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LATEINAMERIKA/2431: "Lulaismus" oder der lange Marsch durch die Institutionen (SB)


Was der Präsident mit seinen Nachfolgekandidaten gemeinsam hat


Das vielgepriesene Erfolgsmodell Brasilien zählt zu den weltweit zukunftsfähigsten Entwürfen eines aufstrebenden Schwellenlands, weil man ihm zugute hält, gleichermaßen einen gewaltigen ökonomischen Sprung in die Riege der Wortführer einer multipolaren Weltordnung vollzogen wie auch die extremen inneren Widersprüche gebändigt zu haben. Angesichts der globalen kapitalistischen Systemkrise mutet die damit assoziierte Botschaft, die Epoche für unvereinbar erachteter Klassengegensätze lasse sich unumkehrbar zugunsten einer Koexistenz von Armut und Reichtum auf Grundlage einer beiderseits nutzbringenden Strategie der Versöhnung und Bündelung aller Kräfte überwinden, geradezu wie die frappierende Beweisführung der vordem nur gepredigten Heilslehre an. Um zu entschlüsseln und zu bewerten, welche Dynamik sich in diesem Prozeß Bahn bricht, mag es hilfreich sein, die derzeit führenden politischen Protagonisten auf ihren Werdegang hin zu prüfen, wie auch die weithin ausgeblendeten Dunkelzonen keineswegs überwundenen existentiellen Elends zu beleuchten.

Charakteristisch für die gegenwärtig prominentesten Akteure des politischen Establishments ist ihre gemeinsame Vorgeschichte des Aufbegehrens gegen die herrschenden Verhältnisse, das sie zugunsten einer erfolgreichen Positionierung im parlamentarischen System zurückließen. Im langen Marsch durch die Institutionen schärften sie ihre Zähne und Klauen im konkurrenzgetriebenen Aufstieg an die Macht, in dessen Verlauf sie alles abzuwerfen verstanden, was ihnen als widerspruchsbehafteter Ballast den Eintritt in die Sphäre nationaler Eliten verwehrt hätte. Verwertbar für die traditionellen Machtkomplexe war nicht bloße Anpassungsbereitschaft, die zu erzwingen man in allen erdenklichen Spielarten geübt war. Was diese neue brasilianische Politikergeneration auszeichnete, war ihre mehr oder minder innovative Befähigung, Widerstände zu befrieden, Gegenkräfte einzubinden und einen inspirierenden nationalen Mythos zu generieren, der die horrende soziale Kluft dauerhaft zu brücken schien.

Anerkannter Meister dieses Projekts bleibt der Ende des Jahres aus dem Amt scheidende Staatschef Luiz Inácio Lula da Silva, der alles daransetzt, den Fortbestand seines epochalen Werks zu sichern. US-Präsident Barack Obama bezeichnete ihn als den "populärsten Politiker auf Erden" und das "Time"-Magazin erklärte ihn jüngst zur "einflußreichsten Person weltweit". Wie die "Financial Times" kürzlich anerkennend schrieb, habe Lulas Präsidentschaft "Brasiliens Umarmung des Kapitalismus und der Globalisierung" auf den Weg gebracht. Zugleich verehrt man Lula namentlich im verelendeten Nordosten des Landes bisweilen wie einen Heiligen, da er mehr für seine armen Landsleute getan habe, als all seine Vorgänger. Vor wenigen Tagen faßte der Präsident anläßlich der Kapitalerhöhung des Staatskonzerns Petrobras das Phänomen seiner politischen Leistung scherzend in folgende Worte: "Als ich vor zehn Jahren die Eingangstür [der Börse] durchschritt, zitterten die Leute vor Angst. 'Wo geht dieser Kapitalistenfresser hin?', hieß es damals. Heute hat derselbe 'Kapitalistenfresser'... teil an diesem positivsten Augenblick des weltweiten Kapitalismus. Nie zuvor in der Menschheitsgeschichte gab es eine Kapitalerhöhung dieses Ausmaßes." [1]

Jene 70 Milliarden Dollar, die sich Petrobras an der Börse von São Paulo in Gestalt weiterer Anteilsscheine einverleibt hat, sind eine Option auf künftige Profite, die der Konzern mit der Erschließung der gewaltigen Ölreserven vor der brasilianischen Küste zu generieren hofft. Lulas Präsidentschaft gilt mithin als vertrauenswürdige Garantie, das Rad kapitalistischer Verwertung allen Unkenrufen zum Trotz weiterzudrehen. Hat nicht Brasilien bewiesen, daß sich die Krisenfolgen eindämmen lassen, sofern man das Tor zur Zukunft offenzuhalten versteht? Das unverhohlene Lob des brasilianischen Präsidenten ist durchaus handfester Natur, leuchtet er doch dem globalisierten Raubzug in finsterster Nacht den Weg.

Ohne Lulas vielschichtige Talente in Abrede zu stellen, darf man nicht außer Acht lassen, daß wesentliche Triebkräfte seines Erfolgs wie die globale Integration des Kapitalismus und der sechzehn Jahre währende Boom der Rohstoffe jenseits seiner Kontrolle lagen. Auf Grundlage dieser Voraussetzungen gelang es ihm, Wachstum und Konzentration des brasilianischen Kapitals auf beispiellose Weise zu befördern, wofür ihm der Rückhalt der Wirtschaftseliten sicher war. Seit Beginn seiner ersten Amtszeit im Jahr 2002 stiegen allein die Profite der Banken um 420 Prozent, während transnationale Konzerne wie Brasil Foods, Petrobas, das Bergbauunternehmen Vale do Rio Doce oder der Flugzeugbauer Embraer in die Weltspitze ihrer Branchen aufstiegen.

Unterdessen wurde das Wohlfahrtsprogramm Bolsa Familia aufgestockt, in dessen Rahmen den ärmsten Familien 40 Dollar im Monat sowie weitere 12 Dollar für jedes Kind, das sie zur Schule schicken, gewährt werden. Jeder vierte Einwohner des Landes ist auf diese Unterstützung angewiesen, die nach Version der Regierung 25 Millionen Menschen aus bitterer Armut in die Mittelklasse gehoben hat. Längst mehren sich die Stimmen, die in ausdrücklicher Abkehr von allen Ansätzen weitreichenderer sozialer und in der Konsequenz gesellschaftlicher Umgestaltung das brasilianische Wohlfahrtsmodell zum Königsweg der Armutsbekämpfung ausrufen. Ohne dessen Leistungen in Abrede zu stellen, darf man dennoch bezweifeln, daß von einem massenhaften Aufstieg in die Mittelklasse die Rede sein kann, sofern man letztere nicht unmittelbar über der offiziellen Armutsgrenze ansiedelt.

Die brasilianische Gesellschaft ist nach wie vor von extremer sozialer Polarisierung geprägt, die sich unter anderem darin ausdrückt, daß 10 Prozent der Bevölkerung über 75 Prozent des nationalen Reichtums verfügen, während fast 95 Prozent mit weniger als 550 Dollar im Monat auskommen müssen. Wohin der Trend geht, ließ das Magazin "Forbes" mit der Meldung durchblicken, daß Brasilien heute 18 Milliardäre aufweist, deren Zahl sich im Vergleich zum vergangenen Jahr fast verdoppelt hat. Wollte man daher die Behauptung aufrechterhalten, von der Präsidentschaft Lulas hätten alle Brasilianer profitiert, muß man schon als selbstverständlich voraussetzen, daß dies natürlich für jeden im Rahmen seiner Möglichkeiten gilt.

Grundsätzlich aber bleibt das Wohlfahrtssystem ein Lehen, das den Empfängern Almosen gewährt oder entzieht, ohne an den bestehenden Besitzverhältnissen und Einflußmöglichkeiten zu rühren. Solange die Wirtschaft floriert, wird etwas für die Armen abfallen und sie zugleich in das paternalistische Gefüge einbinden. Wird die Kasse eines Tages knapp, sind sie die ersten, die den Gürtel bis an die Grenze ihrer schieren Existenz enger schnallen müssen. Das Erfolgsmodell des "Lulaismus" wird nicht zuletzt deswegen international hofiert, weil es die ausgeprägtesten sozialen Unwuchten vorderhand austariert und das Aufbegehren befriedet, jedoch die Frage, zu wessen Lasten die neuen Reichtümer erwirtschaftet werden, vollständig ausblendet.

Lula ist dieses Kunststück bahnbrechend gelungen, indem er seinen Aufstieg aus ärmsten Verhältnissen bis zur monumentalen Führerschaft auf eine Weise durchgetragen hat, die seiner Glaubwürdigkeit als Hoffnungsträger der Armen nie Abbruch tat. Als einer der Führer der Metallarbeiterstreiks im São Paulo der späten 1970er Jahre warf ihn die Militärdiktatur kurzzeitig ins Gefängnis. In den 1980er Jahren gründete er mit einer Gruppe von Gewerkschaftern, Intellektuellen, liberalen Katholiken und Mitgliedern verschiedener linksgerichteter Organisationen die Arbeiterpartei (PT), die gegen Ende des Jahrzehnts erste bedeutende Wahlerfolge in den Bundesstaaten verbuchen konnte. Von 1989 bis 1998 scheiterte Lula in drei Präsidentschaftswahlen, bis er schließlich 2002 sein Lebensziel verwirklichte.

Vieles war unterdessen auf der Strecke geblieben, das der Mehrheitsfähigkeit im Weg gestanden hatte. Im Vorfeld seines letztendlichen Wahlsiegs machte er erneut der Wall Street seine Aufwartung, unterwarf sich der Politik des Internationalen Währungsfonds und schwor allen ökonomischen Experimenten auf eine Weise ab, die ihm die Unterstützung der einheimischen Wirtschaftseliten sicherte.

Auch Lulas letztendliche Wunschnachfolgerin Dilma Rousseff gehört einer Generation an, die in Sozialkämpfen radikalisiert wurde und nach dem Putsch im Jahr 1964 die Wucht staatlicher Repression unter dem Militärregime zu spüren bekam. Beeinflußt vom Marxismus und katholischen Aktivismus, schloß sie sich in jungen Jahren einer Guerillaorganisation an. Sie wurde verhaftet und verbrachte drei Jahre in einem Foltergefängnis. Nach ihrer Freilassung studierte sie Wirtschaftswissenschaften, ging in den Staatsdienst und unterstützte zunächst eine andere Partei, bis sie sich 2000 der erfolgreichen PT anschloß.

Nachdem Lulas Stabschef José Dirceu, der lange als sein designierter Nachfolger galt, wie so viele andere im Umfeld des Präsidenten nach einem Korruptionsskandal seinen Hut nehmen mußte, rückte Dilma Rousseff in diesen Posten auf. Mit Durchsetzungsvermögen und harter Hand hielt sie Lula den Rücken frei, drückte seine Großprojekte durch und machte sich dabei so unbeliebt, daß es enorme Mühe kostete, sie ihm Wahlkampf als Sympathieträgerin darzustellen.

Ihr Rivale José Serra von der sozialdemokratischen PSDB war in seiner Jugend Vorsitzender des nationalen Studentenverbands, bis er nach dem Militärputsch ins Exil gehen mußte und erst vierzehn Jahre später nach Brasilien zurückkehrte. Er ging in die Politik, stieg in diverse Ämter auf und wurde 2007 Gouverneur des Bundesstaats São Paulo. Einst als Student ins Exil getrieben, setzte er als Gouverneur die Militärpolizei ein, um studentische Streiks und Demonstrationen niederschlagen zu lassen.

Marina Silva von den Grünen, deren bemerkenswerter Stimmengewinn im ersten Wahlgang maßgeblich dazu beitrug, Dilma Rousseff die absolute Mehrheit zu verbauen, stammt wie Lula aus allerärmsten Verhältnissen. Sie wurde als eines von elf Kindern in eine Kautschukarbeiterfamilie geboren, war Analphabetin bis zum 16. Lebensjahr, arbeitete als Putzfrau und schaffte dann den Sprung auf die Universität, wo sie Geschichte studierte. Silva kämpfte an der Seite des 1988 ermordeten Umweltaktivisten Chico Mendes gegen die Abholzung des Regenwalds. Sie trat der in 1980er Jahren der Arbeiterpartei bei, wurde 1994 Senatorin und 2003 als Umweltministerin berufen. Nach vielen verlorenen Kämpfen trat sie 2008 enttäuscht von Lulas Umweltpolitik zurück und verließ ein Jahr später auch die Arbeiterpartei.

Am 31. Oktober kommt es zur Stichwahl zwischen Dilma Rousseff (46,9 Prozent) und José Serra (32,6 Prozent), die beide um des Sieges willen Marina Silva (19,3 Prozent) Zugeständnisse machen müssen. Wenngleich die Wählergunst im ersten Durchgang für gewisse Überraschungen gesorgt hat, kann man doch davon ausgehen, daß Lulas Favoritin das Rennen im zweiten Anlauf machen wird. Am Monument des Präsidenten wagte ohnehin keiner ernsthaft zu rütteln, weil dies die Aussichten dramatisch geschmälert hätte. Der ehemalige Gewerkschaftsführer thront als Übervater auf seinem Platz in der Geschichte, den sich die frühere Guerillakämpferin, der exilierte Studentenführer und die vormalige Umweltaktivistin erst noch verdienen wollen. Was sie vereint, ist die erfolgreiche Bewältigung ihrer aufrührerischen Vergangenheit zugunsten einer parteipolitischen Karriere, die sie bis in Reichweite des höchsten Staatsamts geführt hat. Der "Lulaismus" soll weitergehen, wenngleich Zweifel angebracht sind, ob jemandem diese übergroßen Stiefel passen. Im Jahr 2014 wird wieder gewählt, und sollte Marina Silvas Stern nicht unterdessen sinken, wird auch die grüne Variante innergesellschaftlicher Bindekraft und außenpolitischen Großmachtstrebens Gewehr bei Fuß stehen.

Anmerkungen:

[1] Brazilian election points to continuity of 'Lulaism' (01.10.10)
www.wsws.org

[2] Grüne Newcomerin ist eigentliche Wahl-Siegerin (04.10.10)
www.welt.de

4. Oktober 2010