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MILITÄR/917: Atommacht USA - der kalkulierbare Krieg ... (SB)


Atommacht USA - der kalkulierbare Krieg ...


Am 25. Januar hat der Aufsichtsrat der renommierten, seit 1945 alle zwei Monate erscheinenden Fachzeitschrift Bulletin of the Atomic Scientists die von ihr seit 1947 geführte, symbolische Atomkriegsuhr von zweieinhalb auf zwei Minuten vor zwölf vorgestellt. Anlaß für die alarmierende Aktion waren das Fehlen von Abrüstungsverhandlungen, die Kriegsrhetorik des amerikanischen Präsidenten Donald Trump, der im vergangenen September beim Auftritt vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York mit der Zerstörung Nordkoreas gedroht hatte, sowie die neue Atomkriegsdoktrin der USA, auch Nuclear Posture Review (NPR) genannt, die zwar am 2. Februar offiziell der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, jedoch bereits seit Mitte Januar in Auszügen zur Presse durchgesickert war.

Bereits am 19. Januar hatte das Pentagon eine neue Militärstrategie publik gemacht, in deren Mittelpunkt nicht mehr wie seit dem 11. September 2001 der "globale Antiterrorkrieg" gegen dschihadistische Gruppen, sondern der "Großmachtswettbewerb" gegen China und Rußland steht. Über beide Entwicklungen sind die politisch und militärisch Verantwortlichen in Moskau und Peking mehr als beunruhigt. China hat die USA des Rückfalls in die alte "Kalter-Kriegs-Mentalität" bezichtigt, sich gleichwohl zur eigenen Zweitschlagskapazität bekannt. Demnach wird die Volksrepublik nur auf den Einsatz von Atomwaffen zurückgreifen, wenn sie ihrerseits mit solchen Mitteln angegriffen wird. Rußland verfolgt in Prinzip auch eine Zweitschlagsdoktrin, beharrt jedoch auf das Recht auf einen atomaren Erstschlag für den Fall, daß der russische Staat und seine Bürger vor der Vernichtung stehen. In einer demonstrativen Reaktion auf die Steigerung der ohnehin aggressiven Haltung der USA hat der Kreml die Verlegung mehrerer ballistischer Kurzstreckenraketen vom Typ 9K720-Iskander nach Kaliningrad angeordnet, was zu heftigen Reaktionen bei den Regierungen in Polen und den baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland geführt hat.

Mehrere Aspekte der ersten NPR seit 2010 geben sehr zu denken. Zunächst spricht der gigantische Umfang der Modernisierung des US-Atomwaffenarsenals den Verpflichtungen der USA gemäß Artikel VI des Nicht-Verbreitungsvertrags zur nuklearen Abrüstung gänzlich Hohn. Die Neuausstattung der strategischen Streitkräfte der USA, welche Trumps Vorgänger, der Friedensnobelpreisträger Barack Obama, noch 2016 vor dem Ausscheiden aus dem Weißen Haus auf den Weg brachte, soll nach Angaben des Rechnungshofs des Kongresses, des Government Accountability Office (GAO), bis zu ihrem Abschluß 2046 sage und schreibe 1,2 Billionen Dollar kosten (Bedenkt man die technischen Herausforderungen des Mammutprojekts und die üblichen Preisexplosionen im amerikanischen Beschaffungswesen, dürfte die eigentliche Endsumme in dreißig Jahren weitaus höher liegen). Was das US-Militär für die ungeheure Geldmenge bekommt, hat der US-Friedensforscher John LaForge in einem am 16. Februar bei Counterpunch erschienenen Beitrag wie folgt beschrieben:

... neue atomar bewaffnete Langstreckenbomber, bodengestützte Raketen und Raketen-U-Boote mit Kernenergieantrieb ($772 Milliarden); neue nukleare Marschflugkörper; die erste gelenkte, freifallende Atombombe und die dazu gehörigen Trägerkampfjets ($25 Milliarden); einen Neubau der Labore und Produktionsstätten in Tennessee, New Mexiko und Missouri ($261 Milliarden); den Ersatz der bisherigen Lenk- und Führungssysteme, welche die Aufrechterhaltung der Drohung mit dem Einsatz jener Waffen ermöglichen ($184 Milliarden). Teilt man die 1,2 Billionen nach Ressorts auf, kommt das GAO zu den Schluß, daß $890 Milliarden an das Pentagon und $352 Milliarden an das Energieministerium und dessen Abteilung für den Bombenbau, bekannt als die National Nuclear Security Administration (NNSA), gehen werden.

Militärexperten und Rüstungsgegner auf der ganzen Welt kritisieren in der neuen NPR der USA vor allem drei Dinge: erstens die Ausweitung der Szenarien, in denen sich Washington den Einsatz von Atomwaffen vorbehält, zweitens den Bau kleinerer Atomsprengköpfe zu genau diesem Zweck und drittens die geplante Bestückung von Marschflugkörpern mit Nuklearsprengköpfen. Durch alle drei Ansätze sehen die Kritiker das Risiko der Auslösung einer Reaktionskette erhöht, was in einem Nukleardesaster einschließlich der Ausrottung der Menschheit enden könnte.

Über die explizite Aufnahme eines als Kriegsgrund geeigneten Hackerangriffs auf die kritische Infrastruktur der USA - eine Maßnahme, deren wahre Urheber ihr Tun einem anderen Akteur oder Staat leicht unterschieben könnten -, ist man in Moskau dermaßen besorgt, daß auf Veranlassung Wladimir Putins Ende Januar drei führende Geheimdienstvertreter aus Rußland dem CIA-Chef Mike Pompeo in Langley, Virginia, einen "beispiellosen Besuch" abgestattet haben. Über die geheimnisumwitterte Begegnung berichteten der ehemalige NSA-Chefkryptologe William Binney und der ehemalige Leiter der Sowjetabteilung bei der CIA, Ray McGovern, am 16. Februar exklusiv bei consortiumnews.com unter der Überschrift "Russians spooked by Nukes-Against-Cyber-Attack Policy".

Gerade die in der NPR vorgesehene Ausrüstung amerikanischer U-Boote und Kampfjets mit atomar bestückten Marschflugkörpern zeugt von einer ungeheuren Verantwortungslosigkeit seitens der strategischen Planer im Pentagon. Marschflugkörper werden bislang ausschließlich mit konventionellen Sprengköpfen bestückt. In dieser Version werden sie auch künftig von den US-Streitkräften geführt werden. Doch wenn die gegnerische Seite im Falle des Ausbruchs von Kriegshandlungen - etwa auf der koreanischen Halbinsel - nicht weiß, ob die auf seine Kommandostellungen, Fliegerhorste, Kriegsschiffe, Panzerbataillone et cetera zurasenden Marschflugkörper der USA konventionell oder atomar bewaffnet sind, wie wird sie reagieren? Bis zum Einschlag warten, bevor entschieden wird, ob man seinerseits Kernwaffen einsetzt, oder bereits vorher atomar loslegen? In der neuen NPR reklamieren die USA für sich eine "Ambiguität", um den eigenen Spielraum so groß wie möglich halten sowie potentielle Gegner im Ungewissen lassen zu können. Doch gerade die Ungewißheit birgt die Gefahr eines atomaren Infernos und dürfte deshalb keinen Platz in der Atomkriegsdoktrin irgendeines Staats finden.

19. Februar 2018


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