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LATEINAMERIKA/2459: "Wir haben die Schnauze voll" - Widerstand gegen Mexikos Kriegszustand (SB)


Schweigemarsch von mehr als 100.000 Menschen endet in der Hauptstadt


In Mexiko wächst der Widerstand gegen den permanenten Kriegszustand, dem seit Amtsantritt Präsident Felipe Calderóns im Jahr 2006 und dessen Offensive gegen die Drogenkartelle fast 40.000 Menschen zum Opfer gefallen sind. Die Doktrin der Regierung, wonach der sogenannte Antidrogenkrieg nur durch eine Militarisierung der Innenpolitik zu gewinnen sei, verliert in der Bevölkerung an Rückhalt, da der Einsatz von rund 50.000 Soldaten die Eskalation offener Gewalt nicht eingedämmt, sondern forciert hat. Allein im vergangenen Jahr starben nach Angaben der Regierung mehr als 15.000 Menschen, was im Durchschnitt einem Mord alle 34 Minuten entspricht. Vor allem im Grenzgebiet zu den USA häufen sich die Greueltaten, wobei in Ciudad Juárez 2010 mehr als 3000 Menschen getötet wurden.

Von einer Aufklärung kann nur selten die Rede sein kann. Die Justiz löst im Schnitt nur zwei von 100 Fällen, Drogenhandel, Raub, Erpressung und Entführung nehmen weiter zu. Die Institutionen des Staats gelten als durchsetzt von den Kartellen, Polizei und Militär werden kaum weniger gefürchtet als die in erbitterte Machtkämpfe verstrickten Banden.

Zu massenhaften Protestmärschen war es bereits 2008 gekommen, deren Teilnehmer angesichts um sich greifender Raubüberfälle und Entführungen Reformen bei Polizei und Justiz forderten. Wenig davon konnte umgesetzt werden, da die entsprechenden Ansätze im Räderwerk parteipolitischer Kontroversen und jeder Veränderung widerstrebender Institutionen zermahlen wurden. Gestern nun kam ein Schweigemarsch von mehr als hunderttausend Menschen auf dem zentralen Zocalo-Platz in der Hauptstadt an, der am Donnerstag im 90 Kilometer entfernten Cuernavaca begonnen hatte. In 30 weiteren Städten fanden ebenfalls Demonstrationen gegen die Gewalt statt. Auch Mexikaner im Ausland riefen zu Solidaritätskundgebungen auf, in Deutschland waren für den Sonntagnachmittag Demonstrationen in Berlin, Hamburg und Frankfurt am Main geplant.

Die Demonstranten auf dem Zocalo-Platz, von Glockengeläut aus der Kathedrale empfangen, trugen Tausende weiße Ballons, auf denen die Namen der Opfer geschrieben waren. Deren Angehörige lasen bei der Abschlußkundgebung eine lange Liste der Toten vor, worauf die Menge bei jedem Namen die Worte "hätte nicht sterben dürfen" entgegnete. Wie es dazu hieß, wolle man jedem der 40.000 Opfer einer verfehlten und mörderischen Strategie der Militarisierung Gesicht, Namen und Datum geben. [1]

Überraschend hatten sich unterwegs zeitweise mehr als 20.000 vermummte Anhänger der "Zapatistischen nationalen Befreiungsarmee" (EZLN) zum Zeichen ihrer Solidarität dem Zug angeschlossen, den sie laut Berichten lokaler Medien am Vortag schweigend in der Stadt San Cristobal de las Casas begleiteten. Die EZLN hatte 1994 im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas zu den Waffen gegriffen, um gegen Armut und Unterdrückung der Ureinwohner zu Felde zu ziehen. Sie hat den bewaffneten Kampf inzwischen für beendet erklärt und trat nun erstmals seit fünf Jahren wie auch in ungeahnter Stärke in Erscheinung. Auf mitgeführten Transparenten stand zu lesen: "Estamos hasta la madre" (Wir haben die Schnauze voll). [2]

Geprägt hat diesen Leitspruch der 55 Jahre alte Journalist und Poet Javier Sicilia, der an der Spitze der aktuellen Bürgerbewegung gegen den Drogenkrieg in seinem Land steht. Ende März erreichte die Welle der Gewalt seine Familie in Cuernavaca, einem noblen Villenvorort von Mexiko-Stadt. Sein 24jähriger Sohn und sechs weitere junge Menschen wurden ermordet aufgefunden, grausam erstickt und mit Spuren von Folter. Daraufhin verfaßte Sicilia ein Pamphlet des Schmerzes und des Zorns und legte ein literarisches Schweigegelübde ab. Er werde erst dann wieder zur Feder greifen, wenn der Mord an seinem Sohn aufgeklärt und die Gewalt in Mexiko beendet sei.

"Unser Schmerz ist so groß, daß er keine Worte findet", sagte Sicilia vor seinem Aufbruch zum Friedensmarsch, dem sich weitere Angehörige von Opfern anschlossen, darunter der landesweit bekannte Mormonenführer Julián Le Báron, der einflußreiche Unternehmer Eduardo Gallo und Mütter aus Ciudad Juárez. Der tiefgläubige Katholik Sicilia fand nicht nur bei der konservativen katholische Bischofskonferenz Mexikos Zuspruch, sondern vereinte für seine Kampagne Opfervereinigungen und Bauernführer mit Akademikern und Unternehmern.

Charakteristisch für die aktuelle Bürgerbewegung ist die Stoßrichtung ihres Protests, richtet sich dieser doch ausdrücklich gegen Präsident Felipe Calderón und dessen "verfehlte Militarisierung" wie auch die "verdorbenen Institutionen Mexikos". Sicilia fordert ein Ende des Armeeeinsatzes und stattdessen eine Neugründung der Institutionen des Landes. Wolle man den Kartellen den Nährboden entziehen, gelte es, für menschenwürdige Arbeit zu sorgen, Bildung zu ermöglichen und die Kultur zu fördern.

Gekaufte Politiker, Staatsanwälte, Offiziere und Polizisten arbeiten mit den Drogenkartellen zusammen, so daß die Täter auch auf der Seite des Staates zu finden sind. Bei der Abschlußkundgebung forderte Sicilia den Rücktritt des Sicherheitsministers Genaro Garcia Luna, dem Verbindungen zum Sinaloa-Kartell nachgesagt werden. "Wie ist es möglich, dass Gouverneure einfach so weiterregieren, obwohl allgemein bekannt ist, dass sie mit einem Kartell zusammenarbeiten?", fragte er. Die Drogenbosse hätten den Staat gefesselt, und nur eine interne Säuberung aller Parteien könne diesem Übel Abhilfe schaffen. Andernfalls müsse man sich bei der nächsten Wahl fragen, welchem Kartell man die Stimme geben wolle, drohte Sicilia einen Boykott der Präsidentschaftswahlen 2012 an. [3]

Javier Sicilia schlug einen "Pakt zur Befriedung in Würde und Gerechtigkeit" vor, der unter anderem eine neue Strategie vorsieht, in der anstelle des militärischen Ansatzes die Wahrung der Menschenrechte sowie eine strikte Trennung von polizeilichen und militärischen Aufgaben an erster Stelle stehen. Zudem fordert er die Regierung auf, endlich einige der besonders auffälligen Morde aufzuklären. Der Pakt soll im Juni in Ciudad Juárez - auch Welthauptstadt des Verbrechens genannt - von diversen Menschenrechtsorganisationen und Bürgerrechtsgruppen unterzeichnet werden.

Dem gestrigen Schweigemarsch waren im Zuge der Kampagne diverse kleinere Demonstrationen und Aktionen vorausgegangen, so auch Kundgebungen von mehr als 40.000 Menschen mit Javier Sicilia in Cuernavaca und rund 10.000 auf dem Zocalo-Platz am 6. April sowie Märsche in zahlreichen weiteren Bundesstaaten. Bezeichnend waren schon damals das breite Spektrum der Teilnehmer, die Vielfalt der Aktionsformen und insbesondere die weitreichenden Forderungen: Nicht nur wurden Präsident und Regierung der Komplizenschaft bei diesem Morden bezichtigt, sondern auch die Waffenlieferungen aus den USA, das Monopol der führenden Medienkonzerne und nicht zuletzt zahlreiche soziale Fragen auf die Tagesordnung des Protests gesetzt. [4]

Javier Sicilia, ein sozial engagierter Journalist und Schriftsteller, doch lebensgeschichtlich gewiß kein Verfechter radikaler Positionen, hat das lähmende Schweigen und die Resignation durchbrochen und zahllosen Landsleuten eine Stimme gegeben. Was soll daraus in Mexiko schon werden, werden viele gelangweilt oder entmutigt abwinken. Dasselbe hat man noch vor kurzem mit Blick auf die arabischen Länder Nordafrikas und Vorderasiens gesagt.

Anmerkungen:

[1] Mexiko. Zehntausende protestieren gegen blutigen Drogenkrieg (09.05.11)
http://www.mz-web.de/servlet/ContentServer?pagename=ksta/page&atype=ksArtikel&aid=1304918187063&openMenu=1013016724320&calledPageId=1013016724320&listid=1018881578370

[2] Mexiko. Zehntausende protestieren gegen Drogengewalt und Regierungskorruption (09.05.11)
http://www.tagesspiegel.de/politik/zehntausende-protestieren-gegen-drogengewalt-und-regierungskorruption/4150138.html

[3] Mexiko. Hunderttausend gegen den Drogenterror (09.05.11)
http://www.zeit.de/politik/ausland/2011-05/mexiko-schweigemarsch-drogenkrieg

[4] Mexicans Reject Calderons War. Enough Already! (22.-24.04.11)
World Socialist Web Site

9. Mai 2011