem Erdbeben katastrophal, so galt das nicht minder für die Gegenläufigkeiten beim Hilfseinsatz. Beispielsweise wurden fünf Flugzeuge mit Feldlazaretten und medizinischem Personal der Organisation Ärzte ohne Grenzen in die Dominikanische Republik umgeleitet. In den USA gelang es RN Response Network, binnen einer Woche 12.000 Krankenschwestern für den Einsatz in Haiti zu verpflichten, doch dauerte es bis Anfang Februar, um sie ins Katastrophengebiet zu bringen. Aufgrund dieser und vieler anderer Verzögerungen starben zahllose Menschen, die dringend auf rasche Hilfe angewiesen waren.

Unterdessen blockierten US-Militärs den Flughafen der Hauptstadt Port-au-Prince, um ihre Truppen ins Land zu bringen oder Prominente wie Außenministerin Hillary Clinton einzufliegen, bei deren Ankunft der gesamte Flugverkehr drei Stunden lang eingestellt wurde. Niemand vermag zu sagen, wie viele Haitianer allein diese Unterbrechung der Landungen das Leben gekostet hat. Da allen Beteiligten klar sein mußte, daß die Schnelligkeit des humanitären Einsatzes wesentlich für dessen Wirkung war, zeigte diese Entwicklung zweifelsfrei, wo für Washington die Prioritäten lagen.

Auch wenn man nach dem Hurrikan "Katrina" in New Orleans und dem Erdbeben in Port-au-Prince den Eindruck bekommen könnte, die Vereinigten Staaten seien unfähig, rasch und angemessen auf derartige Katastrophen zu reagieren, trifft das keineswegs zu. Gerade die US-Streitkräfte, die in beiden Fällen ein repressives Regime zu Lasten der Opfer in Stellung brachten, verfügen über die denkbar hochentwickeltsten Mittel, um rasche ärztliche Hilfe zu leisten. In den Kriegen im Irak und in Afghanistan setzt man das Prinzip um, daß die Schnelligkeit der Versorgung Verwundeter über deren Rettung entscheidet. Inzwischen werden mobile Einheiten mit kleinen Teams von Chirurgen, Anästhesisten und weiterem medizinischen Personal in unmittelbarer Nähe der Kampfhandlungen eingesetzt, die Minihospitale errichten und sofort lebensrettende Operationen durchführen können. Sind die Patienten stabilisiert, transportiert man sie zur weiteren Behandlung in entferntere mobile Lazarette und von dort in Krankenhäuser in Kuwait, Spanien oder Deutschland. Während es im Vietnamkrieg noch 45 Tage dauerte, bis ein verwundeter Soldat schließlich in den USA eintraf, sind es heute weniger als vier. Vor allem aber ist es gelungen, eine Rate von 90 Prozent Überlebenden zu erreichen.

Wenngleich sich ein Kriegseinsatz natürlich nicht ohne weiteres mit einer humanitären Hilfsaktion nach einem schweren Erdbeben vergleichen läßt, sticht doch ins Auge, wie extrem unterschiedlich in beiden Fällen verfahren wird. Um US-Soldaten zu retten, scheut man weder Kosten noch Mühe und entwickelt eine Vorgehensweise, die unter schwierigsten Bedingungen hervorragende Resultate zeitigt. Geht es aber um das Leben schwarzer Mitbürger in den Armenvierteln des überfluteten New Orleans oder gar die Hungerleider von Haitianern, legt man völlig andere Maßstäbe an, was vordringlich getan und durchgesetzt werden muß.

Anmerkungen:

[1] 27 Days After the Quake. Haiti by the Numbers (09.02.10)
World Socialist Web Site

[2] Poverty, Profit and Disease. Haiti and Health Care (11.02.10)
World Socialist Web Site

15. Februar 2010