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LATEINAMERIKA/2364: José Mujica tritt Präsidentenamt in Uruguay an (SB)


Sozialpolitische Agenda im kapitalistischen Rahmen


Vor wenigen Tagen ist in Uruguay José "Pepe" Mujica als neuer Präsident vereidigt worden, dessen Kandidatur, Wahlsieg und Amtsantritt von Gegnern wie Befürwortern mit dem bedeutungsvollen Hinweis überfrachtet wurde, daß er in den sechziger Jahren die bewaffnete Stadtguerilla Tupamaros mitbegründet hat und in ihren Reihen aktiv war. Während die einen die Vergangenheit des 74jährigen zur Warnung instrumentalisierten, mit ihm habe sich das uruguayische Staatswesen die Laus der Rebellion an prominentester Stelle in den Pelz gesetzt, hofften die andern klammheimlich bis unverhohlen, mit ihm als Staatschef setze die Linke in Lateinamerika ihren unaufhaltsamen Siegeszug fort.

Daß reaktionären Kräften jedes Mittel der Verzerrung und Bezichtigung recht ist, um einem Politiker dieser Herkunft den Vorstoß in politische Führungskreise zu verwehren und sein Wirken an einflußreicher Position präventiv zu diskreditieren, liegt auf der Hand. Andererseits sollte auch die Genugtuung über ein weiteres Präsidentenamt in den Händen eines Mannes, der dem vom Widerstand gegen Ausbeutung und Unterdrückung geprägten Anliegen seiner Jugend niemals offen abgeschworen hat, nicht zu dem vorschnellen Urteil verleiten, damit sei fortschrittlichen Kräften in dem kleinen südamerikanischen Land Tür und Tor geöffnet. So energisch es Mujica im Konflikt mit seinen Widersachern in Kreisen der traditionellen Machteliten zu verteidigen gilt, so wenig sollte man sich solidarischer Kritik an den zweifellos vorhandenen Grenzen seines gesellschaftsverändernden Engagements enthalten.

Anfang der sechziger Jahre gehörte Mujica dem Gründungszirkel der Tupamaros an und nahm an zahlreichen Kämpfen gegen die Staatsmacht teil. Im Verlauf dieser Auseinandersetzungen wurde er einmal angeschossen und viermal verhaftet, wobei ihm sogar zweimal die Flucht aus einem Hochsicherheitsgefängnis gelang. Er mußte vierzehn Jahre im Gefängnis verbringen und befand sich während der gesamten Dauer der Militärdiktatur von 1973 bis 1985 in Gefangenschaft, wo man ihn mit Isolationshaft und Folter drangsalierte. Zu seiner Vergangenheit als Guerillakämpfer steht Mujica noch immer, wobei er es eigenen Angaben zufolge am meisten bedauert, daß es den Tupamaros nicht gelungen sei, die Diktatur mit Fußtritten zu beenden.

Erst nach dem Ende der Diktatur kam auch Mujica frei. Er schlug eine politische Laufbahn ein, war zunächst Abgeordneter, später Senator und wurde schließlich 2005 zum Landwirtschaftsminister ernannt. Im selben Jahr heiratete er Lucía Topolansky, die ebenfalls den Tupamaros angehört und im Gefängnis gesessen hatte. Sie ist heute Senatorin der größten Linksfraktion innerhalb der regierenden Breiten Front und konnte nun als Senatspräsidentin die Vereidigung ihres Mannes und langjährigen Kampfgefährten vor dem Parlament vornehmen.

José Mujica war für das linke Regierungsbündnis Frente Amplio (Breite Front) ins Rennen gegangen und hatte im ersten Wahlgang die erforderliche Mehrheit verfehlt. In der Stichwahl entfielen auf ihn rund 51 Prozent der Stimmen, während Expräsident Luis Lacalle mit nur 44 Prozent deutlich zurücklag. Im Zentrum der Hauptstadt Montevideo warnte Mujica in seiner Siegesrede vor Tausenden jubelnden Anhängern vor einer Polarisierung: "Heute ist ein Tag der Freude. Aber wir wissen auch, daß es heute Landsleute gibt, die unglücklich sind, und niemand sollte den Fehler begehen, sie zu beleidigen." Mujica tritt die Nachfolge des populären sozialistischen Präsidenten Tabare Vázquez an, der Uruguay aus dem wirtschaftlichen Abschwung herausgeführt hat.

Längst ist Mujica kein Linker im klassischen Sinn mehr, da er der Auffassung anhängt, der Kapitalismus sollte so gut wie möglich funktionieren. Er bezeichnet sich selbst als "libertären Sozialisten" und sieht es als seine größte Verpflichtung im Präsidentenamt an, die Kluft zwischen Arm und Reich zu verringern. War Uruguay einst das Land mit der ausgeglichensten Verteilung des Reichtums in ganz Lateinamerika, so vertieften die Jahrzehnte der Diktatur und der nachfolgenden neoliberalen Regierungen die Ungleichheit, so daß es zu beträchtlichen sozialen Verwerfungen kam. Mit dem früheren Wirtschaftsminister Danilo Astori hat er einen rechten Sozialdemokraten zu seinem Stellvertreter gemacht, was eine konservative Wirtschaftspolitik befürchten läßt, die ausländische Investoren ins Land locken soll. Wesentlich entschiedener als sein Vorgänger Vázquez macht sich Mujica für die Integration Lateinamerikas stark, das seiner Überzeugung nach neokolonialen Ausplünderung unterworfen bleibt, sollte der engere Zusammenschluß mißlingen.

Nach der offiziellen Zeremonie im Kongreß begab sich der Präsident zum Platz der Unabhängigkeit vor den Toren der Altstadt Montevideos, wo ihn Zehntausende Anhänger erwarteten. Als erster Staatschef in der Geschichte des Landes die Schärpe seines Vorgängers unter freiem Himmel in Empfang zu nehmen, war ein beabsichtigtes Signal der Nähe zur Bevölkerung, deren soziale Lage zu verbessern sich Mujica auf die Fahne geschrieben hat. Wenngleich die Regierung Vázquez diesbezüglich Verbesserungen herbeigeführen konnte, leben noch immer rund 20 Prozent der 3,4 Millionen Uruguayer unter der Armutsgrenze. Neben dem hochgesteckten Ziel, die Armut um 50 Prozent zu reduzieren, will der Präsident insbesondere die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Verbesserung des Zugangs zu Bildung in den Mittelpunkt seiner politischen Vorhaben in den nächsten fünf Jahren stellen. [1] Als weitere Schwerpunkte nannte Mujica die Bereiche Energie, Umwelt und Sicherheit, wobei ihm zustatten kommt, daß das Mitte-Links-Bündnis Frente Amplio in beiden Kammern des Kongresses über eine Mehrheit verfügt und damit die Vorhaben der Regierung maßgeblich unterstützen kann. [2]

Einmal mehr trat José Mujica als Verfechter der regionalen Integration in Erscheinung, als er mit Blick auf seine künftige Außenpolitik das Bekenntnis zum Mercosur erneuerte. Zur Amtseinführung waren zahlreiche lateinamerikanische Staatschefs nach Montevideo gekommen, darunter Luiz Inácio Lula da Silva und Cristina Fernández de Kirchner aus den unmittelbaren Nachbarländern Brasilien und Argentinien, Fernando Lugo für das Mercosur-Mitglied Paraguay sowie Hugo Chávez aus Venezuela, Evo Morales aus Bolivien, Rafael Correa aus Ecuador und Álvaro Uribe aus Kolumbien.

Zugegen war ferner US-Außenministerin Hillary Clinton, die Uruguay zur ersten Station ihrer Rundreise durch sechs lateinamerikanische Länder gemacht hatte. José Mujica ist angesichts seiner Vergangenheit, Popularität und sozialen Agenda gewiß kein Wunschkandidat Washingtons, aber aus dieser Perspektive auch kein ausgemachter politischer Rückschlag, sofern er die Linie seines Vorgängers Tabare Vázquez wie angekündigt ohne einschneidende Änderungen fortsetzt. Dieser hatte sein Amt zwar als erster Staatschef der Linken in der Geschichte des Landes angetreten, jedoch einen Kurs ganz im Rahmen kapitalistischer Verwertung mit flankierenden sozialpolitischen Puffern angelegt. Sorgen könnte sich die US-Regierung allerdings mit Blick auf die außenpolitische Ausrichtung des neuen Präsidenten machen: Die Vision der Einheit Lateinamerikas impliziert die Abkehr von der Hegemonialmacht USA und könnte Mujica enger an Bündnispartner heranführen, die im Lichte US-amerikanischer Verfügungsinteressen bekanntlich ein rotes Tuch sind.

Anmerkungen:

[1] "Pepe" Mujica als neuer Präsident von Uruguay vereidigt (03.03.10)
junge Welt

[2] Die Visionen von "El Pepe". José Mujica als neuer Präsident Uruguays ins Amt eingeschworen (03.03.10)
Neues Deutschland

5. März 2010