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LATEINAMERIKA/2477: Teuerung - Mexiko am Rande der sozialen Revolte (SB)



Protestwelle nach drastischer Erhöhung der Benzinpreise

In Mexiko hat eine drastische Erhöhung der Benzinpreise zum Jahresbeginn eine Protestwelle ausgelöst, die binnen weniger Tage weite Teile des Landes erfaßte und sich zu einer sozialen Revolte auswachsen könnte. Vielerorts wurden Straßen blockiert, Tankstellen besetzt und Zapfsäulen in Brand gesteckt. Demonstranten riegelten elf Lagerstätten und Transportterminals des Erdölkonzerns Pemex ab. Es kam zur Plünderung von Supermärkten, in Aguascalientes stürmten Demonstranten das Regierungsgebäude. In Zentralmexiko wurden nach Angaben des nationalen Kaufhausverbands 79 Filialen überfallen, weitere 170 hätten geschlossen werden müssen oder seien blockiert gewesen. Nachdem die Unruhen inzwischen 28 der 32 Bundesstaaten erfaßt haben, ist nicht mehr ausgeschlossen, daß der um sich greifende Protest Präsident Enrique Peña Nieto das Amt kosten könnte, dessen Rücktritt allenthalben gefordert wird. [1]

In Mexiko-Stadt erfolgten rund 20 Festnahmen wegen Plünderungen, in der umliegenden Region wurden nach Angaben des Gouverneursamtes 161 Verdächtige wegen Vandalismus und Ladendiebstahls festgenommen. Wenngleich auf nationaler und regionaler Ebene zweifellos eine Niederschlagung des Protests in Erwägung gezogen wird, hat dessen Ausmaß und spontanes Anwachsen Politik und Administration doch sichtlich überrascht. Da die Teuerung weite Teile der Bevölkerung in Mitleidenschaft zieht, ist nicht abzusehen, ob ein repressives Vorgehen die erbitterten Menschen von der Straße zwingt oder im Gegenteil Öl ins Feuer der Empörung gießt.

Am 1. Januar waren die Preise für Benzin um 20 Prozent und für Diesel um 16,5 Prozent erhöht worden. Ein Liter Premiumbenzin kostet nun durchschnittlich 17,79 Pesos (rund 90 Cent). Berücksichtigt man, daß der jüngst erhöhte Mindestlohn 80 Pesos (vier Dollar) pro Tag beträgt, wird deutlich, wie verheerend sich die Preiserhöhung für zahllose Menschen auswirkt. [2] Zugleich kommt es auch in vielen anderen Lebensbereichen zu Teuerungen. So stiegen die Preise für die Stromversorgung bereits um 2,6 Prozent, auch Gas wurde teurer, und man rechnet damit, daß in Folge der gestiegenen Transportkosten die Preise für Grundnahrungsmittel und andere Waren des täglichen Bedarfs, die bereits im vergangenen Jahr erheblich gestiegen waren, weiter klettern werden.

Und dabei ist die Erhöhung der Benzinpreise zum Jahreswechsel nur der Anfang. Ende Dezember hatte Pemex-Generaldirektor José Antonio González Anaya in einem Fernsehinterview noch davon gesprochen, er rechne mit einem Preiseinstieg zwischen 15 und 20 Prozent im Laufe des Jahres. Tatsächlich stiegen die Benzin- und Dieselpreise jedoch bereits zu Jahresbeginn auf einen Schlag in dieser Größenordnung. Ab dem 3. Februar soll es zwei Preissteigerungen pro Woche geben, später tägliche "Anpassungen" bis hin zu einer Angleichung an internationale Preise. Damit wächst zugleich die Inflationsgefahr. Die allgemeine Preissteigerung war zuletzt mit 3,5 Prozent bereits so hoch wie seit zwei Jahren nicht mehr. Das Kreditinstitut Citibanamex erwartet, daß die Liberalisierung des Benzinpreises einen Effekt von etwa einem Prozentpunkt auf die Inflationsrate haben dürfte. [3]

Um die Gründe dieser dramatischen Teuerung auszuleuchten und die Bedeutung der aktuellen Protestwelle einzuschätzen, bedarf es eines Blicks auf die Vorgeschichte. Am 18. März 1938 hatte der damalige Präsident Lázaro Cárdenas alle ausländischen Energiekonzerne enteignet und Erdöl und Erdgas verstaatlicht. Bis zu der von Peña Nieto 2013 angestoßenen neoliberalen Reform hatte es keine mexikanische Regierung gewagt, dieses in der Verfassung verankerte Paradigma mexikanischer Energiepolitik anzutasten. Er wolle mit der Reform "Jahrzehnte des Stillstands" überwinden und "Hindernisse beseitigen, die ein andauerndes und nachhaltiges Wachstum Mexikos verhindert haben", erklärte Peña Nieto. Die Energiereform gilt als die bedeutendste Strukturreform der letzten Jahrzehnte in Mexiko und als Kernstück seiner Wirtschaftspolitik. Sie werde für günstigere Gas- und Strompreise sorgen und neue Arbeitsplätze schaffen, verkündete der Präsident damals. Die mexikanische Linke, vor allem in Gestalt ihrer parlamentarischen Vertretung, des PRD (Partido de la Revolución Democrática), sah das anders: Die Reform organisiere den Ausverkauf der natürlichen Ressourcen des Landes und schwäche somit die Souveränität Mexikos. [4]

Am 20. Dezember 2013 veröffentlichte Enrique Peña Nieto nach Annahme entsprechender Vorschläge zur Verfassungsänderung durch die Legislative im Staatsanzeiger das neue Dekret zur Energiereform. Der Staat gab einen Teil der Kontrolle über das nationale Erdöl sowie über Explorations- und Förderrechte von Erdöl und Erdgas in private Hände ab. Fortan hatte die gesamte Kohlenwasserstoffindustrie bis hin zum Fracking Priorität gegenüber allen anderen Aktivitäten auf dem Boden und im Untergrund des nationalen Territoriums. Der Enteignung kleinbäuerlicher Anbauflächen und indigenen Gemeineigentums sowie irreversiblen Umweltschäden größten Ausmaßes war damit Tür und Tor geöffnet. [5]

Im Zuge dieser Privatisierung verlor der Staatskonzern Pemex auch sein Monopol auf den Verkauf von Benzin und Diesel. Mexiko war in der Vergangenheit eines der wenigen Länder weltweit, in denen es einen Einheitspreis für Benzin gab. Die Benzin- und Dieselpreise wurden vom Finanzministerium festgelegt und nach politischen Maßgaben relativ erschwinglich gehalten. Nach der zum 1. Januar in Kraft getretenen Liberalisierung der Benzin- und Gaspreise soll die Freigabe des Benzinpreises stufenweise in fünf Etappen bis Ende 2018 erfolgen, beginnend in den Bundesstaaten im Norden Mexikos.

"Wir gelangen von einem Umfeld, in dem es nur eine Benzinmarke, einen Preis und einen einzigen Anbieter gab, zu einem Schema, in dem wir mehr Freiheit haben, mehr Auswahlmöglichkeit und wo die Preise sich der Kostenentwicklung anpassen", erklärte Mexikos Finanzminister José Antonio Meade. Zum Jahresende bemühte er sich, die Verbraucher mit den Worten zu beruhigen: "In der Geschichte des Landes sind die Benzinpreise eigentlich immer gestiegen. Wir werden den Ölpreis von fiskalischen und politischen Erwägungen entkoppeln."

Präsident Enrique Peña Nieto verteidigte die Preiserhöhung unter Verweis auf die gestiegenen Weltmarktpreise: "Wenn diese Entscheidung nicht getroffen worden wäre, wären die Auswirkungen und Konsequenzen weitaus schmerzhafter geworden", behauptete er. Die Wut und Verwirrung in der Öffentlichkeit könne er aber nachvollziehen. Damit nicht genug, verstieg er sich sogar zu der Prognose, langfristig würden die Preise wieder fallen, sobald seine 2014 angestoßene Reform der Ölindustrie greife. Ob man diese Äußerungen bald als verzweifelte letzte Worte einer gescheiterten Präsidentschaft, die ihre Lage bis zuletzt verkannt und nie die Verantwortung für ihre Taten übernommen hat, als bittere Ironie kolportiert, wird sich zeigen.

Fest steht, daß die Rahmenbedingungen für die Liberalisierung der Spritpreise alles andere als günstig waren. "Die kürzliche Abwertung des Peso und der anhaltende Preisansteig für Benzin in den USA hat das bei der Entscheidung der Preisfreigabe von der Regierung vorhergesehene Szenario stark verändert", heißt es in einer Stellungnahme von Citibanamex. Seit der Vereinbarung der OPEC-Staaten vom November, die Ölproduktion zu drosseln, steigt der Ölpreis auf dem Weltmarkt, während der Peso gleichzeitig auf ein historisches Tief gefallen ist. Im abgelaufenen Jahr verlor die mexikanische Währung gegenüber dem US-Dollar mehr als 20 Prozent, was nicht zuletzt mit dem Wahlsieg Donald Trumps zusammenhing. Dieser hatte im Wahlkampf angekündigt, eine Mauer an der Grenze zu Mexiko errichten, mexikanische Einwanderer ohne gültige Aufenthaltspapiere millionenfach abzuschieben, Auslandsüberweisungen zu blockieren oder zu besteuern und das nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA mit Kanada und Mexiko zu kündigen. Die zweitgrößte Volkswirtschaft Lateinamerikas erwarte ein "Hurrikan der Kategorie 5" hatte Zentralbankpräsident Agustín Carstens schon vor der Präsidentschaftswahl in den USA befürchtet. Der südliche Nachbar bekommt in der Tat am schnellsten und härtesten die Konsequenzen des 8. November 2016 zu spüren.

In den USA leben 34 Millionen Mexikaner und US-Amerikaner mexikanischer Herkunft, elf Millionen besitzen nicht die erforderliche Arbeits- oder Aufenthaltserlaubnis. Sollten sie tatsächlich abgeschoben werden, verschärften sich die Probleme Mexikos gravierend, wo ein beträchtlicher Teil der ökonomisch aktiven Bevölkerung im informellen Sektor arbeitet oder unterbeschäftigt ist. Wachsende soziale Spannungen wären die Folge, die Heere der Kartelle bekämen massenhaft neue Rekruten. 56 Milliarden Dollar fließen jährlich an Auslandsüberweisungen vor allem in die ärmsten Bundesstaaten Mexikos zurück. Schrumpften diese Gelder, stiege die extreme Armut erheblich an. Mit dem einbehaltenen Geld will Trump die berüchtigte Mauer finanzieren, um die Migration zu beenden. Dabei gleicht die 3124 Kilometer lange Grenze zwischen Pazifik und Golf von Mexiko an vielen Stellen wie insbesondere den Grenzstädten ohnehin längst Hochsicherheitstrakten, dazwischen erstrecken sich Wüste, der Fluß und hohe Blechwände. Auch die Drohung Trumps, das Freihandelsabkommen NAFTA zu annullieren oder neu zu verhandeln, dürfte ein Szenario der Bedrohung sein, das eher nicht umgesetzt wird, da der Präsident dafür den Kongreß bräuchte. Dennoch verfehlt die Drohung ihre Wirkung nicht: Im vergangenen Jahr lieferte Mexiko Waren und Dienstleistungen im Wert von über 316 Milliarden Dollar in die USA, 80 Prozent der mexikanischen Exporte gehen praktisch zollfrei ins Nachbarland, 35 Prozent der Arbeitsplätze in Mexiko hängen direkt am Außenhandel. [6]

Spürbare Konsequenzen für Mexiko hat auch der Druck des künftigen US-Präsidenten auf heimische Unternehmen, im eigenen Land zu produzieren. Der Autobauer Ford hat Pläne für ein 1,6 Milliarden Dollar teures Werk in Mexiko beerdigt und investiert statt dessen 700 Millionen Dollar in Flat Rock, Michigan. Auch GM hat Trump mit hohen Einfuhrzöllen für Autos gedroht, die im Niedriglohnland Mexiko gefertigt werden. Der Klimaanlagenbauer Carrier verzichtet bei rund 800 von ursprünglich 1.400 Jobs auf die geplante Verlagerung nach Mexiko. [7]

Daß Donald Trump für die Mexikanerinnen und Mexikaner gegenwärtig das Feindbild Nummer eins ist, nimmt nicht wunder. Harte Konkurrenz macht ihm jedoch ihr eigener Staatschef Enrique Peña Nieto, dem man nicht zuletzt nachträgt, daß er Trump trotz dessen Verunglimpfungen Ende August nach Mexiko eingeladen hatte. Peña Nieto erntete dafür einen Sturm der Kritik, seine Popularität sank wie der Peso auf einen historischen Tiefstand, der angesichts der aktuellen Benzinpreiserhöhung allerdings noch tiefer in den Keller gesackt ist.


Fußnoten:

[1] https://www.jungewelt.de/2017/01-05/001.php

[2] http://www.tagesschau.de/ausland/mexiko-359.html

[3] http://www.dw.com/de/mexiko-unmut-wegen-benzinpreiserhöhung/a-36996188

[4] http://www.dw.com/de/mexikos-energiereform-nimmt-fahrt-auf/a-17849473

[5] https://www.boell.de/de/2015/02/26/die-mexikanische-energiereform-und-die-verteidigung-des-laendlichen-raums

[6] http://www.spiegel.de/politik/ausland/donald-trump-mexiko-zittert-vor-dem-boesen-neuen-nachbarn-a-1120629.html

[7] http://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/ford-streicht-werk-in-mexiko-wie-us-konzerne-vor-trump-kuschen/19207394.html

5. Januar 2017


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