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LATEINAMERIKA/2383: Weitere Verfahren gegen Jorge Videla eröffnet (SB)


Früherer Juntachef in Buenos Aires unter Mordanklage gestellt


Während der Militärdiktatur in Argentinien (1976 bis 1983) wurden nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen rund 30.000 Menschen ermordet, wobei man viele Opfer nie fand, da sie ins Meer geworfen oder an unbekanntem Ort verscharrt worden waren. An der Spitze der Junta stand von 1976 bis März 1981 General Jorge Rafael Videla, der zugleich Staatschef war. Er wurde 1985 wegen der unter seiner Führung verübten Greueltaten zu lebenslanger Haft verurteilt, fünf Jahre später jedoch vom damaligen Präsidenten Carlos Menem begnadigt. Diese Begnadigung hat das argentinische Verfassungsgericht vor einer Woche in letzter Instanz für verfassungswidrig erklärt. Der 83jährige Videla sitzt derzeit wegen verschiedener Verbrechen in einer Militärkaserne bei Buenos Aires eine Haftstrafe ab. Nun muß er sich auf Anordnung des Bundesrichters Daniel Rafecas auch wegen der Ermordung von 40 Menschen, unter ihnen ein Deutscher, vor Gericht verantworten.

Diese 40 Menschen, deren Ermordung Videlas Militärregime angelastet wird, waren größtenteils anonym auf Friedhöfen in Buenos Aires begraben worden. Rechtsmedizinern ist es jedoch in jüngerer Zeit gelungen, die meisten Opfer zu identifizieren. Wie aus Justizkreisen in der Hauptstadt verlautete, befindet sich darunter auch der Deutsche Rolf Stawowiok. Er war 1978 im Alter von 20 Jahren verschleppt, ermordet und in einem Grab ohne Namen beigesetzt worden. Seine inzwischen identifizierte Leiche wies Spuren einer Exekution auf. Stawowiok wurde in Argentinien geboren, besaß aber einen deutschen Paß. Seine Angehörigen vermuten, daß er fälschlicherweise für ein Mitglied der Stadtguerilla in Buenos Aires gehalten wurde. Der Chemiker habe jedoch weder den Monteneros angehört, noch sei er irgendeiner geheimen Tätigkeit nachgegangen. [1]

Die Nürnberger Justiz hatte schon zu einem früheren Zeitpunkt wegen des Mordes an dem Münchner Studenten Klaus Zieschank 1976 und der Tübinger Soziologin Elisabeth Käsemann 1977 in Argentinien gegen Videla ermittelt. Im Jahr 2003 erwirkte die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth in zwei Fällen Haftbefehle gegen Jorge Videla, Emilio Massera und einen General des ersten Heereskorps. Sie mußte jedoch die Ermittlungen in den Fällen der deutschen Staatsbürger Adriana Marcus und Rolf Stawowiok 2004 einstellen, da die Tatbestände verjährt waren. Wenngleich außer Frage stand, daß sie ermordet worden waren, gab es damals keinen Beweis, da die Leichen verschwunden blieben.

Nachdem es jedoch gelungen war, die sterblichen Überreste Stawowioks zu identifizieren und damit sein Schicksal rechtswirksam aufzuklären, nahm die Justiz Ende vergangenen Jahres das Strafverfahren gegen den früheren Juntachef und andere führende Vertreter des Regimes wieder auf. Sie wirft Videla Mord aus niederen Beweggründen vor, da er versucht habe, die Verschleppung von Oppositionellen zu vertuschen. Im Januar erließ Deutschland einen internationalen Haftbefehl gegen Videla. Die aktuelle Anklageerhebung durch den Bundesrichter in Buenos Aires blockiert jedoch faktisch die Auslieferung. [2]

In Deutschland hatte sich Ende der 1990er Jahre die "Koalition gegen die Straflosigkeit" aus Menschenrechtsorganisationen und kirchlichen Gruppen gegründet, deren Ziel es ist, gemeinsam mit den deutschen Familien die Mörder vor Gericht zu bringen. Die "Koalition" erhob den Vorwurf gegen die Regierung des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt, sie habe Wirtschaftsinteressen über die Menschenrechte gestellt. Zu den wichtigsten Lieferanten der argentinischen Militärdiktatur gehörte die deutsche Rüstungsindustrie, deren Aufträge nicht gefährdet werden sollten.

Auch Amnesty International und andere Menschenrechtsorganisationen, die in Deutschland die Greueltaten der argentinischen Junta angeprangert haben, warfen seinerzeit der Regierung Schmidts vor, zu wenig für die deutschen Gefangenen zu tun. So hatte man nach dem Putsch Pinochets 1973 in Chile Staatsminister Hans-Jürgen Wischnewski nach Santiago geschickt, um deutsche Gefangene freizubekommen, was diesem auch gelang. In Buenos Aires gehörte der Kontaktmann für die deutschen Familien in der Botschaft jedoch dem argentinischen Geheimdienst an, so daß die Bemühungen der Angehörigen im Sande verliefen.

Jorge Videla stehen mehrere Prozesse bevor. So wird ihm auch vorgeworfen, daß er 33 Kinder von Oppositionellen verschleppen und 32 politische Häftlinge foltern und ermorden ließ. Des weiteren wird gegen ihn wegen Beteiligung an der sogenannten Operation Condor ermittelt, in deren Rahmen die Diktaturen von Argentinien, Chile, Paraguay, Uruguay, Brasilien und Bolivien zusammen mit der CIA ihre Gegner länderübergreifend verfolgten und umbrachten.

Von den vier ehemaligen Führern der Junta lebt außer dem 84jährigen Jorge Videla nur noch der 82 Jahre alte General Reynaldo Benito Bignone. Als Leopoldo Galtieri wegen der Niederlage Argentiniens im Krieg um die Malvinas gegen Großbritannien zurückgetreten war, folgte ihm Bignone am 1. Juli 1982 an der Spitze der Militärjunta nach. Als Staatschef erließ er eine Amnestie für alle Fälle von Menschenrechtsverstößen und ordnete die Vernichtung von Unterlagen an, die Hinweise auf Folter und das "Verschwindenlassen" von politischen Gegnern der Militärdiktatur enthielten.

Vor wenigen Tagen ist Reynaldo Bignone von einem Bundesgericht in San Martín, einem Vorort der Hauptstadt Buenos Aires, wegen schweren Menschenrechtsverletzungen zu 25 Jahren Haft verurteilt worden. Ihm wurden Folter, Entführung und Freiheitsberaubung in 56 Fällen zur Last gelegt, wobei sich die Anklage in erster Linie auf das Folterzentrum im Militärstützpunkt Campo de Mayo bezog. Es gehörte zu den größten geheimen Gefangenenlagern, das die argentinischen Streitkräfte unter der Herrschaft der Junta betrieben haben. In dieses Lager wurden nach Angaben von Menschenrechtsgruppen rund 4.000 Regimegegner eingeliefert, von denen nur fünfzig überlebten. Bignone war zwischen 1976 und 1978 stellvertretender Kommandant der Militärbasis. Mit ihm wurden weitere fünf führende Vertreter der Militärdiktatur zu Haftstrafen zwischen 17 und 25 Jahren verurteilt, unter ihnen die Generäle Santiago Omar Rivero und Fernando Ezequiel Verplaetsen. Auch entschied das Gericht, daß Bignone und seine ebenfalls über 80 Jahre alten Mitangeklagten ihre Strafe im Gefängnis absitzen müssen und nicht unter Hausarrest.

Seit die argentinische Regierung unter Präsident Néstor Kirchner 2003 die Amnestie außer Kraft gesetzt und der Oberste Gerichtshof dies später bestätigt hat, ist es möglich geworden, die Täter und politisch Verantwortlichen auch im Lande selbst zur Verantwortung zu ziehen. Einige von ihnen wurden in Einzelprozessen verurteilt, manche von ihnen im Ausland. Im Dezember 2009 eröffnete das Strafgericht in Buenos Aires zwei Großverfahren gegen Angehörige des ersten Heereskorps, das für eine ganze Reihe geheimer Haftzentren in der Hauptstadt verantwortlich war, und gegen die Schergen der Ingenieursschule ESMA, des größten Folterzentrums des Landes, das der Marine unterstand.

Damit begann auch der Prozeß gegen den als "Todesengel" berüchtigten früheren Offizier Alfredo Astiz sowie 18 weitere ehemalige Marineangehörige, in der ESMA ihr Unwesen getrieben hatten. Ein argentinisches Gericht hatte ihn nach dem Ende der Militärherrschaft für schuldig befunden, doch profitierte er wie viele andere in den späten 1980er Jahren von dem Amnestiegesetz. Alfredo Astiz kam nach Angaben der Staatsanwaltschaft eine Schlüsselrolle bei der Verfolgung linksgerichteter Dissidenten und mutmaßlicher Sympathisanten zu. In der "Escuela Mecánica de la Armada" wurden mehr als 5.000 Menschen über Monate, manche sogar jahrelang von berüchtigten Schergen der Diktatur wie dem "Todesengel" oder Jorge Acosta, genannt "der Tiger", und deren Helfershelfern gefangengehalten und gequält. In der ESMA überlebten nur fünf Prozent der Gefangenen. Im ganzen Land existierten Hunderte solcher Folterstätten. Wer für den Geheimdienst keinen Wert mehr hatte, wurde erschossen oder betäubt und aus einem Flugzeug ins Meer geworfen.

Astiz wurde 1990 in Frankreich in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt, und ein italienisches Gericht sprach 2007 ebenfalls eine lebenslange Gefängnisstrafe gegen ihn aus. Der Oberste Gerichtshof Argentiniens schuf mit seiner Entscheidung, die Amnestie für nichtig zu erklären, die Voraussetzungen dafür, daß insgesamt 358 Beschuldigten der Prozeß wegen Verbrechen während der Juntazeit gemacht werden kann. Dabei muß sich der "Todesengel", dessen Verfahren wegen Krankheit des Angeklagten zweimal verschoben worden war, wegen der Verschleppung und Ermordung zweier französischer Nonnen und Dutzender Oppositioneller zur Zeit der Militärdiktatur verantworten.

Während etliche Führer und Schergen der argentinischen Militärdiktatur am Ende doch noch zur Rechenschaft gezogen werden, bleiben die ausländischen Hintermänner und Kollaborateure der Junta unbehelligt. So sind die Versuche mehr oder minder gescheitert, beispielsweise die Entführung und Ermordung von Betriebsräten und Gewerkschaftern im Auftrag regionaler Niederlassungen von Konzernen mit Stammsitz in Europa oder den USA vor Gericht zu bringen. Noch weniger steht zu erwarten, daß die Beteiligung von CIA und US-Administration oder der deutschen Bundesregierung an dem Regime jemals juristisch aufgearbeitet wird.

In der offiziell kommunizierten Erinnerung mündet die Rückkehr zur Demokratie in eine geradezu mythische Verklärung, die den Herrschaftscharakter der demokratischen Zivilgesellschaft ausblendet, indem sie ihr die Diktatur nicht als Variante perspektivisch gesicherten Machterhalts, sondern als angeblich wesensfremdem Schrecken aus einer überwundenen Vergangenheit gegenübergestellt. Nur so läßt sich die Rückkehr zur guten Ordnung und deren innovative Verdichtung als Befreiungsschlag feiern.

Anmerkungen:

[1] Argentinien. Ex-Diktator wegen Mordes vor Gericht (03.05.10)
http://www.focus.de/politik/ausland/argentinien-ex-diktator-wegen-mordes-vor-gericht-_aid_504614.html

[2] Auslieferung von Ex-Diktator blockiert (03.05.10)
http://www.br-online.de/studio-franken/aktuelles-aus-franken/ex-junta-chef--jorge-rafael-videla-2010-kw18-ID1264182173363.xml

4. Mai 2010