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LATEINAMERIKA/2379: Regierung Brasiliens erzwingt Staudammprojekt Belo Monte (SB)


Drittgrößtes Wasserkraftwerk der Welt gilt als ökologische Katastrophe


Am Rio Xingu im Bundesstaat Pará, einem Nebenfluß des Amazonas, soll nach dem Willen der brasilianischen Regierung das weltweit drittgrößte Wasserkraftwerk errichtet werden. Für das Staubecken des geplanten Kraftwerks Belo Monte, dessen Kosten mit umgerechnet etwa 8,5 Milliarden Euro beziffert werden, sollen mehr als 500 Quadratkilometer Waldfläche überflutet und vermutlich über 20.000 Menschen umgesiedelt werden. Belo Monte würde in der ersten Phase 2015 in Betrieb gehen und mit einer Leistungskapazität von über 11.000 Megawatt nach dem Drei-Schluchten-Staudamm in China und dem Itaipu-Werk an der Grenze Brasiliens zu Paraguay an dritter Stelle rangieren. [1]

Der Staudamm von Belo Monte soll künftig 6 Prozent des brasilianischen Strombedarfs decken und damit zum Wirtschaftswachstum beitragen. Während die Regierung das Wasserkraftwerk für unverzichtbar zur Sicherung der Energieversorgung erklärt, laufen die am Xingu lebenden Ureinwohner, unterstützt von Umweltschützern, Menschenrechtlern und der katholischen Kirche, gegen das Projekt Sturm. Sie sehen ihre Lebensgrundlagen massiv bedroht und befürchten unkalkulierbare Auswirkungen auf die Umwelt. Nun hat das umstrittene Jahrhundertprojekt im Amazonasgebiet eine weitere Hürde genommen, wobei die Kritik an dem gigantischen Eingriff an Intensität zunimmt.

Ungeachtet massiver Proteste und nach erbittertem juristischen Tauziehen ist es der Regierung gelungen, die Konzession für den Bau und Betrieb das Milliardenprojekts an das Konsortium "Norte Energia" zu vergeben, dem insgesamt acht Unternehmen angehören. Das siegreiche Angebot lag mit einem Lieferpreis von 78 Reais pro Megawattstunde deutlich unter der von der Regierung festgesetzten Obergrenze von 83 Reais und der Offerte eines zweiten Konsortiums. [2]

Zwischen der Zentral- und der Regionalregierung herrscht aufgrund des Vorhabens eine seit Monaten anhaltende Kontroverse. Anfang Februar war die vorläufige Umweltgenehmigung mit Auflagen erteilt worden. Das Justizministerium des Bundesstaates hatte das Staudammprojekt jedoch unter anderem als "Affront gegen Umweltgesetze" zurückgewiesen, da die Regionalregierung Auswirkungen auf die Tier- und Pflanzenwelt befürchtet. Bis zuletzt war die Entscheidung durch mehrere Einstweilige Verfügungen verzögert worden. Allein in den letzten sieben Tagen wurde das Bieterverfahren dreimal durch Entscheidungen eines regionalen Gerichts vorübergehend blockiert, das Klagen gegen das Projekt für stichhaltig erachtete. Wie der zuständige Richter befand, würden Indianergebiete in der Region beeinträchtigt, wofür gemäß der Verfassung besondere rechtliche Grundlagen erforderlich seien. Insbesondere aber seien die Auswirkungen des Kraftwerks auf die Umwelt ungenügend abgeklärt. Die Einstweiligen Verfügungen wurden umgehend von einer höheren Instanz wieder aufgehoben, wobei an den Entgegnungen der Zentralregierung mehr als hundert Anwälte mitgearbeitet haben sollen. Wie man sich denken kann, ist ein juristisches Nachspiel auch jetzt so gut wie sicher.

In der Hauptstadt Brasília kam es wie schon in den vergangenen Wochen zu einer Protestkundgebung vor dem Sitz der staatlichen Energiebehörde Aneel, wobei diesmal von 350 Polizisten eingekesselte Aktivisten von Greenpeace gegen das Kraftwerk zu Felde zogen. Unterdessen blockierten Arbeiter und Bauern unweit der Stadt Altamira am Rio Xingu einen Abschnitt der Transamazônica, während verschiedene indígene Gruppen weitere Aktionen ankündigten. Sie wollen unter anderem eine Insel im Fluß besetzen.

Das Mammutprojekt stößt auch international zusehends auf Kritik, da Gegner des Vorhabens unwiderrufliche Schäden für die Region befürchten. Schon während der Bauarbeiten ist mit einer massiven Zuwanderung zu rechnen, die das gesamte Gebiet von Grund auf verändert. Welche Folgen die teilweise Umleitung des Rio Xingu und die Absenkung des ursprünglichen Flußlaufs hätten, ist überhaupt nicht abzusehen. Nichtregierungsorganisationen werfen der brasilianischen Regierung vor, mit dem Bau des Staudamms die Menschenrechte zu verletzen, da eine ganze Reihe von Indianersiedlungen am Fluß, die vom Fischfang leben, in ihrer Existenz bedroht wären. Die beteiligten NGOs haben bereits Beschwerde bei den Vereinten Nationen eingelegt.

Wie sich immer deutlicher abzeichnet, liegen der Umsetzung des Vorhabens auch in wirtschaftlicher Hinsicht fragwürdige Annahmen zugrunde. Zweifellos würden die Baukosten bei diesem Großprojekt die veranschlagte Summe bei weitem übersteigen, da aller Erfahrung nach mit unrealistischen Zahlen hantiert wird und die beteiligten Unternehmen davon ausgehen können, daß es später kein Zurück mehr geben wird, selbst wenn der finanzielle Aufwand astronomische Dimensionen erreicht. Auch ist damit zu rechnen, daß die maximale Kapazität von 11.000 Megawatt nur während der Regenzeit erreicht werden kann, weshalb die durchschnittliche Leistung über das ganze Jahr hindurch gerechnet auf lediglich rund 4.500 Megawatt geschätzt wird. Besorgniserregend ist nicht zuletzt, daß die Obergrenze des zugrundegelegten Energiepreises unrealistisch sein dürfte. Aus diesem Grund hatte sich ein Konsortium um die brasilianischen Bauriesen Odebrecht und Camargo Corrêa schon vor dem Bieterverfahren wieder zurückgezogen. Selbst das siegreiche Konsortium Norte Energia scheint aus diesem Grund zu wanken, da bereits eine beteiligte Baufirma ihren Austritt angekündigt hat.

Nur massive staatliche Subventionen können gewährleisten, daß sich Bau und Betrieb des Wasserkraftwerks für die Betreiber dennoch lohnen. Die staatliche Entwicklungsbank, die bis zu 80 Prozent der Baukosten finanzieren dürfte, gewährt günstige Kredite. Zudem sollen dem Kraftwerk nach seiner Inbetriebnahme für die Dauer von 15 Jahren die Steuern zu 75 Prozent erlassen werden. Ferner ist nicht ausgeschlossen, daß sich später verschiedene Rentenfonds von Staatsbetrieben am Konsortium beteiligen. Ohnehin beteiligt sich der Staat über ein Tochterunternehmen der staatlichen Eletrobras mit 49,9 Prozent an dem Projekt.

Da die Pläne für Belo Monte bereits seit über 30 Jahren existieren, aber angesichts der Größe des Vorhabens und nicht zuletzt des wachsenden Umweltbewußtseins immer wieder zurückgestellt wurden, deutet die Vehemenz, mit der die Regierung das Vorhaben nun durchzudrücken versucht, auf einen aktuellen politischen Hintergrund hin. Das Projekt ist Teil des staatlichen Infrastrukturprogramms PAC (Programa de Aceleração do Crescimento), in dem allein für Belo Monte rund acht Milliarden Euro veranschlagt sind. Der scheidende Präsident Luiz Inácio Lula da Silva will das Wasserkraftwerk, das zu den zentralen Projekte des staatlichen Wachstumsprogramms gehört, seiner Wunschnachfolgerin Dilma Rousseff, die bei den Wahlen im Oktober für die regierende Arbeiterpartei um das höchste Staatsamt kandidiert, mit auf den Weg geben.

Der Präsident hatte die letzten Einwände gegen das Bieterverfahren mit harschen Worten kritisiert. Niemand habe mehr Interesse, den Amazonas und seine indígenen Völker zu schützen, als Brasilien selbst. Zwanzig Jahre lang sei im Zusammenhang mit Belo Monte alles verboten worden, und jetzt tauchten NGOs aus der ganzen Welt auf, um gegen den Damm zu protestieren. "Die brauchen wir hier nicht. Wir haben das Projekt mehrfach geprüft und letzten Endes nur ein Drittel des ursprünglichen Planes umgesetzt", erklärte der Staatschef. [3]

Aufschlußreich ist die Argumentation des Bundesregionalgerichts in Brasília, das auf Antrag der Regierung das letzte Urteil des Bundesgerichts in Altamira im Bundesstaat Pará aufgehoben hat. Wie der zuständige Richter urteilte, bestehe keine unmittelbare Bedrohung für die indígenen Gemeinden, da die Ausschreibung nicht unmittelbar den Bau des Staudamms zur Folge habe. Wollte man das Projekt stoppen, würde die Wirtschaft Schaden erleiden, da Brasilien in diesem Fall andere Energieformen suchen müßte, die teurer und umweltschädlicher seien. Wie das Gericht scheinheilig erklärt, gehe es derzeit doch nur um die Ausschreibung, die für sich genommen keine Gefahr darstelle. Diese Sichtweise ist absurd, zumal es in der Begründung weiter heißt, das Projekt aufzuhalten, wäre mit erheblichen Nachteilen verbunden, womit die aktuelle Etappe durchaus im Kontext des gesamten Projekts bewertet wird.

Daß das Projekt voll und ganz zu ihren Lasten geht, indem es ihre Lebensgrundlagen vernichtet, wissen die betroffenen indígenen Völker am Rio Xingu nur zu gut. Bei einer Zusammenkunft von Anführern aus dreizehn Stämmen faßte man vor wenigen Wochen den außergewöhnlichen Beschluß, einen gemeinsamen Stamm von rund 2.500 Menschen zu bilden, der sich direkt am Ort der geplanten Baustelle ansiedelt und diesen notfalls auf Jahre hinaus blockiert. Damit wäre eine unmittelbare Konfrontation mit den Unternehmen und Behördenvertretern absehbar, welche die akut bedrohten Völker in Verteidigung ihrer Rechte und Interessen nicht mehr ausschließen. Sollte der Staudamm errichtet werden, trocknet der Xingu auf einer Länge von etwa 100 Kilometern aus. Für die Urvölker, die sich vom Fluß ernähren und auf ihm fortbewegen, wäre das nicht nur das Ende ihrer angestammten Lebensweise, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit ihrer Existenz an sich. [4]

Brasilien, das derzeit seinen Energiebedarf zu über 80 Prozent aus Wasserkraft deckt, will sich zusätzliche Energiequellen in Gestalt weiterer Staudammprojekte verschaffen. Während diese die betroffene Region und ihre Bewohner massiv beeinträchtigen, profitieren weit entfernte industrielle Zentren und Großstädte wie São Paulo und Rio de Janeiro von dem gelieferten Strom. Dies gilt um so mehr, als sich die brasilianische Wirtschaft sehr schnell von den Folgen der globalen Systemkrise des Kapitalismus zu erholen scheint und Energiesicherheit auf einem höheren Niveau einfordert. Obgleich Wasserkraft in einem Land wie Brasilien mit seinem riesigen Amazonasgebiet wie die sicherste Energiequelle erscheinen mag, ist das Gegenteil der Fall. Bleiben Niederschläge aus, wie das in der jüngeren Vergangenheit mehrfach der Fall war und im Gefolge des Klimawandels künftig verstärkt eintreten wird, sinkt der Wasserstand der Flüsse dramatisch, wobei nicht wenige Experten sogar eine Versteppung des östlichen Amazonasgebiets binnen kurzer Fristen befürchten.

Belo Monte wurde zu einer Zeit konzipiert, als den Großmachtträumen der brasilianischen Militärjunta keine Grenzen gesetzt zu sein schienen. Damals existierten die Belange eines empfindlichen Ökosystems oder die Überlebensinteressen der dort lebenden Ureinwohner für die Eliten des Landes schlichtweg nicht, die mit Waffengewalt und Sicherheitsapparat jedwede Widerstände aus dem Weg zu räumen pflegten. Als 1988 die neue Verfassung ratifiziert wurde, schrieb man darin auch den Schutz der indígenen Völker fest, die damit erstmals eine gewisse Rechtssicherheit gegen die Vernichtung ihrer Existenzweise erhielten. Während die meisten Staudammprojekte im Amazonasgebiet vor diesem Zeitpunkt auf den Weg gebracht wurden, muß die Regierung heute beim Versuch, eine Minderheit den vorgehaltenen nationalen Interessen zu opfern, mit erheblich wirksamerem Widerstand rechnen.

Anmerkungen:

[1] Proteste gegen Mega-Kraftwerk im Amazonas-Gebiet. Für das Staubecken sollen 20.000 Menschen umgesiedelt werden (22.04.10)
http://derstandard.at/1271374934168/Proteste-gegen-Mega-Kraftwerk-im-Amazonas-Gebiet

[2] Kontroverse um Riesen-Kraftwerk. Die Vergabe des Staudammprojekts Belo Monte in Brasilien ist abgeschlossen (22.04.10)
http://www.nzz.ch/nachrichten/international/kontroverse_um_riesen-kraftwerk_1.5504300.html

[3] Lulas Einspruch. Brasiliens Regierung setzt Ausschreibung des Belo-Monte-Projekts durch (19.04.10)
junge Welt

[4] Amazon Dam Project Pits Economic Benefit Against Protection of Indigenous Lands (16.04.10)
New York Times

22. April 2010