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MILITÄR/786: US-Raketenabwehrsystem wegen Finanzkrise in Gefahr (SB)


US-Raketenabwehrsystem wegen Finanzkrise in Gefahr

Lieblingsprojekt von Amerikas Rüstungsfanatikern vor dem Aus?


Dieser Tage scheint sich für das Raketenabwehrsystem der USA mit Namen Ballistic Missile Defense (BMD), wenn nicht das komplette Aus, so doch zumindest eine starke Schrumpfkur abzuzeichnen. Barack Obama, Amerikas neuer Präsident, hat bereits angekündigt, die vom Vorgänger George W. Bush vereinbarte Stationierung von zehn Abfangraketen in Polen und den Bau einer entsprechenden Radaranlage in Tschechien erst vorzunehmen, wenn erwiesen ist, daß das System tatsächlich funktioniert. Darüber hinaus hat Obama gegenüber Rußland signalisiert, auf die Stationierung der BMD-Komponente in Osteuropa verzichten zu können, wenn Moskau hilft, den Streit um das iranische Atomprogramm beizulegen. Angesichts der derzeitigen Unsicherheit in der Raketenabwehrfrage hat am 17. März die tschechische Regierung unter Premierminister Mirek Topolanek eine für diesen Tag geplante Abstimmung im Parlament von Prag über die Ratifizierung des entsprechenden Stationierungsvertrags mit Washington bis auf weiteres verschoben.

Derzeit stecken die USA und mit ihnen die restliche Welt in der schwersten wirtschaftlichen Krise seit der großen Depression, die vom Herbst 1929 praktisch bis zum Auftakt des Zweiten Weltkrieges dauerte. Die steigende Arbeitslosigkeit, die sinkende Produktion, die vielen Firmenpleiten und die nachlassende Nachfrage nach Konsumgütern, gepaart mit der angeblichen Notwendigkeit der Rettung der großen Wall-Street-Banken vor den Folgen ihrer eigenen dubiosen Umtriebe am internationalen Finanzmarkt der letzten 30 Jahren und - nicht zu vergessen - die Kosten für die anhaltenden Kriege im Irak und Afghanistan, haben gigantische, derzeit schwer zu kalkulierende Löcher in den US-Staatshaushalt gerissen. Deswegen stehen die Ausgabenpläne aller Washingtoner Ministerien auf dem Prüfstand.

Dies trifft sogar auf das bisher als krisensicher geltende Pentagon zu, dessen Etat seit Jahrzehnten unaufhörlich ansteigt und inzwischen rund die Hälfte des gesamten US-Staatshaushalts ausmacht. Wie die Tageszeitung Boston Globe am 17. März unter Verweis auf zwei ungenannte Mitarbeiter von Verteidigungsminister Robert Gates berichtete, bereitet der ehemalige CIA-Chef derzeit "die weitestreichenden Veränderungen im Waffen-Sortiment des Pentagons seit dem Ende des Kalten Krieges vor". Als potentielle Kandidaten für die Streichliste, die Gates angeblich vor Ende diesen Monats bekanntgeben wird, nannte der Artikelautor Bryan Bender den neue Tarnkappen-Zerstörer der Marine und den hypermodernen Kampfjet F-22.

Wollte man jedoch den Rotstift im Pentagon-Haushalt ansetzen, so wäre eine Streichung des Raketenabwehrsystems die nächstliegende und sinnvollste Maßnahme, die man überhaupt ergreifen könnte. Nur unter krasser Mißachtung der sonst üblichen Überprüfungskriterien und durch die fanatische Unterstützung von Waffenfetischisten wie Ex-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und Ex-Präsident Bush hat das System überhaupt das Forschungslabor verlassen und haben die ersten Abfangraketen in Alaska und Kalifornien stationiert werden können. Kritikern wie Theodore Postol vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) zufolge handelt es sich hierbei um nichts als überteuerte Attrappen, die lediglich Sicherheit suggerieren und auf die im Fall eines tatsächlich Angriffs mit einer atomarbestückten, nordkoreanischen Interkontinentalrakete nicht der geringste Verlaß wäre.

Folglich wundert es nicht, daß derzeit die BMD deutlich in der Kritik steht und daß darüber in der amerikanischen Presse groß berichtet wird. In den letzten Wochen sind mehrere, für das Raketenabwehrsystem wenig schmeichelhafte Berichte erschienen: vom Congressional Budget Office "Options for Deploying Missile Defenses in Europe", vom Congressional Research Service "Long-range Ballistic Missile Defense in Europe" und vom Government Accountability Office, vergleichbar dem deutschen Bundesrechnungshof, "Charting a Course for Improved Missile Testing". Aus den drei Berichten, zu deren Ergebnissen am 16. März USA Today, die auflagenstärkste Tageszeitung Amerikas, und am 18. März die enorm einflußreiche New York Times Artikel veröffentlichten, geht Niederschmetterndes hervor.

Erstens hat das Raketenabwehrsystem seit 1985 144 Milliarden Dollar gekostet. Zweitens werden die Kosten der Stationierung der bereits erwähnten Komponenten in Osteuropa auf neun bis dreizehn Milliarden Dollar geschätzt. Drittens hat die Abfangrakete bei fünf von dreizehn Testflügen versagt, während die erfolgreichen Tests als unrealistisch eingestuft werden, weil dabei künstlich nachgeholfen wurde, die feindliche Rakete samt Sprengkopfattrappe zu orten und zu vernichten. Viertens werden die Chancen, daß die Sensoren des Abfangmoduls jemals in der Lage sein werden, nach der Aussetzung des feindlichen Atomsprengkopfs zwischen diesem und den zu erwartenden, als Attrappen ebenfalls im All freigesetzten Ballons zu unterscheiden, mit Null angegeben.

Im Artikel von USA Today wurde Richard Garwin, emeritierter Professor am IBM Research Center, der als Physiker an der Entwicklung der Wasserstoffbombe maßgeblich beteiligt war und der Ende der neunziger Jahre der sogenannten Rumsfeld-Kommission zum Thema der von ballistischen Raketen irgendwelcher "Schurkenstaaten" ausgehenden Bedrohung angehörte, unter Verweis auf das Attrappen-Problem mit der für die BMD vernichtende Aussage zitiert: "Das System ist seine Stationierung nicht wert, denn es wird nicht funktionieren." In der New York Times hingegen sprach sich Mira Ricardel, Vizepräsidentin für Geschäftsentwicklung bei Boeing Missile Defense Systems gegen finanzielle Kürzungen aus, weil diese das ganze hochkomplizierte System in seiner netzwerkartigen Funktionsweise beeinträchtigen könnten.

Einige Zahlen aus dem Bericht des GAO lassen ahnen, welche Einsparungen Obama und Finanzminister Timothy Geithner erzielen könnten, entschlösse sich die US-Regierung, künftig die BMD einfach als Forschungsprojekt statt als angeblich funktionierendes System zu betreiben. Demnach hat die zuständige Missile Defense Agency (MDA) des Pentagons seit 2002 in die Forschung und Stationierung der BMD 56 Milliarden Dollar investiert und wird bis 2014 weitere 50 Milliarden Dollar dafür ausgeben. Es muß angemerkt werden, daß diese Zahlen nur grobe Schätzungen sind. Laut der New York Times wurde im GAO-Bericht die Buchführung der MDA heftig kritisiert, weil sich die Rechnungsprüfer der Kongreßbehörde aufgrund der ihnen vorgelegten Zahlen im sechsten Jahr in Folge nicht imstande sahen, die tatsächlichen Ausgaben für das irrwitzige Vorhaben zu berechnen. Steckten hinter diesen Mißständen nicht die führenden Rüstungskonzerne Amerikas, hätte man längst die Staatsanwaltschaft eingeschaltet.

18. März 2009