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LATEINAMERIKA/2401: Maras in El Salvador - Bandenwesen auf dem Nährboden sozialer Widersprüche (SB)


Sicherheitspolitik gegen soziale Frage in Stellung gebracht


Das Erstarken des Bandenwesens in Ländern Mittelamerikas und der Karibik wird gemeinhin mit schwachen Staaten assoziiert, die den tendentiellen Verlust ihres Gewaltmonopols durch ihr Verharren in klientelistischen Strukturen und korrupten Praktiken selbst verschuldet haben. Als Rezept verschreiben ihnen die Vereinigten Staaten im Verbund mit überstaatlichen administrativen Institutionen eine Verstärkung der Sicherheitskräfte, eine Reform des Justizsystems und nicht zuletzt eine enge Zusammenarbeit mit US-amerikanischen Strafverfolgungsbehörden, wobei das Einschwören auf diesen repressiven Ansatz mit millionenschweren Zahlungen alimentiert wird.

Daß es sich im Kern um Armutsphänomene handelt, die durch hegemoniale Bevormundung, imperialistische Ausplünderung und oligarchische Machtkomplexe hervorgerufen und vertieft werden, blendet die gängige Interpretation systematisch aus, wobei sie allenfalls zugesteht, daß ein höherer Lebensstandard der Milderung des Problems sicher nicht abträglich wäre. Für Menschen in Armutsregionen bleiben als illegal klassifizierte Erwerbszweige in vielen Fällen die einzigen Optionen, sich über Wasser zu halten, weshalb die unmittelbaren Profiteure eines solchen staatlicherseits nicht legitimierten Raubwesens zumeist in ein Umfeld partizipierender sozialer Schichten eingebettet sind.

Die Niederwerfung emanzipatorischer Bewegungen, die sich die Umwälzung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung auf die Fahnen geschrieben hatten, und die Einbindung und Zähmung der verbliebenen Protagonisten tiefgreifender sozialer Umgestaltung in Gestalt von Parteien und integrativem Reformismus hat zu einer weitreichenden Entkopplung des Aufbegehrens von gesellschaftsverändernden Begründungszusammenhängen und Zielsetzungen geführt. Häufig tritt das Bandenwesen daher nur noch als eine mit traditionellen Formen der Bereicherung konkurrierende bewaffnete Struktur in Erscheinung, was es sicherheitspolitischen Ansätzen um so leichter macht, sie auf ein Verbrechertum zu reduzieren, das in erster Linie mit Zwangsmitteln bekämpft und ausgerottet werden muß. In diesem Prozeß löst die Sicherheitspolitik die soziale Frage nicht nur ab, sondern täuscht insbesondere darüber hinweg, daß sie strategisch gegen sie in Stellung gebracht wird. Sollte es nämlich über kurz oder lang gelingen, das Bandenwesen entscheidend einzudämmen, bleibt die Armut und die unterdessen gegen die Hungerrevolte ausgebaute Sicherheitsarchitektur.

In El Salvador wurde 1992 der Bürgerkrieg mit einem Friedensabkommen offiziell beendet, dessen Verlierer die bis dahin kämpfende Guerilla und mit ihr jener Teil der Gesellschaft, zu dessen Gunsten die Rebellen zu Felde zogen, war. Frieden hieß unter diesen Umständen Fortbestand der herrschenden Machtverhältnisse, da die Niederlegung der Waffen de facto nur für die Erhebung, nicht jedoch die staatlichen Sicherheitskräfte galt, die ihre jederzeit in Bereitschaft hielten. Hinzu kamen eingespielte Seilschaften von Polizei und Militär, die in Gestalt von Auftragsmördern und paramilitärischen Gruppen weiterhin Oppositionelle drangsalierten und nicht selten liquidierten. Wenngleich es also zutrifft, daß das Land bis heute in ungewöhnlich hohem Maße von brutaler Gewalt und organisiertem Verbrechen heimgesucht wird, ist eine Beschreibung in dieser abstrakten und vorgeblich neutralen Form nicht nur wenig aufschlußreich, sondern grundsätzlich irreführend, da sie davon absieht, welchen gesellschaftlichen Akteuren und Klassen zuerst und vor allem Gewalt angetan wird.

Vor wenigen Tagen wurde das Land von einem Blutbad erschüttert, das selbst für die Verhältnisse El Salvadors in seiner Grausamkeit extrem war. In der 140.000 Einwohner zählenden Stadt Mejicanos starben beim Überfall einer bewaffneten Bande auf einen vollbesetzten Linienbus vierzehn Menschen, während 16 weitere Verletzungen davontrugen. Wenig später führte die Polizei acht Tatverdächtige, darunter vier Minderjährige, vor, die den "Mara"-Banden angehören sollen. Ob zutreffend oder nicht, setzte dieser Tatverdacht den Kampf gegen die Maras mit neuer Wucht auf die Tagesordnung, der schon in der Vergangenheit staatlicherseits mit außerordentlicher Härte geführt wurde. [1]

Präsident Mauricio Funes, der vor gut einem Jahr als Kandidat der linken Befreiungsfront Farabundo Martí (FMLN) gewählt worden war, erklärte in Reaktion auf das Massaker, die Gewalt in El Salvador habe strukturelle Ursachen. Bei den Tätern handle es sich um Personen, die ihre Werte und den Respekt vor dem Leben verloren hätten. Der Regierung ist es nicht gelungen, die Gewaltwelle einzudämmen, die seit Amtsantritt des Staatschefs sogar weiter angestiegen ist und inzwischen bei durchschnittlich 16 Morden pro Tag liegt. Die Opposition profitiert von dieser Zuspitzung der Verhältnisse, die sie gegen den Präsidenten und die FMLN ins Feld führen kann.

Im Gefolge des Bürgerkriegs blieben in diesem Land von nur 7,3 Millionen Einwohnern Schätzungen zufolge mehr als 400.000 Feuerwaffen im Umlauf, deren Zahl sich seither noch erhöht haben dürfte. Die FMLN hat im Parlament einen Gesetzentwurf eingebracht, der eine genaue Registrierung der Waffenbesitzer sowie die Meldung auslaufender Genehmigungen vorsieht. Diese Initiative stößt jedoch bei der rechten Opposition, die im Parlament die Mehrheit stellt, auf heftigen Widerstand, die mit der unverzichtbaren Bewaffnung "ehrbarer Bürger" argumentiert, die andernfalls wehrlos seien.

Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang die Entstehung der Maras, deren Herausbildung, Bedeutung und Verfolgung nur in einem größeren Kontext angemessen dargestellt werden kann. Die hispanischen Jugendbanden hatten einst ihren Ursprung in Los Angeles und sind im Zuge eines weiträumigen Verdrängungsprozesses nach Mittelamerika auch in die USA zurückgekehrt, wo sie in zahlreichen Städten Fuß gefaßt haben. Als ursprünglichste und wichtigste dieser Banden gilt die Mara Salvatrucha oder MS 13, deren Namen sich von der Straße in Los Angeles ableitet, die einst ihr vergleichsweise winziges Territorium war. Die beiden größten Gangs, Mara Salvatrucha und Mara 18 rekrutierten sich aus der zweiten Generation mittelamerikanischer Einwanderer.

Sie wiesen zunächst Züge einer selbstorganisierten Nachbarschaftshilfe und Sozialarbeit auf, die jedoch mangels gesellschaftlicher Unterstützung die Lebensverhältnisse kaum verbessern konnte. Angesichts der Aussichtslosigkeit dieser Bestrebungen und unter dem Eindruck repressiver Staatsgewalt steuerte die Radikalisierung in Richtung eines Bandentums, das sich aller sozialpolitischen Ambitionen entledigte und eine zunehmend gewalttätige Auseinandersetzung mit konkurrierenden Gangs und der Polizei führte.

In den 1990er Jahren schoben Polizei und Einwanderungsbehörde im Zuge einer repressiven Ausländerpolitik jugendliche Bandenmitglieder zu Zehntausenden in die Herkunftsländer ab. So wurden auf dem Höhepunkt dieser Kampagne jährlich um die 40.000 straffällig gewordene Gangmitglieder ausgewiesen, womit die USA einigen der ärmsten Ländern der Welt das unbewältigte Bandenproblem auflasteten. Dort verdrängten die Maras aufgrund ihrer fehlenden sozialen Einbindung und der in Los Angeles hochgezüchteten Gewaltbereitschaft die einheimische Szene und eigneten sich die lukrativsten Zweige des organisierten Verbrechens an.

Sie breiteten sich rasch in Mittelamerika aus, übernahmen vielerorts die Vorherrschaft im Milieu und verwandelten Slums in Schlachtfelder. Groben Schätzungen zufolge gibt es in lateinamerikanischen Ländern 100.000 Mitglieder dieser Banden. Tausende Morde gehen auf ihr Konto, von allen anderen Spielarten des Verbrechens abgesehen. So stark war ihr Einfluß, daß sie von den dortigen Regierungen zum Staatsfeind Nummer eins erklärt und mit geballter Macht verfolgt wurden.

Dabei wurde ihnen der Brauch zum Verhängnis, sich bei Aufnahme in die Bandenstruktur als äußeres Zeichen der Zugehörigkeit tätowieren zu lassen. Dessen bedienten sich Justiz und Polizei, indem das bloße Tragen einer Tätowierung mit Bandentum gleichgesetzt wurde und eine Festnahme und Verurteilung ohne jeden Nachweis einer konkreten Straftat rechtfertigte. Vielerorts kam es zu regelrechten Hexenjagden, die alle Mitglieder derartiger Banden in den Untergrund oder zum Verlassen des Landes zwangen. Polizei und Todesschwadrone machten alles nieder, was nach Mitgliedern von Jugendbanden aussah, so daß sich die Warnungen vor staatlicher Brutalität mehrten, die das Problem durch überaus repressives Vorgehen und lokale Verdrängung erst recht großflächig verteilte und damit zu seiner weiteren Ausbreitung beitrug.

Als sich die Strafanstalten mit Mitgliedern der Maras füllten, kam es wiederholt zu Massakern, die offensichtlich von der Gefängnisleitung gedeckt, wenn nicht gar auf höheren Befehl organisiert wurden. Man bediente sich dabei der Rivalität zwischen verschiedenen Fraktionen unter den Häftlingen, um die als gefährlichste Kraft eingestuften Maras bei angeblichen Unruhen unter Gefangenen oder Bränden ganzer Zellenblocks abschlachten zu lassen.

Die Regierungen von Honduras, El Salvador, Guatemala, Panama und Mexiko schlossen ein Abkommen zur Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Jugendbanden. Als diese Länder dazu übergingen, Bandenmitglieder ihrerseits massenhaft auszuweisen, kehrten diese in einer großen Woge in die USA zurück, wo sie sich über das ganze Land ausbreiteten, ohne ihre Zugehörigkeit zur ursprünglichen Organisation gänzlich aufzugeben. Damit hatte sich die US-Gesellschaft letztlich ihren Alptraum selbst herangezüchtet: Ein weitverzweigtes Netz hispanischer Jugendbanden von hoher Gewaltbereitschaft und überregionaler Zusammengehörigkeit, das aus dem Reservoir der Einwanderungswelle aus dem Süden schöpfen konnte. Was als eine Art Ersatzfamilie für hispanische Kinder und Jugendliche begann, hat sich längst zu einem regelrechten Syndikat entwickelt. Nachwuchs wird im Kindesalter von acht oder neun Jahren rekrutiert und führt bereits Krieg um Territorien und immense Summen Geldes, wenn sich Altersgenossen allenfalls um ein Paar Turnschuhe oder eine Jacke streiten.

Die Vereinigten Staaten sehen sich heute mit den Folgen ihrer Unterdrückung, Ausbeutung und Einvernahme Lateinamerikas konfrontiert, das sie bereits im 19. Jahrhundert zu ihrer Einflußsphäre erklärt hatten. Was in einer Mischung aus Überheblichkeit, Verachtung und imperialem Machtanspruch als eigener "Hinterhof" deklariert wurde, in dem man nach Bedarf und Belieben schalten und walten konnte, pocht plötzlich mit Macht an die Tore der weißen US-Gesellschaft. Der Widerspruch von gänzlich unerwarteter Seite wird den USA schon in naher Zukunft auf erschreckende Weise zu schaffen machen, wobei die hispanischen Maras nur ein beschränkter Teil dieses breitgefächerten Spektrums politischen, sozialen und kulturellen Aufbegehrens sind.

Anmerkungen:

[1] Krieg der "Maras" (23.06.10)

junge Welt

27. Juni 2010