Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

LATEINAMERIKA/2450: Schreckensbilanz Mexikos - Eskalation des Mordens (SB)


Im vergangenen Jahr mehr Gewaltopfer als im Irak


Nationalstolz ist ein zwielichtiges Phänomen, dem man im Falle Mexikos in der Vergangenheit zumindest ein eingefleischtes Mißtrauen gegen den übermächtigen Erzfeind im Norden zugute halten konnte. Die Überzeugung, daß aus den Vereinigten Staaten, die einst im Zuge ihrer expansiven Konsolidierung den Mexikanern gut die Hälfte ihres früheren Staatsgebiets geraubt haben, nichts Gutes kommen könne, fand ihren Niederschlag bis hinein in die Verfassung Mexikos, dessen Ressourcen und Staatsunternehmen in beträchtlichem Umfang vor ausländischem Zugriff abgesichert wurden. Doch die bei aller Abhängigkeit von den USA traditionell geübte Zurückhaltung ist längst Schnee von gestern, zermalmt von dem Bestreben mexikanischer Eliten, das Heil ihrer Macht und Pfründe im Schulterschluß mit dem größten Räuber zu suchen. Das Kalkül, sich im Bündnis mit Washington entscheidende Vorteile gegenüber dem Rest Lateinamerikas zu verschaffen, machte die Rechnung ohne den Wirt: Wenngleich als Verbund zu Lasten anderer Wirtschaftsblöcke konzipiert, war Mexiko als schwächstem Glied an der Seite der USA und Kanadas nie etwas anderes als Indienstnahme und Ausplünderung im Binnenverhältnis zugedacht.

Die bittere Bilanz der Freihandelszone NAFTA nach den Konditionen Washingtons war für Mexiko nicht nur ein wirtschaftliches Verlustgeschäft, sondern darüber hinaus eine in seiner Geschichte beispiellose und in wesentlichen Sektoren unumkehrbaren Abhängigkeit von der hochindustrialisierten und hochsubventionierten Ökonomie der USA. Millionen kleinbäuerlicher Existenzen gingen vor die Hunde, wie überhaupt die Produktion von Nahrungsmitteln unter dem Druck billiger US-Importe schweren Schaden nahm. Extreme Zuspitzungen wie die "Tortilla-Krise" zeugten von der Preisgabe relativ autonomer Versorgung selbst bei einem Grundnahrungsmittel der armen Bevölkerungsmehrheit wie Maismehl.

Ein Grundübel ist die erdrückende Abhängigkeit von den USA, die mit 48 Prozent der Hauptlieferant und mit einem Anteil von 80,5 Prozent auch fast einziger Abnehmer mexikanischer Waren sind. Die Gewinne aus dem Warenaustausch sind auf Seiten Mexikos ungewöhnlich gering, was insbesondere auf die Unterentwicklung der Industrie zurückzuführen ist, die lediglich angelieferte Teile montiert. Obwohl der Exportanteil 28 Prozent der mexikanischen Wirtschaftsleistung ausmacht, schrieb das Land beim Außenhandel und unter die Leistungsbilanz in den vergangenen Jahren regelmäßig rote Zahlen. [1]

Während der Anteil von Profiten und Renditen am Volkseinkommen inzwischen sagenhafte 61,6 Prozent ausmacht, ist der Anteil der Löhne auf außerordentlich niedrige 29,2 Prozent gefallen. Wie sich einmal mehr erwies, blieb die vollmundig prognostizierte Wohlfahrt der Mexikaner im Zusammenschluß mit dem haushoch überlegenen Giganten jenseits des Rio Grande del Norte ein Gespinst trügerischer Hoffnungen und gezielt eingesetzter Propaganda nicht nur der USA, sondern auch der mexikanischen Führungsschichten.

Grundwiderspruch bleiben die kapitalistischen Verwertungsverhältnisse, die im Falle Mexikos eine selbst für lateinamerikanische Verhältnisse extreme soziale Polarisierung zur Folge haben. Urfurcht der Eliten bleibt die Hungerrevolte, die zu verhindern oder einzudämmen das erste Gebot der Herrschaftssicherung ist. Der Pakt einheimischer Despoten und Oligarchen oder modernerer Varianten gesellschaftlicher Dominanz mit der Hegemonialmacht gegen die eigene Bevölkerung hat in dieser Weltregion eine lange Tradition. Zu welchem Blutbad diese entufern würde, konnten bei Amtsantritt Präsident Felipe Calderóns im Dezember 2006 nicht einmal seine schärfsten Kritiker, die ihm Wahlbetrug zur Last legten, ahnen.

Calderón setzte nicht nur das Werk seiner Vorgänger fort, Mexiko für den Zugriff der USA zu öffnen und die letzten Bastionen der Abschottung zu schleifen. Weit darüber hinaus verwandelte er sein Land in einen Kriegsschauplatz, auf dessen Schlachtfeldern die Massaker wüten, die sich die Vereinigten Staaten mit Hilfe ihres Vasallen vom Leib halten. Fast bis zur Unkenntlichkeit als "Antidrogenkampf" verschleiert, handelt es sich im Kern doch um einen mit grausamsten Mitteln ausgetragenen Sozialkampf im Hexenkessel aufgestauter Armutsmigration. Mit der "Merida-Initiative" sicherte sich Calderón nach kolumbianischem Vorbild militärischen Rückhalt der USA im Bürgerkrieg, den er mit seiner Kampfansage an die Kartelle entfesselte. Den Sozialkampf zu leugnen und zu vernebeln, indem die Sicherheitsfrage strategisch in den Rang der maßgeblichen Bezugsgröße des Denken und Handelns erhoben wird, hat das Land mit einer jährlichen Rate an Gewaltopfern überzogen, die selbst jene Afghanistans oder des Iraks in den Schatten stellt.

Wie die Tageszeitung "El Universal" unter Berufung auf die Generalstaatsanwaltschaft dieser Tage berichtet hat, sind im mexikanischen Drogenkrieg 2010 insgesamt 12.456 Menschen eines gewaltsamen Todes gestorben, mehr als je zuvor in einem Jahr. In den vier Jahren seit dem Amtsantritt Felipe Calderón wurden nach offizieller Zählung 30.196 Menschen getötet [2], wofür man in einer künftigen Bewertung seiner Präsidentschaft sicher eine Wortwahl finden wird, die das eskalierende Blutvergießen untrennbar mit seinem Namen in Verbindung bringt.

Jüngsten Umfragen zufolge hält inzwischen die Hälfte der mexikanischen Bevölkerung den Kampf Calderón gegen die Drogenkriminalität für gescheitert. So schätzten in einer Ende November veröffentlichten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Mitofsky 49 Prozent der Befragten den Kampf als erfolglos ein, während nur 37 Prozent Fortschritte zu erkennen glaubten. Kaum waren diese für die Regierung desaströsen Zahlen veröffentlicht, als der Präsident seine Strategie auch schon uneingeschränkt verteidigte. Die Gewalt in einigen Landesteilen sei kein Resultat seiner Kampagne, für sie seien vielmehr allein die Drogenkartelle verantwortlich. [3]

Aus naheliegenden Gründen liegen die gefährlichsten Städte und Regionen an der Grenze zu den USA. Dort generiert das Drogengeschäft dank seiner unmittelbaren Nähe zum größten Absatzmarkt die höchsten Erlöse, weshalb die Kämpfe um diese Reviere mit denkbar größter Grausamkeit ausgetragen werden. Vor allem an den großen Grenzübergängen wie Ciudad Juárez und Tijuana tobt ein Krieg zwischen den Kartellen, der bislang selbst die hochgerüsteten Sicherheitskräfte zu Statisten degradiert oder sie kurzerhand rekrutiert. Allein in Ciudad Juárez, wo sich das Juárez- und das Sinaloa-Kartell einen gnadenlosen Krieg um Transportrouten und Märkte liefern, starben mehr als 3000 Menschen eines gewaltsamen Todes. Bei einem der brutalsten Überfalle stürmten im Oktober vermummte Männer eine Hinterhofparty und eröffneten wahllos das Feuer auf die jungen Gäste. Offiziellen Angaben zufolge starben vierzehn Menschen, 20 weitere wurden verletzt. Dieser Zwischenfall war bereits das dritte derartige Massaker in Ciudad Juarez im vergangenen Jahr.

Landesweit wurden zudem etwa 2000 Polizisten und Soldaten getötet. Ermordet wurden auch Politiker, darunter dreizehn Bürgermeister. Nach Angaben der Nichtregierungsorganisation Press Emplem Campaign (PEC) kamen vierzehn Journalisten ums Leben. Beim größten Massaker des vergangenen Jahres starben 72 Migranten aus Mittelamerika, die auf einer Ranch erschossen wurden. Zuvor hatten sie sich geweigert, für ein Drogenkartell zu arbeiten.

Nach offiziellen Erkenntnissen sind in Mexiko sieben mächtige Kartelle am Werk, zu denen sich zahlreiche kleinere Banden gesellen. Die Drogenkartelle verfügen oftmals über eigene Mörderbanden, deren Hauptaufgabe die Einschüchterung und Dezimierung der Konkurrenz ist. Mit nahezu uneingeschränkter Handlungsgewalt ausgestattet, führen solche Gruppierungen wie insbesondere die aus Paramilitärs hervorgegangenen Zetas über kurz oder lang ihre eigenen Geschäfte und Kriege, wobei sie in jüngerer Zeit vor allem mit der Entführung, Erpressung und Ermordung von Migranten in Erscheinung getreten sind.

Da die örtliche Polizei auf der Lohnliste der Drogenbanden stand, schickte man Bundespolizisten, worauf alsbald verschiedene Polizeikräfte im Dienst rivalisierender Kartelle gegeneinander kämpften. Calderón entsandte die Armee, die jedoch nur solange als unbestechlich galt, wie ihre Soldaten zu kurz im Einsatz waren, um angesichts der Drohungen oder Bestechungsgelder schwach zu werden. Zuletzt war die Marine an der Reihe, über deren Grad der Infiltration längst der Deckmantel des Schweigens gehüllt wird. Spezialkommandos, Sonderermittler und -staatsanwälte sowie Drogenbeauftragte schufen eine exekutive Hierarchie der Notstandsordnung, die den Kartellen eine ideale Trittleiter bot, diese eigens geschaffene Administration binnen kurzer Zeit bis in höchste Führungskreise zu infiltrieren.

Man kann wohl annehmen, daß sich der mexikanische Staatschef den Verlauf dieser Kämpfe anders vorgestellt hat. Das unterscheidet ihn jedoch nicht von anderen Kriegstreibern und ändert vor allem kein Jota daran, daß die weitreichende Umgestaltung der Innenpolitik im Sinne einer Militarisierung und eines enormen Zuwachses an repressiven Vollmachten des Staates beabsichtigt ist. Sollten die Drogenkriege eines Tages enden, was zu erleben man in Mexiko inzwischen kaum noch zu hoffen wagt, wird sich das Millionenheer hungernder Menschen einer hochgerüsteten staatlichen Notstandsordnung und Waffengewalt gegenübersehen, die sein verzweifeltes Aufbegehren im Keim ersticken soll.

Anmerkungen:

[1] Mexikos Leidensweg (22.12.10)

junge Welt

[2] Schreckliche Bilanz. Bis jetzt mehr als 12.000 Tote in Mexikos Drogenkrieg (02.01.11)
http://www.welt.de/vermischtes/weltgeschehen/article11935130/Bis-jetzt-mehr-als-12-000-Tote-in-Mexikos-Drogenkrieg.html

[3] Schlechte Umfragewerte für Calderon (02.01.11)

http://orf.at/stories/2034169/2034160/

5. Januar 2011