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LATEINAMERIKA/2400: Auf Druck der USA - "Antidrogenkrieg" in Kingston (SB)


Jamaikaner Christopher Coke an die USA ausgeliefert


Wenn die US-Behörden die Auslieferung des Jamaikaners Christopher Coke erzwingen und damit eine Dynamik eskalierender Auseinandersetzungen auslösen, folgt dies dem sattsam bekannten Muster des proklamierten "Antidrogenkriegs". Dieser liefert den Vorwand für eine Intervention, die im aktuellen Fall sowohl dem verstärkten Zugriff auf das karibische Commonwealth-Land, als auch der Zerschlagung autonomer Strukturen in den Armenvierteln von Kingston dient. Quartiere wie Tivoli Gardens, das von den Sicherheitskräften in mehrtägigen Kämpfen zurückerobert wurde, haben eine informelle Ökonomie, soziale Versorgung und nicht zuletzt waffengestützte Wehrhaftigkeit herausgebildet, die den Staat schlichtweg ausgrenzt und damit den herrschenden gesellschaftlichen Umgang mit Armut gegen sich selber kehrt. Obgleich es sich um keinen Ansatz gesellschaftspolitisch abgeleiteter Umwälzung mit einer übergreifenden Zielsetzung, sondern eher um eine spezifische Form des Klientelismus handelt, birgt sie doch offensichtlich so viel Sprengkraft, daß man ihr nun den Krieg erklärt hat.

Die US-Justiz zähle Christopher "Dudus" Coke zu den weltweit gefährlichsten Drogenbossen, doch für seine Anhänger in dem Armenviertel Tivoli Gardens der jamaikanischen Hauptstadt Kingston sei er ein moderner Robin Hood. Diese oder ähnlich formulierte Widerspruchslagen geistern derzeit durch sämtliche Berichte über die Festnahme und Auslieferung des in den zurückliegenden Wochen meistgesuchten Mannes auf der Karibikinsel, dem nun in New York der Prozeß gemacht wird. Vor seinem Abflug hatte Coke in seiner ersten öffentlichen Stellungnahme seit fast einem Jahr seine Überstellung an die USA kommentiert. [1]

Nach Berichten jamaikanischer Zeitungen hatte der 41jährige auf sein Recht auf ein Verfahren in Jamaika verzichtet und in Anwesenheit seiner Anwälte in einem Gericht in Kingston eine entsprechende Erklärung unterschrieben. Wie es in einer später von seinen Anwälten veröffentlichten Erklärung hieß, wisse er, daß ihn in New York ein Prozeß erwartet. Seine Auslieferung sei das beste für seine Familie, die Bewohner des Kingstoner Stadtteils Tivoli Gardens und Jamaika. Er bedauere die vielen Toten zutiefst und hoffe, daß seine Entscheidung der Nation den Heilungsprozeß ermögliche. "Betet für mich. Gott schütze Jamaika", ließ der Bandenchef erklären. [2]

Das US-Justizministerium legt ihm zur Last, seit 1990 einen international operierenden Drogenring namens The Shower Posse anzuführen, der laut US-Ermittlern Marihuana und Crack vor allem in den Großraum New York liefert. Die USA hatten bereits im August vergangenen Jahres seine Auslieferung mit der Begründung beantragt, er werde wegen Verschwörung zum Drogen- und Waffenschmuggel gesucht. Die jamaikanische Regierung zögerte jedoch monatelang mit der Ausstellung eines Haftbefehls. Dies führte zur einer politische Krise, da das Außenministerium in Washington dem jamaikanischen Premierminister Bruce Golding vorwarf, dessen Verbindungen zu Coke seien der Grund für die Hinhaltetaktik. Als Ende Mai schließlich die Fahndung eingeleitet wurde, kam es beim Angriff der Sicherheitskräfte auf den Stadtteil Tivoli Gardens zu einem Massaker, dem 73 Zivilisten zum Opfer fielen.

Trotz wochenlanger fieberhafter Suche war es den Behörden zunächst nicht gelungen, des Gesuchten habhaft zu werden. Erst am Dienstag wurde "Dudus", wie ihn seine Gefolgschaft nennt, bei einer Polizeikontrolle im Großraum von Kingston festgenommen. Zwei Tage nach seiner Festnahme auf der Karibikinsel erfolgte die Auslieferung an die USA. Am Donnerstag traf er mit einem Flugzeug aus der jamaikanischen Hauptstadt kommend auf einem kleinen Flughafen in Westchester County nördlich von New York ein. An den Händen gefesselt wurde er dort Beamten der Anti-Drogenbehörde DEA übergeben. Bei seiner Anhörung vor dem Haftrichter gab er sich zuversichtlich, daß seine Unschuld bald erwiesen werde und er dann zu seiner Familie nach Jamaika zurückkehren könne. Heute wird er einem Richter vor einem Bundesgericht in Manhattan vorgeführt. Coke muß sich demnächst vor einem US-Gericht verantworten, wobei ihm im Fall eines Schuldspruchs lebenslange Haft droht. [3]

Wegen seiner Auslieferung war es in Kingston zu Demonstrationen und erneuten Unruhen gekommen. Die Sicherheitskräfte wurden in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Nach der gescheiterten Festnahme im Mai galt in Teilen Kingstons ohnehin eine Ausgangssperre, die nun verschärft wurde. Die jamaikanische Regierung kündigte an, auch nach Cokes Überstellung an die USA weiter gegen Banden vorgehen zu wollen. Polizeisprecher Owen Ellington rief die Freunde und Familie Cokes auf, Ruhe zu bewahren und das Gesetz walten zu lassen

Während nach ihm gefahndet wurde, schossen die Gerüchte über seinen mutmaßlichen Aufenthalt ins Kraut. Als es hieß, er verstecke sich auf der anderen Seite der Insel, weiteten die Behörden ihre Suche aus. Dann hieß es plötzlich, er habe Jamaika längst mit einem Boot verlassen, weshalb die intensive Menschenjagd völlig nutzlos sei. Soweit bislang bekannt, wechselte Coke auf seiner Flucht immer wieder seinen Aufenthaltsort und veränderte häufig sein Aussehen, wofür er sich den Bart abrasierte und verschiedene Perücken und Kleidungsstücke benutzte. [4]

An einem Kontrollposten erkannten die Sicherheitskräfte den 41jährigen, obwohl dieser zur Tarnung eine Perücke trug. Gesteuert wurde das Fahrzeug von dem populären Geistlichen Reverend Al Miller, der vor kurzem auch die Festnahme von Cokes Schwester und Bruder als Vermittler ausgehandelt hatte. Wie Miller mitteilte, befanden sie sich auf dem Weg zur US-Botschaft in Kingston, wo sich Coke stellen wollte. Nach Angaben der Polizei hatte man das Fahrzeug bereits mehrere Stunden observiert, jedoch einen Zugriff vermieden, da zwei weitere Autos mit bewaffneten Männern Geleitschutz gaben. Millers Erklärung, man habe die Übergabe mit der Botschaft vereinbart, klingt durchaus plausibel. Cokes Vater "Jim Brown" war 1992 kurz vor seiner Auslieferung an die USA bei einem mysteriösen Brand in seiner jamaikanischen Gefängniszelle gestorben. Obwohl der Fall nie aufklärt wurde, geht man davon aus, daß es sich um einen Mordanschlag gegen den einflußreichen Don gehandelt hat, der über Verbindungen zu hochrangigen Politikern verfügte.

"Dudus" hatte seinen mutmaßlichen Reichtum nie zur Schau gestellt, sondern die Öffentlichkeit gemieden. Bis zu seiner Verhaftung sagten selbst die Besitzer von Restaurants und Hotels in Tivoli Gardens, sie würden ihn nicht erkennen, wenn er zur Tür hereinkäme. Senator Tom Tavares Finson, der ihn noch vor kurzem als Anwalt vertreten hatte, beschrieb Coke unlängst in der Zeitung "Jamaica Observer" als rechtschaffenen Geschäftsmann, der die "Transformation einer von Kriminalität und Gewalt durchsetzten Gesellschaft in einen Ort gemanagt hat, wo Menschen Geld verdienen können". Zweifellos hat "Dudus" Coke in seinem Einflußbereich für Sicherheit, soziale Versorgung und Arbeitsmöglichkeiten gesorgt, wie sie staatlicherseits in den Armenvierteln Kingstons nie vorhanden waren. Dank seiner Beziehungen zu Regierungskreisen schöpfte er dazu auch Gelder aus öffentlichen Aufträgen ab, wobei er insbesondere Geschäfte im Bauwesen machte. [5]

Seit der Stadtteil Tivoli Gardens von dem späteren Premierminister Edward Seaga 1965 errichtet worden war, galt er durchweg als Hochburg der Jamaica Labor Party, der auch der aktuelle Regierungschef Golding angehört. Mit der Fahndung nach Christopher Coke hat dieser erstmals seit Menschengedenken zum Angriff auf den eigenen Wahlbezirk geblasen und damit den traditionellen Pakt der Parteien mit bestimmten Dons aufgekündigt. Als "Jim Brown" Coke 1992 zu Grabe getragen wurde, führte Seaga die Prozession an, was die enge Verflechtung von Parteipolitik und lokalen Machthabern unterstrich.

Das Phänomen der Dons in den Armenvierteln von Kingston ist also wesentlich vielschichtiger, als es die Klassifizierung der US-Justiz ahnen läßt, die von "Drogenbaronen" spricht. Daß es bei der Ausschaltung einzelner Dons am allerwenigsten darum geht, den Bewohnern des betreffenden Stadtteils zu einem besseren Leben zu verhelfen, dokumentiert die vor vier Jahren erfolgte Festnahme von Donald Phipps, genannt "Zekes", der bis dahin der Chef im Viertel Matthews Lane gewesen war. Die Behörden versprachen den Menschen das Blaue vom Himmel herunter, doch von ersten Anfängen abgesehen ist kein einziges der angekündigten Vorhaben durchgeführt worden. Wie nicht anders zu erwarten, balgten sich alsbald Nachfolger um die Vorherrschaft, was dazu führte, daß sich das alte System in wesentlich schlechterer Qualität wieder durchsetzte.

Premierminister Bruce Golding, der sein Amt nicht zuletzt den Stimmen aus Tivoli Gardens verdankt, tritt unter dem Druck aus Washington die Flucht nach vorn an und fordert die Dons von Kingston auf, die Waffen zu strecken, ihre "Garnisonen" zu öffnen und sich zu stellen. Daß das niemals funktionieren kann, liegt auf der Hand, da sich ein über Jahrzehnte etabliertes Machtgefüge, zumal mit beträchtlicher sozialer Verankerung, nicht kurzerhand ausreißen läßt. Die Bewohner von Tivoli Gardens bezeichnen ihr Viertel als Republik, die unter Führung Christopher Cokes ein Ausmaß an Sicherheit und Versorgung gewährleistete, von der arme Leute in Kingston andernfalls nur vergebens träumen können. Zwar hat die Regierung Golding angekündigt, sie werde neue Sozialprogramme für die betreffenden Stadtteile auflegen, die man von "kriminellen Elementen" befreien will. Daß diese Maßnahmen tatsächlich geplant und umgesetzt werden, ist jedoch nicht zu erwarten, da weit mehr als die knappe Haushaltskasse dagegenspricht. [6]

Als die mehrere Tage währenden Kämpfe in Tivoli Gardens beendet und mehr als 70 Menschen gestorben waren, mehrten sich Hinweise, daß die vordringenden Sicherheitskräfte zahlreiche junge Männer regelrecht exekutiert hatten. Ohne jeden Nachweis, daß es sich tatsächlich um Anhänger Christopher Cokes handelte, wurden sie nur auf Grund ihres "kampffähigen" Alters teilweise vor den Augen ihrer Angehörigen erschossen. Wenngleich die Polizei diese Vorwürfe als haltlos zurückweist und behauptet, bei den Opfern handle es sich durchweg um Parteigänger Cokes, die den anhaltenden Gefechten zum Opfer gefallen seien, konnten keine Beweismittel wie Waffen präsentiert werden.

Um die Ermittlungen in diesen Fällen angemessen zu führen, bedürfte es unter anderem forensischer Experten und hochwertiger Gerätschaften, über die die jamaikanischen Behörden nicht verfügen. Die Staatsanwaltschaft hat sich deswegen mit der Bitte um Unterstützung an die United Nations Development Agency und die United States Agency for International Development gewandt. Viel dürfte dabei nicht herauskommen, da die jamaikanischen Sicherheitskräfte bestrebt sind, die Untersuchung der Vorfälle an sich ziehen, um am Ende die ihr genehmen Ergebnisse zu produzieren. Etliche Vorwürfe der Bewohner von Tivoli Gardens richten sich gegen Mitglieder der Jamaica Constabulary Force, die schon in der Vergangenheit wiederholt von Amnesty International und anderen Menschenrechtsorganisationen wegen ihrer ungewöhnlich hohen Tötungszahlen angeprangert worden ist. So starben in den letzten Jahren nicht weniger als zwölf Prozent aller Opfer durch Kugeln aus Polizeiwaffen. [7]

Anmerkungen:

[1] Drogenbaron Christopher "Dudus" Coke an die USA ausgeliefert (25.06.10)
http://www.focus.de/panorama/welt/drogenbaron-christopher-dudus-coke-an-die-usa-ausgeliefert_aid_523289.html

[2] Drogenboss "Dudus" in New York eingetroffen (25.06.10)
http://www.welt.de/vermischtes/weltgeschehen/article8175178/Drogenboss-Dudus-in-New-York-eingetroffen.html

[3] Jamaikanischer Drogenboss in die USA ausgeliefert (25.06.10)
http://www.google.com/hostednews/afp/article/ALeqM5h8qjbh1PqBYcQzxfMN2SHgsb82hQ

[4] Disguises May Have Helped Jamaican Drug Lord Elude Arrest (23.06.10)
New York Times

[5] Christopher "Dudus" Coke. Drogenbaron in Jamaika festgenommen (23.06.10)
http://www.focus.de/panorama/vermischtes/christopher-dudus-coke-drogenbaron-in-jamaika-festgenommen_aid_522696.html

[6] Jamaica Strains to Fill Void Left by Gang Bosses (31.05.10)
New York Times

[7] Jamaican Forces Accused of Killing Unarmed Men (02.06.10)
New York Times

25. Juni 2010