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NAHOST/1086: Der Bürgerkrieg im Irak droht wieder aufzuflammen (SB)


Der Bürgerkrieg im Irak droht wieder aufzuflammen

Konfrontation Teheran-Washington läßt den Irak nicht zur Ruhe kommen


In seinem jüngsten Artikel für die Zeitschrift New Yorker, der am 31. Mai im Internet erschienen ist, widmete sich Seymour Hersh hauptsächlich dem Thema der iranischen Atombombe und der Frage, warum es sich dabei nicht minder um einen Popanz wie dem der ABC-Waffen Saddam Husseins handelt, deren angebliche Existenz als Begründung für den angloamerikanischen Einmarsch im März 2003 in den Irak herhalten mußte. Doch auch wenn Hersh eindringlich davor warnt, daß die Kriegstreiber in Israel und den USA unter dem Vorwand der Beseitigung der - real nicht existierend - iranischen Atomwaffenbedrohung versuchen könnten, unter Einsatz militärischer Mittel einen "Regimewechsel" in Teheran herbeizuzwingen, erfüllt ihn die Lage im Zweistromland weiterhin mit großer Sorge. Nach Ansicht von Amerikas angesehenstem Journalisten könnte der Konflikt im Irak, der nach wie vor, wenn auch im kleineren Ausmaß als während der Ära George W. Bush anhält, jederzeit erneut in ein fürchterliches Gemetzel ausarten.

Der Hinweis Hershs auf die gefährlich instabile Lage im Irak kommt zwar zu einer Zeit, in der die Weltöffentlichkeit im Bann des "arabischen Frühlings" und der damit einhergehenden, gesellschaftlichen Turbulenzen in Ägypten, Bahrain, Libyen, Marokko, Syrien, Tunesien und im Jemen steht, ist jedoch von nicht geringer Bedeutung. In einem Interview für die Radiosendung Democracy Now!, das in den USA am 3. Juni ausgestrahlt wurde, hat Hersh bemängelt, daß der ehemalige amerikanische UN-Botschafter, Thomas Pickering, der in den vergangen Wochen und Monaten informelle Gespräche mit inoffiziellen Vertretern des Irans zum Zwecke der Beilegung aller bilateralen Probleme zwischen Teheran und Washington geführt hat und dabei vorzeigbare Ergebnisse erzielt haben soll, nicht zu Präsident Barack Obama zugelassen wird.

Laut Hersh ist Obama im Weißen Haus "isoliert" und wurde nach der Amtseinführung von denjenigen, die den neokonservativen Kurs von George W. Bush und Dick Cheney fortzusetzen gedachten, in der Außen- und Sicherheitspolitik "gefangengenommen". Hersh verwendet keine Namen und spricht in diesem Zusammenhang vom "Pentagon" und von einem "Kult". Gemeint sind in erster Linie Leute wie der Ex-CIA-Chef und Iran-Contra-Veteran Robert Gates, den Obama von Bush als Verteidigungsminister übernahm, und General David Petraeus, der frühere Oberkommandierende der US-Streitkräfte im Irak, der derzeit den Oberbefehl über die International Stabilisation and Assistance Force (ISAF) in Afghanistan hat und demnächst als CIA-Chef nach Langley, Virginia, geht. In den vergangenen Wochen haben sich Gates und Petraeus mehrfach öffentlich gegen einen ihres Erachtens zu raschen Abzug der US-Streitkräfte aus dem Irak respektive Afghanistan ausgesprochen. Und das ungeachtet der Tatsache, daß es gemäß dem im November 2008 vom George Bush jun. und Premierminister Nuri Al Maliki vereinbarten State of Forces Agreement (SOFA) am Ende dieses Jahres keinen einzigen US-Soldaten im Irak geben soll und daß sich Obama vor eineinhalb Jahren auf den Juli 2011 als Zeitpunkt für den Beginn des Truppenabzugs aus Afghanistan festgelegt hatte.

Gegenüber der Democracy-Now!-Moderatorin Amy Goodman bezeichnete Hersh Präsident Obama als einen "sehr aufgeweckten Typen", der dennoch Bushs und Cheneys "irrsinnige" und "kontraproduktive" Politik, welche den USA mehr schadet als nutzt, fortsetzt. Wo das hinführen wird, beschreibt Hersh wie folgt:

... der Irak wird sich als die wirkliche Krise entpuppen, denn unabhängig von dem, was man darüber hört, entwickeln sich die Dinge dort eindeutig zum Schlechteren. Sunniten und Schiiten bringen sich gegenseitig um. Es herrscht ein Religionskrieg. Dazu steht die Frage im Raum, ob wir dort abziehen werden oder nicht. Es wird viel Druck geben, die 40.000 bis 50.000 Soldaten, die dort stationiert sind, dort zu belassen. Ich weiß nicht, welchen Verlauf das ganze nehmen wird, doch ich kann Ihnen versichern, daß es sunnitische Baathistengruppen an verschiedenen Orten wie in Damaskus oder selbst im britischen Leeds gibt, die, sobald wir abziehen, eine alternative, provisorische Regierung ausrufen und erklären werden, daß sie die Macht den Schiiten und dem Iran entreißen werden. Sie glauben, daß die Schiiten für Teheran arbeiten, und wollen nicht, daß der Irak zum Vasallenstaat des Irans wird.

Es gibt schon eine Interessensübereinstimung [zwischen den Iranern und der schiitisch-dominierten Regierung des Iraks - Anm. d. SB- Red.], aber Maliki ist ein sehr zäher Bursche. Wissen Sie, er hat im jahrelangen Exil in Syrien für die Geheimpolizei gearbeitet, bevor er in den Irak zurückkehrte, nachdem wir Saddam gestürzt hatten. Maliki läßt sich von niemandem rumschubsen. Davon unabhängig wird im Irak die Hölle ausbrechen. Nächstes Jahr wird für Obama der Irak neben den hohen Benzinpreisen und den verrückten Republikanern, die sich um die Präsidentschaft bewerben, das größte Problem sein - zusammen mit Afghanistan. Wir werden zusehen müssen, wie sich ein Land zerreißt.

Wie richtig Hersh mit seiner Prognose liegt, zeigt die jüngste Gewalteskalation im Irak. Am selben Tag, als der Pulitzerpreisträger mit Amy Goodman sprach, kam es in Ramadi, Hauptstadt der mehrheitlich von Sunniten bewohnten irakischen Provinz Anbar, zu einer Reihe von Bombenanschlägen, die 15 Menschen töteten und 20 verletzten. Am 4. Juni jagte sich in einer Moschee in Bagdader Regierungsviertel ein Selbstmordattentäter in die Luft und riß 16 Menschen mit in den Tod. Nur Stunden später explodierte eine Bombe in einem Krankenhaus in Tikrit, dem einstigen Heimatort von Saddam Hussein, tötete fünf Menschen und verletzte 16. Am 5. Juni fielen zehn Iraker der Gewalt zum Opfer; 23 wurden verletzt. Am 6. Juni fielen fünf US-Soldaten infolge eines Raketenangriffs auf ihren Stützpunkt in der Nähe von Bagdad - die höchsten Tagesverluste der US-Streitkräfte im Irak seit 2009. Am selben Tag starben bei Bombenanschlägen in Bagdad, Ramadi und Tikrit insgesamt 26 Menschen; 47 wurden verletzt. Am 7. Juni waren es sieben durch Anschläge oder Überfälle getötete Iraker und zehn verletzte.

Im Irak wird es vermutlich keine Beruhigung der Lage geben, solange die USA und der Iran, für die Sunniten und Schiiten eine Art Stellvertreterkrieg führen, ihren seit über 30 Jahren währenden Streit um die Hegemonie am Persischen Golf nicht beenden. Möglicherweise haben Thomas Pickering und seine iranischen Gesprächspartner bereits einen Ausweg aus der verfahrenen Situation gefunden - nur wird Obama offenbar von bestimmten Kräften daran gehindert, diesen Weg einzuschlagen.

8. Juni 2011