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LATEINAMERIKA/2423: Herkulesaufgabe Haiti - An Wyclef Jean scheiden sich die Geister (SB)


Don Quichotte, Schelm oder glaubwürdiger Kandidat?


Bevor das verheerende Erdbeben Haiti heimgesucht hat, wurde es bereits von einer kleinen nationalen Elite sowie insbesondere den Vereinigten Staaten zerstört. Jean-Bertrand Aristide war 1990 der erste demokratisch gewählte Präsident des Landes. Nur sieben Monaten später stürzte ihn ein Militärputsch, der die Handschrift Washingtons trug. Präsident Clinton brachte Aristide drei Jahre darauf ins Amt zurück, doch erwies sich der haitianische Staatschef in der Folge nicht als das fügsame Werkzeug, als das ihn die US-Regierung zu plazieren gehofft hatte. Er schaffte die Streitkräfte ab, die sich in der Vergangenheit vor allem als Repressionsinstrument im Dienst der einheimischen Führungsschicht erwiesen hatten, und nahm eine Politik sozialer Reformen in Angriff, die das Maß überschritten, welches Washington zu akzeptieren bereit war. Obgleich mit hoher Zustimmung gewählt, war Aristide ein Ärgernis, das die US-Administration von 2000 an systematisch auszuhebeln begann. Unter fadenscheinigen Vorwänden blockierte sie bilaterale und multilaterale Hilfsgelder für Haiti, womit dessen Regierung aller Mittel zur Umsetzung ihrer Reformpolitik beraubt wurde. Indem man jede Entwicklung verhinderte und selbst die Grundversorgung der Bevölkerung abwürgte, hoffte man Aristide und den von ihm verfolgten Entwurf gesellschaftlicher Veränderung zu Fall zu bringen.

Was in den 1990er Jahren begonnen hatte und unter Clinton vorangetrieben wurde, vollendete George W. Bush mit dem verdeckten Putsch im März 2004, der als Erhebung des haitianischen Volkes gegen die politische Führung des Landes getarnt wurde. Akteure des Umsturzes waren aus dem Ausland zurückgekehrte paramilitärische Mörderbanden, deren Vormarsch Aristide mit seinen schwachen Polizeikräften nicht aufhalten konnte. Sein dringendes Ersuchen an die Adresse Washingtons, man möge ihn und seine demokratisch gewählte Regierung in der Abwehr dieses Staatsstreichs unterstützen, erteilte die US-Regierung eine Absage: Es handle sich um eine innere Angelegenheit Haitis, in die man sich nicht einmischen wolle. Aristide wurde von US-Soldaten im letzten Moment ausgeflogen, wobei man ihm noch rasch eine Rücktrittserklärung abpressen wollte. Dann verschleppte man ihn ins zentralafrikanische Exil, in dem er sich freilich nicht kaltstellen ließ. Er kehrte in die Karibik zurück und hielt sich vorübergehend in Jamaika auf, bis ihm Südafrika dauerhaft Asyl gewährte. Eine Rückkehr nach Haiti, die von seinen Anhängern gefordert wurde, hätte vermutlich einen Bürgerkrieg ausgelöst.

Aristides Partei Fanmi Lavalas, die gewissermaßen sein politisches Erbe repräsentiert, wurde im April 2009 von den Wahlen ausgeschlossen, worauf der Urnengang vom weitaus größten Teil der Wählerschaft boykottiert wurde. Die Obama-Administration hatte damit ebensowenig Probleme wie mit der Entscheidung der provisorischen Wahlkommission (CEP), mit Fanmi Lavalas die größte politische Partei des Landes auch von den Parlamentswahlen im kommenden November auszuschließen. Berücksichtigt man, daß Haiti heute de facto ein Protektorat unter Leitung eines Gremiums ist, in dem der UN-Sonderbeauftragte Bill Clinton seine haitianischen Beisitzer in den Schatten stellt, wird deutlich, daß demokratische Verhältnisse in Haiti von den Vereinigten Staaten und der sie flankierenden internationalen Staatengemeinschaft nicht vorgesehen sind. Vielmehr treibt das nach der Naturkatastrophe installierte Regime unter dem Vorwand des Wiederaufbaus eben jene Sicherung fremden Zugriffs voran, die schon vor dem Erdbeben zum Ruin des Landes geführt hatte, nun aber die innovative Legitimation humanitärer Krisenhilfe in Anspruch nehmen kann.

Von den vollmundig zugesagten Hilfsgeldern sind bislang nicht mehr als drei Prozent vor Ort eingetroffen. Mehr als sechs Monate nach der Katastrophe haben weniger als zwei Prozent der 1,6 Millionen Obdachlosen neue Unterkunft gefunden. Hunderttausende haben ihren gesamten Besitz verloren und stehen mit leeren Händen da. Rund 80 Prozent jener Haitianer, die provisorischen Schutz erhalten haben, leben in Zelten, die Regen und Hitze kaum standhalten. Während die Menschen in Tausenden Lagern verwahrt und hingehalten werden, weigern sich die reichen Grundbesitzer, Land für den Wiederaufbau abzutreten, geschweige denn anders als in der Rolle von Profiteuren auf die Katastrophe zu reagieren. Die Präsenz von Heerscharen ausländischer Helfer, Administratoren und Katastrophentouristen, die auf die eine oder andere Weise aus der Existenz massenhaften Elends ihren Erwerb bestreiten, hat zur Herausbildung einer Versorgungsökonomie geführt, die an den Bedürftigen weitgehend vorbeigeht. [1]

Mit dieser Problematik sieht sich der kommende Präsident Haitis konfrontiert, der im November für eine Herkulesaufgabe gewählt wird, die den Charakter einer Sisyphusarbeit anzunehmen droht. Diesem gigantischen Unterfangen müßte sich auch der Musiker Wyclef Jean stellen, dessen vielbeachtete Bewerbung freilich bereits an der fehlenden Zulassung als Kandidat gescheitert ist. Allerdings hat der Hip-Hop-Star über den Online-Kurznachrichtendienst Twitter angekündigt, daß er seinen Ausschluß nicht akzeptiere. Er habe seine Anwälte beauftragt, die Entscheidung der Kommission in Port-au-Prince anzufechten. Seine Sprecherin Marian Salzman bestätigte die Entscheidung des populären Musikers, gegen den gefällten Beschluß vorzugehen. Die Wahlkommission hatte den Ausschluß des 37jährigen damit begründet, daß dieser vor einer Kandidatur nicht die von der Verfassung geforderten fünf Jahre in Folge seinen Wohnort in Haiti gehabt habe. Hingegen erklärte der als Frontmann der Gruppe "The Fugees" berühmt gewordene Musiker, er habe alle gesetzlichen Vorgaben erfüllt. Nach Angaben seiner Anwälte legte er Nachweise vor, die zeigten, daß er in dem Karibikstaat "konstant präsent" gewesen sei. [2] Nach den haitianischen Wahlgesetzen ist eine Anfechtung der Entscheidung der Kommission nicht möglich. Dennoch wollen die Anwälte Jeans heute bei einer Pressekonferenz Argumente vortragen, die eine Teilnahme rechtfertigen sollen. [3]

Wyclef Jean, der 1972 in Croix-des-Bouquets, einem Vorort der Hauptstadt Port-au-Prince, unter dem Namen Nel Ust Wyclef Jean geboren wurde, hatte seine Kindheit in Haiti verbracht, bis er als Neunjähriger mit seiner Familie in die USA zog. Dort wuchs er im New Yorker Stadtteil Brooklyn und in Newark im US-Bundesstaat New Jersey auf. Anfang der 1990er Jahre gründete er die Band "The Refugee Camp", die wenige Jahre später mit der Sängerin Lauryn Hill und seinem Cousin Pras Michel unter dem Namen "The Fugees" Weltruhm erlangte. Bereits vor fünf Jahren hatte Jean die Wohltätigkeitsorganisation Yéle in Haiti gegründet. Präsident René Préval ernannte den Musiker im Jahr 2007 zum Ehrenbotschafter des Landes.

Bei der Präsidentschaftswahl am 28. November darf der aktuelle Staatschef René Préval, dessen Mandat im Februar 2011 nach zwei Amtszeiten ausläuft, nicht mehr antreten. Die Wahlkommission akzeptierte die Kandidatur von 19 Bewerbern, während 15 zurückgewiesen wurden. Mit der Entscheidung der Kommission sei er nicht einverstanden, er respektiere sie aber, hatte der Hip-Hop-Star zunächst kurz nach Bekanntgabe seines Ausschlusses erklärt. "Heimat ist, wo das Herz ist - und mein Herz war immer in Haiti und wird es immer sein", erklärte der 40jährige. Zugleich versicherte er seinen Landsleuten, er werde sich weiterhin für den Wiederaufbau des von dem verheerenden Erdbeben im Januar schwer gezeichneten Landes einsetzen. Er und seine Helfer seien überzeugt, daß sein Ausschluß politisch motiviert ist, sagte Jean der Nachrichtenagentur AP. Das sei haitianische Politik. In der vergangenen Woche berichtete Jean, er habe Morddrohungen erhalten und sei aufgefordert worden, das Land zu verlassen. Seither hielt er sich an einem geheimen Ort in der Nähe der Hauptstadt auf. [4]

Der vor allem bei der Jugend sehr populäre Wyclef Jean hatte sich immer wieder in politische Debatten eingemischt. Er sieht sich als Hoffnungsträger seiner verarmten und krisengeschüttelten Heimat. So setzte sich der Musiker nach der Naturkatastrophe in Haiti, bei der mehr als 220.000 Menschen ums Leben gekommen waren, für den Wiederaufbau seines Heimatlandes ein. Mit dem Gedanken, Präsident der verarmten Karibikinsel zu werden, spielte er schon länger. Den Ausschlag, sich nun zu bewerben, gab das Erdbeben, wie er bei der Bekanntgabe seiner Kandidatur sagte. [5]

Vor wenigen Tagen war Jean mit Präsident Préval zu einem längeren Gespräch zusammengetroffen. Zugleich forderte es seine Anhänger auf, Ruhe zu bewahren, auch wenn die Kommission seine Bewerbung ablehnen sollte. Zuletzt war es mehrfach zu Demonstrationen für den Musiker gekommen, was die UNO-Stabilisierungstruppe MINUSTAH zu der Stellungnahme veranlaßte, sie werde Frieden und Sicherheit in Port-au-Prince garantieren. Der Aufruf Jeans und starke Polizeipräsenz auf den Straßen sorgten dafür, daß sich die Spannungen nicht in gewaltsamen Auseinandersetzungen entluden. Die Ablehnung seiner Kandidatur war keine Überraschung mehr, nachdem die Wahlkommission die Bekanntgabe ihrer Entscheidung mehrere Tage verschoben hatte. Sollte dieser Entschluß Bestand haben, womit zu rechnen ist, wird sich Jean dazu äußern müssen, welche Rolle er im weiteren Wahlkampf zu spielen gedenkt. [6]

Indessen traten zwangsläufig auch diverse Kritiker auf den Plan, die Wyclef Jeans Vorhaben als naiv oder seinem persönlichen Vorteil geschuldet einstuften. So wurde bereits vor einiger Zeit bekannt, daß der Musiker von der Yéle-Haiti-Stiftung für Auftritte bei Wohltätigkeitsveranstaltungen bezahlt wurde. Man hält ihm vor, er verwische absichtlich die Grenzen zwischen seinen persönlichen Geschäften und der Hilfsmission, um Spendengelder seinen privaten Zwecken zuzuführen und diese vor einem angeblich drohenden Bankrott zu bewahren. Auch wirft man natürlich skeptische Fragen auf, was einen prominenten Künstler dazu befähige, ein Land wie Haiti zu regieren, und ob ein derartiger Einfluß der haitianischen Diaspora überhaupt wünschenswert sei. [7]

Auch nach der Sklavenrevolte und Gründung der weltweit ersten schwarzen Republik im Jahr 1804 blieb Haiti im Schraubstock massiver kolonialer und imperialistischer Ausbeutung, bei der sich Frankreich und die Vereinigten Staaten die Klinke in die Hand gaben. Hatte die Verfassung ursprünglich Weiße vom Landbesitz ausgeschlossen, so änderte sich das während der US-amerikanischen Okkupation zwischen 1915 und 1934. Intervention und ausländische Einflußnahme gehören seit jeher zu den brisantesten Konfliktlinien des Landes, weshalb Wyclef Jeans Ankündigung, er wolle den "amerikanischen Traum" nach Haiti bringen, zwangsläufig sehr gemischte Reaktionen hervorrief.

Anmerkungen:

[1] Still Living Under Tarps. Failing Haiti (16.08.10)
Counterpunch

[2] Wyclef Jean will Auschluss von Haiti-Wahl anfechten (23.08.10)
http://de.reuters.com/article/worldNews/idDEBEE67M00T20100823

[3] Wyclef Jean will seine Ablehnung anfechten (23.08.10)
http://newsticker.sueddeutsche.de/list/id/1030093

[4] Wyclef Jean. Präsidentenamt - Sänger gibt nicht auf (22.08.10)
http://www.focus.de/panorama/vermischtes/wyclef-jean-praesidentenamt- saenger-gibt-nicht-auf_aid_544042.html

[5] Wyclef Jean darf nicht kandidieren. Haitianisches Wahlgremium lässt berühmten Rapper nicht zu (21.08.10)
NZZ Online

[6] Haiti Calm After Jean Is Rejected (21.08.10)

New York Times

[7] Wyclef Jean Says He‹ll Challenge Election Ruling (22.08.10)
New York Times

23. August 2010