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NAHOST/969: Israel testet neues Abwehrsystem gegen Kurzstreckenraketen (SB)


System "Iron Dome" soll Geschosse aus Gaza und dem Libanon abfangen


Aufgrund seiner geographischen Verhältnisse und der Konfiguration seiner Konflikte ist Israel ein Land, dessen prinzipielle Verwundbarkeit durch Raketenbeschuß ins Auge sticht. Anders als seine wichtigsten Schutzmächte in Gestalt der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union beschränkt sich sein Staatsgebiet auf einen schmalen Streifen, in dessen unmittelbarer Nachbarschaft potentiell feindliche Mächte residieren. Während für die USA und die Länder Westeuropas ein Raketenangriff aus dem Nahen Osten eine allenfalls fiktive Gefahr darstellt, liegt das israelische Territorium so dicht an möglichen gegnerischen Abschußbasen, daß die Frage der Raketenabwehr höchste Priorität besitzt.

Dies führte in der Vergangenheit dazu, daß Israel die modernsten US-amerikanischen Raketenabwehrsysteme erhielt, um sich in den Golfkriegen gegen Beschuß aus dem Irak und später gegen Angriffe aus dem Südlibanon zu wappnen. Wie bei allen essentiellen Rüstungskomponenten verließen sich die Israelis nicht allein auf importierte Waffen, sondern strebten Eigenentwicklungen an, die häufig zu den wirksamsten ihrer Art gerieten. Möglich wurde dies zum einen durch den Zugang zu modernen Systemen, die von Verbündeten zur Verfügung gestellt und wie im Falle der deutschen U-Boote und gewünschten Fregatten kostenlos oder mit erheblicher Mitfinanzierung der Herkunftsländer geliefert wurden. Was von Israel begehrt, aber von der jeweiligen Regierung verweigert wurde, konnte häufig der Mossad auf dunklen Kanälen beschaffen.

Zum anderen können die dennoch anfallenden immensen Kosten, die einen enormen Teil des israelischen Staatshaushalts ausmachen und diesen schwer belasten, durch die höchste Rüstungshilfe, die Washington einem einzelnen Staat gewährt, abgefedert werden. Israel ist auf den ersten Blick ein kleines und verwundbares Land, de facto jedoch ein Militärgigant, der in dieser Hinsicht zu den weltweit führenden Mächten zählt.

Der Raketenbeschuß ist somit eine reale Gefahr, jedoch nicht minder eine Vorwandslage, die den unablässigen Verteidigungsfall suggeriert und jeden eigenen Angriffskrieg unter das Recht und die Notwendigkeit subsumiert, die Existenz des Staates Israel mit allen Mitteln zu verteidigen, selbst wo diese offenkundig keineswegs gefährdet ist. Regierung und Streitkräfte halten sich stets die Option offen, beispielsweise im Bau befindliche Atomanlagen im Irak, in Syrien oder womöglich bald auch im Iran mit einem Militärschlag zu zerstören, ohne daß die vorhandene atomare Bewaffnung Israels und dessen Zweitschlagskapazität dank der deutschen Kriegsschiffe auf der internationalen Bühne ernsthaft thematisiert würde.

Deutlich wird die nicht selten extreme Asymmetrie der militärischen Mittel und die höchst verzerrte Debatte über die Gefahrenlage insbesondere im Falle der Kassam- und Katjuscharaketen, die von Palästinensern aus dem Gazastreifen oder der Hisbollah aus dem Südlibanon abgefeuert werden können. Zieht man die beiderseitigen Opferzahlen und angerichteten Schäden heran, könnte das Ungleichgewicht kaum größer sein. Brutalster Auswuchs ungezügelter Sanktionsgewalt war die Operation "Gegossenes Blei" im Gazastreifen vor Jahresfrist, bei der rund 1.400 Palästinenser unter dem Vorwand getötet wurden, dies sei eine angemessene Reaktion auf den Raketenbeschuß, der nur auf diese Weise zum Schweigen gebracht werden könne.

Wie die Tageszeitung Jerusalem Post unter Berufung auf eine Mitteilung des Verteidigungsministeriums berichtete, hat Israel in dieser Woche erneut erfolgreich das Raketenabwehrsystem "Iron Dome" (Eisenkuppel) getestet, das künftig Geschosse aus dem Gazastreifen und dem Libanon abfangen soll. Wie es dazu hieß, habe "Iron Dome" bei diesem zweiten Test mehrere verschiedene Raketentypen gleichzeitig erkannt und zerstört. Zudem habe das System erkannt, welche Raketen auf ein offenes Feld zielten, und die Geschosse in diesen Fällen nicht abgefangen. [1]

Den Angaben zufolge kann das System Raketen mit einer Reichweite zwischen fünf und 70 Kilometern abfangen. Die Armee hat demnach bereits ein neues Bataillon aufgestellt, das derzeit für den Umgang mit der Anlage trainiert. Die ersten Abwehrbatterien sollen nach einem Bericht des israelischen Fernsehsenders Kanal 10 im Mai zunächst in der Nähe des Gazastreifens aufgestellt werden, worauf anschließend weitere Einheiten auch an der Grenze zum Libanon zum Einsatz kommen. [2]

Die Forschung an dem Raketenabwehrsystem wurde seit dem Krieg gegen die Hisbollah-Miliz im Libanon im Jahr 2006 intensiviert. Damals schlugen rund 4.000 feindliche Raketen in Nordisrael ein. Palästinenser aus dem Gazastreifen hatten im Jahr 2008 über 2.000 Raketen auf Südisrael abgefeuert. Im vergangenen Jahr wurden 566 Raketenangriffe aus diesem Gebiet gezählt.

Wenngleich als Verteidigungswaffe ausgewiesen, ist ein hochmodernes Raketenabwehrsystem zwangsläufig nur im Kontext beiderseitiger Bedrohung und Angriffsoptionen zu bewerten. In diesem Fall soll die Spitze der Militärtechnologie einem Gegner Paroli bieten, der zumindest im Fall der Palästinenser im Gazastreifen bislang nur über vergleichsweise primitive und zumeist selbstgebaute Raketen geringer Reichweite und Treffsicherheit verfügt. Sollte die "Eisenkuppel" auch in der Praxis die Anforderungen erfüllen, liefe sie auf die nahezu vollständige Wehrlosigkeit der Palästinenser hinaus.

Da die Blockade des Gazastreifens nach Einschätzung internationaler Hilfsorganisationen und humanitärer Initiativen den Charakter eines schleichenden Genozids angenommen hat, ließe eine wirksame militärische Abschirmung Israels und damit die fast komplette Neutralisierung des militanten Widerstands das Allerschlimmste für die palästinensische Bevölkerung in Gaza befürchten - sofern man deren Leiden überhaupt noch für steigerbar erachtet.

Anmerkungen:

[1] Sicherheit. Abwehrsystem stoppt erfolgreich Kassam- und Katjuscharaketen (07.01.10)
http://www.israelnetz.com/themen/sicherheit/artikel- sicherheit/datum/2010/01/07/abwehrsystem-stoppt-erfolgreich-kassam-und- katjuscharaketen/

[2] Israel testet neues Raketenabwehrsystem (07.01.10)
http://tagesschau.sf.tv/supplynet/companies/sf/eigene_objekte/sf_tagesschau/nachrichten/archiv/2010/01/07/international/israel_testet_neues_raketenabwehrsystem

7. Januar 2010