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LATEINAMERIKA/2357: Besatzungsmächte degradieren Haiti zum Protektorat (SB)


Die alten Räuber balgen sich um die Zurichtung der Beute


Natürlich wäre Haiti zu retten, sofern sich seine größten Ausbeuter und Marodeure - Frankreich, die Vereinigten Staaten und die kleine Elite des Landes - bereitfänden, für ihre Raubzüge einzustehen. Präsident Jean-Bertrand Aristide hatte 2004 gefordert, Frankreich solle 22 Milliarden US-Dollar als Reparationen für koloniale Ausbeutung zurückzahlen. Würde das heute geschehen und Aristide die Rückkehr in seine Heimat gestattet, hätten die Haitianer gewisse Aussichten, trotz der verheerenden Erdbebenkatastrophe gut 200 Jahre nach der Ausrufung ihrer Republik endlich eine eigenständige und unabhängige Entwicklung einzuleiten.

Jahrhunderte des Kolonialismus haben Haiti zu einem der ärmsten Länder der Welt gemacht. Die Sklaven erhoben sich 1791 und lieferten der herrschenden Klasse einen langen und blutigen Krieg. Drei Jahre später gab ihnen die französische Revolutionsregierung die Freiheit, doch bekamen sie es bald darauf mit einer napoleonischen Armee zu tun, die den früheren Zustand ihrer Unterwerfung wiederherstellen wollte. Als sie das Expeditionsheer besiegt und 1804 die Republik ausgerufen hatten, war ein Drittel der Bevölkerung in den Kämpfen umgekommen und das Land ökonomisch wie ökologisch weitgehend zerstört. Die Kolonialmächte weigerten sich, den neuen Staat anzuerkennen, und belegten ihn mit einer Blockade, bei deren Durchsetzung die USA führend waren. Der französische König Charles X. verlangte Entschädigung und erzwang 1824 mit einem Kriegsschiff die Zahlung von 150 Millionen Francs. An dieser Schuldenlast hat Haiti bis 1947 getragen. [1]

Die zweite Kolonisierung nahm ihren Lauf, als US-Präsident Wilson das Land 1915 besetzen ließ. Zwar zogen die US-amerikanischen Truppen 1934 ab, doch hielt Washington in der Folge seine schützende Hand über die Diktatur der Duvaliers, die Haiti von 1957 an fast dreißig Jahre ausplünderten. Jean-Bertrand Aristide wurde zweimal durch einen von den USA unterstützten Staatsstreich gestürzt und 2004 gewaltsam ins Exil gebracht. Die Besatzungsmächte setzten eine Marionettenregierung ein, die schließlich 2006 Präsidentschaftswahlen abhielt, aus denen René Préval, der in den neunziger Jahren Premierminister unter Aristide gewesen war, als Sieger hervorging.

Auf Drängen des IWF ließ Préval hochsubventionierten Reis aus den USA ins Land und zerstörte damit die Existenzgrundlage der einheimischen Bauern, die daraufhin massenhaft in die Städte strömten. Schon vor dem Erdbeben vom 12. Januar lebten 80 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Als die Lebensmittelpreise im Gefolge der weltweiten Nahrungskrise dramatisch stiegen, erhoben sich die Menschen 2008 in einer Hungerrevolte.

Diese Revolte künftig unter Kontrolle zu bringen und zu unterdrücken, um die äußerst billige Arbeitskraft Haitis ungestört zu verwerten, ist die Ultima ratio aller administrativen Maßnahmen, die nun unter dem Vorwand der Katastrophen- und Wiederaufbauhilfe in Stellung gebracht werden. Nach dem schweren Erdbeben übernahmen die USA kurzerhand die Führung und räumten ihrem Truppenaufmarsch oberste Priorität ein, während die Haitianer mangels Versorgung zu Zehntausenden starben. Unter den ausländischen Mächten, die ihren Zugriff zu qualifizieren trachten, herrscht Einigkeit darüber, daß Haiti als funktionsfähiger Staat auf unabsehbare Zeit ausgedient hat. Die Rede ist von einer Truppenaufstockung der US-Streitkräfte und Blauhelme auf 50.000 Soldaten und einer Art Protektorat nach dem Muster des Kosovo.

Geplant ist ein Militärregime von Besatzungskräften in Kombination mit internationalen Hilfsorganisationen, die ein Zuteilungssystem etablieren. Die ursprünglich für Ende Februar anberaumten Wahlen sind auf unbefristete Zeit ausgesetzt worden. Dabei ist Washington bestrebt, de facto die Führung des Landes an sich zu reißen. Das US-Außenministerium hat hochrangige haitianische Regierungsvertreter mit Plänen konfrontiert, eine kommissarische Verwaltung einzurichten, deren vordringliche Aufgabe die Einsetzung einer Entwicklungsbehörde ist, welche ausländische Hilfszahlungen in Milliardenhöhe für die Dauer von mindestens zehn Jahren verwalten soll. Diese Kommission soll gemeinsam von dem haitianischen Premierminister und einer international anerkannten Persönlichkeit geführt werden, wobei es sich bei letzterer offensichtlich um Bill Clinton handeln wird, der als Sondergesandter der UNO und USA in Stellung gebracht worden ist. [2]

Andere beteiligte Mächte haben vom Prinzip her nichts gegen eine Statthalterschaft einzuwenden, machen den USA jedoch die Dominanz streitig. So zieht die kanadische Regierung als Alternative einen Trust für die Hilfsgelder vor, der von der Weltbank kontrolliert wird. Wenn dabei von einem multilateralen Ansatz und einer alleinigen Verantwortung der haitianischen Regierung für den Wiederaufbau die Rede ist, geht es dabei nicht um eine unabhängige Zukunft des Landes, sondern eine Variante, die das massive Übergewicht der USA im Kontext der Fremdherrschaft beschneidet.

In diesem Zeichen stand der Besuch Nicolas Sarkozys, der als erster Präsident seines Landes die ehemalige Kolonie betreten hat, auf die Frankreich nun auf zeitgemäße Weise Ansprüche geltend macht. Er rief die haitianische Führung dazu auf, die Bedingungen für einen nationalen Konsens vorzugeben, der den Wiederaufbau zu einem nationalen Projekt macht. "Haiti den Haitianern!", forderte Sarkozy eine Konstellation, die Paris in Konkurrenz zu Washington günstigere Voraussetzungen schafft. Daher belehrte er René Préval mit den Worten, das Land dürfe nicht wieder so aufgebaut werden, wie es vorher war.

Der französische Staatschef kündigte ein Hilfspaket in Höhe von 326 Millionen Euro an, worin jene 56 Millionen enthalten sind, die Haiti seinem Land derzeit schuldet. Dieser Schuldenerlaß schaffe die Grundlage für eine engere Zusammenarbeit mit Frankreich, machte Sarkozy deutlich, welche Gegenleistung Paris erwartet. Von einer Rückerstattung jener 22 Milliarden Dollar an Haiti, wie sie Aristide einst gefordert hatte, war natürlich keine Rede mehr. Die Frage, ob sein Land angesichts der 14 Milliarden Dollar, mit denen die Kosten des Wiederaufbaus derzeit veranschlagt werden, nicht mehr als nur einen Tropfen auf den heißen Stein bereitstellen werde, wischte der französische Staatschef brüsk vom Tisch: Schließlich könne man Haiti nicht zu einer Existenz in sozialer Abhängigkeit verdammen und die Notwendigkeit abtöten, einen privaten Sektor zu entwickeln.

Die Erdbebenhilfe für Haiti steht im Mittelpunkt einer Konferenz lateinamerikanischer und karibischer Staaten, die im mexikanischen Badeort Playa del Carmen begonnen hat. Dort bat Präsident René Préval die internationale Gemeinschaft wegen der verheerenden Zerstörungen erneut um Hilfe, wobei er davon sprach, daß möglicherweise bis zu 300.000 Menschen ums Leben gekommen seien. Nach dem Beben, das die Hauptstadt Port-au-Prince und deren nähere Umgebung verwüstet hat, seien mehr als 200.000 Leichen gefunden worden. Unter den Trümmern Hunderter von Gebäuden befänden sich noch zahlreiche Tote. [3] Haiti müsse nicht nur wieder aufgebaut, sondern neu gegründet werden, wiederholte Préval jene Sprachregelung, die er schon bei früheren Gelegenheiten verwendet hat. Daß er dabei den Besatzungsmächten, die sich derselben Formel zu ihren jeweils eigenen Zwecken bedienen, ernsthaft zu widersprechen wagt, ist nicht abzusehen.

Anmerkungen:

[1] Haiti am Haken (20.02.10)

Neues Deutschland

[2] Mass protests greet Sarkozy visit to Haiti (19.02.10)
World Socialist Web Site

[3] Präsident: Haiti muss neu gegründet werden (23.02.10)
http://www.welt.de/die-welt/politik/article6513875/Praesident-Haiti- muss-neu-gegruendet-werden.html

23. Februar 2010