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NAHOST/981: Streit um Parlamentswahlen bringt Irak dem Chaos nahe (SB)


Streit um Parlamentswahlen bringt Irak dem Chaos nahe

Der Irak droht an der Konfrontation USA-Iran zugrundezugehen


Die für den 7. März geplanten Parlamentswahlen im Irak drohen zur Farce zu werden, nachdem am 20. Februar Saleh Al Mutlak, einer der führenden sunnitischen Politiker des Landes, bekanntgegeben hat, daß seine Front für den Nationalen Dialog die Abstimmung boykottieren wird. Anlaß für die Entscheidung zum Verzicht auf die Teilnahme an den Wahlen war die massive Manipulation der Kandidatenliste, welche politische Verbündete des schiitischen Premierministers Nuri Al Maliki in den letzten Wochen vorgenommen haben. Nun drohen wieder die Spannungen zwischen Schiiten und Sunniten in Gewalt bis hin zum erneuten Bürgerkrieg auszuarten. Hauptursache der Spannungen im Zweistromland ist die Konfrontation zwischen den USA und dem Iran, die ihren eigenen Streit um Vorherrschaft in der Region auf dem Rücken der Iraker austragen.

Am 14. Januar hatte eine Einrichtung mit Namen Accountability and Justice Commission, deren erklärtes Ziel die Verhinderung der Unterwanderung des irakischen Staates durch die früheren Verbündeten und Anhänger Saddam Husseins ist, ganze 572 Kandidaten von den Parlamentswahlen ausgeschlossen. Bei den Betroffenen handelte es sich ausschließlich um Sunniten und säkulare Schiiten, die als Vertreter der Iraqiya-Parteienkoalition, zu der Al Mutlaks Front für den Nationalen Dialog gehört und die vom ehemaligen Premierminister Ijad Allawi und dem derzeitigen Vizepräsidenten Tariq al-Hashemi angeführt wird, für die Wahl kandidieren wollten. Bei den Provinzwahlen im Januar 2009 waren sunnitische und nationalistische Parteien ziemlich erfolgreich, während die religiös-schiitischen Gruppierungen in der Wählergunst zurückfielen. Insbesondere gilt dies für Ammar Al Hakims Obersten Islamischen Rat im Irak (Islamic Supreme Council of Iraq - ISCI), der derzeit die größte Fraktion im Bagdader Parlament stellt und dem enge Verbindungen zur Führung des Irans nachgesagt werden.

In Reaktion auf diese Niederlage und Signale seitens Malikis, daß er eventuell zur Teilnahme seiner Dawa-Partei an einem fraktionübergreifenden, nationalistischen Block mit den Sunniten und säkulären Schiiten bereit wäre, sollen nach Angaben Robert Dreyfuss' von der linken US-Zeitschrift The Nation die Iraner, vertreten vor allem durch den Parlamentssprecher Ali Larijani und Brigadiergeneral Kassim Suleimani, den Oberbefehlshaber der Eliteeinheit Quds bei der Revolutionsgarde, die Bildung der schiitisch-dominierten Irakischen Nationalallianz (INA) organisiert haben, die aus ISCI, den Kräften des stets als Radikalprediger titulierten Muktada Al Sadrs, einer Gruppe Dawa-Abtrünniger um den ehemaligen Premierminister Ibrahim Al Jaafari und aus Achmad Chalabi, dem früheren Liebling derjenigen US-Neokonservativen, die er vor dem Einmarsch angloamerikanischer Streitkräfte im März 2003 mit fingierten Hinweisen hinsichtlich der Existenz irgendwelcher Massenvernichtungswaffen im Arsenal Saddam Hussein versorgt hatte, besteht. Seit Chalabi 2004 in den Verdacht geraten ist, nachrichtendienstliche Erkenntnisse der USA dem Iran zukommen gelassen zu haben, ist er in Washington natürlich unten durch.

Chalabi und Ali Faisal Al Lami, ein Gewährsmann Al Sadrs, stehen jener Gerechtigkeitskommission vor, die durch das spektakuläre Verbot der Teilnahme der mehr als 500 Kandidaten der Konkurrenzparteien zur INA ernsthafte Fragen ob der Legitimität der bevorstehenden Parlamentswahlen hat aufkommen lassen. Aus Sorge um die Zukunft des demokratischen Projekts im Irak und die politische Stabilität des Landes überhaupt schickte US-Präsident Barack Obama seinen Vize Joseph Biden Ende Januar nach Bagdad. Zusammen mit dem US-Botschafter in der irakischen Hauptstadt, Christopher Hill, setzte sich der ehemalige Senator aus Delaware gegenüber Premierminister Al Maliki für eine Aufhebung des Kandidatenverbots ein. Mit Bestürzung wurde in Washington die negative Antwort Malikis, der es sich sogar herausnahm, sich öffentlich die "Einmischung" der Amerikaner in die irakische Innenpolitik zu verbeten, aufgenommen.

Zwar hat in der Zwischenzeit ein Gericht die Zahl der verbotenen Kandidaten auf 145 reduziert, doch dies hat nichts an dem in den USA entstandenen Eindruck, daß in Bagdad inzwischen die Teheraner Mullahs mehr zu sagen haben als das Weiße Haus, das Pentagon und das State Department zusammen, geändert. Angesichts der wieder ansteigenden Gewalt - allein am 21. Februar kamen im Irak 23 Menschen, darunter neun Kinder, durch eine Serie von Bombenanschlägen und brutalen Überfällen, ums Leben - überlegt man beim US-Militär, ob man nicht den Zeitplan für den Abzug amerikanischer Streitkräfte aus dem Irak revidieren sollte. Derzeit sind 96.000 US-Soldaten im Irak. Bis Ende August sollen alle Kampftruppen der USA abgezogen und bis Ende 2011 die verbliebenen 50.000 Militärs, welche die neuen irakischen Streitkräfte ausbilden, das Land verlassen haben. Bei einer Pressekonferenz im Pentagon gab am 21. Februar der Armeegeneral Raymond Odierno, derzeit US-Oberbefehlshaber im Irak, bekannt, daß er einen "Plan B" für den Fall habe, daß die Gewalt im Irak eskalieren oder es in Bagdad nach den Parlamentswahlen zur Krise um die Regierungsbildung kommen sollte. Laut Odierno ist der Plan sogar mit dem Weißen Haus abgesprochen worden.

In einem bemerkenswerten Gastkommentar, der am 24. Februar bei der New York Times erschienen ist, hat der Militärkorrespondent Thomas Ricks, der 2007/2008 mit seinen positiven Artikeln in der Washington Post wesentlich zum allgemeinen Eindruck des Erfolges der "Eskalationsstrategie" von US-General David Petraeus im Irak beitrug, an Präsident Obama appelliert, auf sein Wahlversprechen hinsichtlich des Abzugs aller amerikanischen Streitkräfte aus dem Irak zu verzichten und das Zweistromland auf Jahre hinaus besetzt zu halten - um der Stabilität der Region und der Verhinderung eines erneuten Bürgerkriegs zwischen Sunniten und Schiiten willen. Ricks steht mit seiner Meinung nicht allein. Bei der Politelite in Washington setzt sich die Sichtweise durch, man habe Saddam Hussein nicht gestürzt und den ganzen Aufwand der Eroberung und jahrelangen Besetzung des Iraks auf sich genommen, nur um sich schließlich mit einer pro-iranischen Regierung in Bagdad abfinden zu müssen. Der offenbar nicht mehr so ganz unterschwellige Streit um die Früchte des Regimewechsels im Irak dürfte die Spannungen zwischen den USA und der Islamischen Republik des Irans weiter ansteigen lassen und könnte den Anlaß für den seit Jahren drohenden Krieg zwischen Washington und Teheran liefern.

24. Februar 2010