Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → REDAKTION


MILITÄR/919: Nervengift in England - Konfliktfortsetzung erwünscht ... (SB)


Nervengift in England - Konfliktfortsetzung erwünscht ...


In der Affäre um den "Nervengift-Anschlag" auf den 66jährigen russischen Überläufer Sergej Skripal und seine 33jährige Tochter Julia Skripal am 4. März im südenglischen Salisbury hat der britische Oppositionsführer im Unterhaus und Vorsitzende der Labour Party, Jeremy Corbyn, den Rücktritt von Außenminister Boris Johnson gefordert. Als es vor zwei Wochen darum ging, so viele NATO-Verbündete und EU-Mitgliedsländer wie möglich für Londons konfrontative Haltung gegenüber Moskau zu gewinnen, hatte Johnson behauptet, die Experten im britischen Bio- und Chemiewaffenlabor Porton Down hätten ihm auf seine ausdrückliche Nachfrage kategorisch erklärt, den verwendeten Kampfstoff als russischen Ursprungs eindeutig identifiziert zu haben. Daraufhin wurden als großes Zeichen der Solidarität mit Großbritannien mehr als 100 russische Diplomaten nach Hause beordert - allein 60 von ihnen aus den USA. Die größte Krise in den Ost-West-Beziehungen seit dem Ende des Kalten Kriegs war perfekt.

Doch nun stellt sich heraus, daß Johnson gelogen hat. Am Vorabend einer von Rußland beantragten Sondersitzung der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) erklärte der Leiter Porton Downs, Gary Aitkenhead, die Experten dort hätten zwar das Kampfmittel Novichok identifiziert, jedoch nicht dessen Herstellungsort. Gleichwohl behauptete Aitkenhead, der selbst kein Wissenschaftler ist, das Mittel, das zur Erkrankung der Skripals geführt habe, hätte "wahrscheinlich" nur ein "staatlicher Akteur" produzieren und zur Anwendung bringen können. Daraufhin löschte das Außenministerium in London eilends eine eigene Twitter-Meldung vom 22. März, in der es Rußland als Übeltäter eindeutig bezeichnet hatte - doch zu spät, denn der Schaden für die Glaubwürdigkeit des Dienstherrn Johnson und der konservativen Regierung Theresa Mays war bereits eingetreten.

Ungeachtet aller transatlantischer und europäischer Verbundenheit strotzen die Angaben der britischen Behörden zum Skripal-Fall nur so vor Widersprüchen. Als das Vater-und-Tochter-Duo bewußtlos am Sonntagnachmittag an einer Parkbank in Salisbury gefunden wurde, vermuteten die Ärzte eine Vergiftung mit dem synthetischen Opioid Fentanyl. Doch nur drei Tage später wartete May mit der Geschichte vom erstem Chemiewaffenangriff auf europäischen Boden seit 1945 auf und warf dem russischen Präsidenten Wladimir Putin vor, diesen selbst im Auftrag gegeben zu haben. Die große Propagandaschlacht war eröffnet. Rußland weist bis heute die Anschuldigungen weit von sich. Tatsächlich fällt es schwer sich vorzustellen, welchen Nutzen Moskau von einer solch spektakulären Beseitigung Skripals, der seit Jahren völlig unbehelligt in Großbritannien lebt, hätte. Dagegen fantasieren die neuen Kalten Krieger, es gehe Putin einfach darum, Zwietracht, Ängste und Unsicherheit zu säen, um die von den USA und Großbritannien mühsam aufrechterhaltene "internationale Ordnung" zu zerstören.

Unklar ist immer noch, wie die Skripals vergiftet wurden. Anfangs hieß es, jemand hätte das Kampfmittel in Julias Gepäck gesteckt. Später war die Rede von einer Verabreichung über die Luftzufuhr am Auto Sergej Skripals. Ganze drei Wochen später erklärte die Polizei, Spuren von Nervengift am Griff der Haustür der Wohnung Skripals gefunden zu haben. Doch wenn dies der Ort des "Anschlags" gewesen ist, wie sollen die Skripals erst mehrere Stunden später - nach dem Besuch in einer Kneipe und Mittagsessen in einem Restaurant - den Kontakt mit dem hochtoxischen Stoff bemerkt haben? Am Anfang der Affäre ging man davon aus, die Skripals würden den Angriff nicht überleben und wenn, dann aufgrund der zu erwartenden Schäden am Nervenkostüm nur im geistig debilen Zustand. Um so überraschend war vor zwei Tagen die Nachricht, daß die beiden Skripals auf dem Weg zu einer kompletten Genesung sind. Gestern hat das russische Fernsehen die Tonaufnahme eines Telefongesprächs ausgestrahlt, das Julia vor kurzem mit ihrer Cousine Viktoria Skripal geführt hat.

Was die Einhaltung der Regeln der "internationalen Ordnung" betrifft, so wird Großbritannien dieser Tage seinem Spitznamen "perfides Albion" mehr als gerecht. Ungeachtet der Bestimmungen des OPCW-Vertrages lehnen es die Briten ab, den Russen Proben des angeblich gefundenen Novichok zur Verfügung zu stellen. Darüber hinaus verweigern die britischen Behörden dem russischen Botschafter in London und seinen Mitarbeitern den Zugang zu den Skripals, obwohl sie ihn nach konsularischem Recht längst hätten gewähren müssen. Ähnliches gilt für die USA. Zu den ausgewiesenen russischen Diplomaten gehören mehrere, die bei den Vereinten Nationen in New York akkreditiert waren. Offenbar nutzen London und Washington den Skripal-Fall, um Rußland seinen Status als Veto-Macht im UN-Sicherheitsrat streitig zu machen. In dieses Szenario fügen sich die Wahnvorstellungen der amerikanischen UN-Botschafterin Nikki Haley nahtlos ein, die erklärt hatte, was in Salisbury passiert sei, könne genausogut in New York geschehen, ließe man Putins mörderisches Treiben durchgehen.

Seit Wochen behauptet Boris Johnson, der Skripal-Fall sei der Beweis dafür, daß Rußland seine kompletten C-Waffenbestände nicht - wie 2017 von der OPCW bescheinigt - zerstört habe, sondern heimlich Forschung an Novichoks betreibe. Kaum war Johnson als Lügenbaron entlarvt worden, da setzte die britische Regierung die nächste Märchengeschichte in der Welt. Am 5. April ließen die Kriegstreiber an der Themse an verschiedene Medienkanäle durchsickern, daß die Regierung in London im Besitz eines russischen "Handbuchs für Attentäter" sei, in dem unter anderem die richtige Anbringung von Novichoks an Türgriffen erläutert werde. Angeblich hätte der britische Auslandsgeheimdienst MI6 noch vor dem Skripal-Vorfall den Standort von Rußlands geheimen C-Waffenlabor herausgefunden. Praktisch zeitgleich bezichtigte Alistair Burt, Nahost-Abteilungsleiter im britischen Außenministerium, Rußland, den fortgesetzten Einsatz von Chemiewaffen durch die syrischen Streitkräfte unter anderem durch die Verhinderung entsprechender Verurteilungen durch den UN-Sicherheitsrat zu decken.

Im August 2013 erfolgte im Damaskus ein schwerer Chemiewaffenangriff mit vielen Toten, den die Gegner Baschar Al Assads nutzen wollten, um Barack Obama dazu zu bringen, eine Großintervention der US-Streitkräfte im Syrienkrieg zu veranlassen. Doch dazu ist es nicht gekommen, erstens, weil das Parlament in London gegen eine Beteiligung britischer Truppen votiert hatte, zweitens, weil Obama die versuchte Manipulation durch eine Falsche-Flaggen-Operation durchschaut hatte, und drittens, weil Rußland Syrien zum Verzicht auf sein komplettes C-Waffenarsenal bewegen konnte. Trotzdem drängen dieselben Kräfte im Westen auf ein offenes Eingreifen ihrer Leute in den Syrien-Konflikt unter dem Vorwand, die Verwendung von chemischen Kampfstoffen zu unterbinden. Zu dieser Kampagne gehören sowohl regelmäßige Provokationen syrischer Rebellen mit eigenen C-Waffen als auch offenbar der Angriff auf die Skripals.

6. April 2018


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang