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NAHOST/1128: Rußland warnt vor einem größeren Regionalkrieg (SB)


Rußland warnt vor einem größeren Regionalkrieg

Moskau wirft der NATO Destabilisierung Syriens vor


Der russische Außenminister Sergej Lawrow hat seine diesjährige Neujahrsansprache vor den Mitgliedern des diplomatischen Korps am 18. Januar in Moskau vor allem dazu genutzt, um auf die steigende Kriegsgefahr im Nahen Osten hinzuweisen. Lawrow warf der NATO vor, den Aufstand gegen die Regierung von Präsident Bashar Al Assad zu schüren. Er warnte zudem vor katastrophalen Folgen, sollte der "Atomstreit" zwischen den USA und dem Iran in eine militärische Auseinandersetzung ausarten. Dies berichteten mehrere Medien, darunter auch ausführlich die Wirtschaftsnachrichtenagentur Bloomberg und die New York Times. Die ungewöhnlich unverklausulierte Sprache des nach Präsident Dimitri Medwedew und Premierminister Wladimir Putin drittmächtigsten Politikers Rußlands lassen die Spannungen erkennen, die wegen der Situation im Nahen Osten derzeit zwischen Moskau und Peking auf der einen Seite sowie Washington und den anderen NATO-Hauptstädten auf der anderen gefährlich zunehmen.

Bereits am 12. Januar hatte Nikolai Patruschew, der Vorsitzende des Nationalen Sicherheitsrats Rußlands behauptet, die NATO bereite die Verhängung einer Flugverbotszone über Syrien vor, die, wie im Fall von Muammar Gaddhafis Libyen im letzten Jahr, als Vorwand genutzt werden soll, um den Aufständischen in Syrien zum Sieg gegen die Streitkräfte Assads zu verhelfen und einen "Regimewechsel" in Damaskus durchzusetzen. Zu den Plänen, deren Existenz von führenden NATO-Politikern bestritten wurde, gehöre auch die Einrichtung von Flüchtlingslagern entlang der türkischen Grenze, die auch als Rückzugsraum für die syrischen Rebellen dienen könnten.

Bei seinem Auftritt tat Lawrow die Dementis der NATO-Vertreter als vollkommen unglaubwürdig ab. "Unsere Partner im Westen diskutieren in der Tat eine Flugverbotszone. Es gibt auch andere Ideen, die umgesetzt werden, darunter humanitäre Konvois, in der Hoffnung, von den Regierungstruppen und Grenzsoldaten eine Reaktion zu provozieren." Der russische Chefdiplomat wies den Vorschlag des Emirs von Katar, Scheich Hamad bin Khalifa Al Thani, eine multinationale Truppe, bestehend aus Soldaten arabischer Soldaten, nach Syrien zu entsenden, um das anhaltende Blutvergießen zu beenden, energisch zurück. Unter Verweis auf den zwischen Rußland und China in dieser Frage bestehenden Konsens hat Lawrow angekündigt, daß es vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen für eine ausländische Militärintervention in Syrien keine Mandatierung geben werde, da Moskau und Peking von ihrem Veto Gebrauch machen würden. "Wenn jemand unbedingt Gewalt anwenden will ... werden wir es wahrscheinlich nicht verhindern können. Doch es soll auf ihre eigene Initiative erfolgen und ihr Gewissen belasten", so Lawrow.

Zu der Verhängung von Sanktionen durch die USA und die EU gegen Syrien und den Iran fand der russische Außenminister deutliche Worte der Kritik. Zuerst wies er die am Tag zuvor von der US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Susan Rice, geäußerte "tiefe Sorge" wegen der vor kurzem per See erfolgten Lieferung einer größeren Ladung russischer Munition an die syrischen Streitkräfte als unangebracht zurück. Das gegen Syrien verhängte Waffenembargo der EU und der USA sei deren eigene Sache; es gebe keinen Grund, warum sich Rußland daran halten sollte. "Weder müssen wir uns erklären noch rechtfertigen. Wir betreiben mit Syrien Handel mit Gütern, die nach internationalem Recht nicht verboten sind", stellte er fest.

Lawrow riet eindringlich von einem Militärangriff entweder der USA oder Israels oder von beiden auf den Iran ab, weil dies eine "Katastrophe" auslösen würde. Zu den jüngsten, gegen Teheran gerichteten Sanktionen des Westens meinte er, sie "sollten eine dämpfende Wirkung auf die iranische Wirtschaft haben, vermutlich in der Hoffnung, Unzufriedenheit bei der iranischen Wirtschaft zu provozieren". In diesem Zusammenhang gab Lawrow zu bedenken, daß im Falle einer Fortsetzung die Bemühungen des Westens, durch Destabilisierungsmaßnahmen von außen mißliebige Regierungen im Nahen Osten zu stürzen, "zu einem sehr großen Krieg, der Leid nicht nur in den Länder der Region, sondern auch in Staaten weitab ihrer Grenzen" führen werde.

Seit Monaten steht aufgrund vereinzelter Berichte von Augenzeugen der Verdacht im Raum, die NATO und die mit ihr verbündeten arabischen Staaten wie Katar, Jordanien und Saudi-Arabien setzten sich nicht nur diplomatisch für die syrische Opposition ein, sondern betrieben durch den Einsatz von Spezialstreitkräften und religiös motivierten Söldnern aus dem sunnitisch-salafistischen Lager aktiv den Sturz Assads. Bereits Ende November letzten Jahres berichtete unter anderem der konservative britische Daily Telegraph vom Treffen des einstigen libyschen "Topterroristen" mit Verbindungen zu Al Kaida, Abdulhakim Belhadsch, mit Vertretern der sogenannten Freien Syrischen Armee im türkischen Grenzgebiet zu Syrien. Bei dem Treffen soll es um die Entsendung libyscher Gotteskrieger zur Unterstützung der in Syrien am Aufstand beteiligten Moslembruderschaft gegangen sein.

Allmählich tritt die militärische Hilfe des Auslands für die Assad-Gegner aus dem Verborgenen heraus, was darauf hindeutet, daß eine neue Phase des Krieges bevorsteht. In einem Beitrag, der am 19. Januar unter der Überschrift "NATO vs. Syria" auf der Website der Zeitschrift American Conservative erschienen ist, schrieb der ehemalige CIA-Agent Philip Giraldi folgendes:

Nicht markierte NATO-Flugzeuge treffen auf türkischen Stützpunkten nahe Iskanderum an der syrischen Grenze ein, die Waffen aus den Arsenalen des verstorbenen Muammar Gaddhafi und Freiwillige vom Nationalen Übergangsrat Libyens abliefern. Letztere haben bei der Auseinandersetzung mit Gaddhafis Armee Erfahrungen gesammelt, wie man örtliche Freiwillige in den Kampf gegen ausgebildete Soldaten führt. Iskanderum ist auch der Sitz der Freien Syrischen Armee, des bewaffneten Flügels des syrischen Nationalrates. Ausbilder der französischen und britischen Spezialstreitkräfte sind vor Ort, um den syrischen Rebellen zu helfen, während die CIA und US-Spezialstreitkräfte die Aufständischen mit Kommunikationsausrüstung und nachrichtendienstlichen Erkenntnissen versorgen, damit sie größeren Ansammlungen syrischer Soldaten aus dem Weg gehen können.

Laut Giraldi, der sich im Vorfeld und während des angloamerikanischen Einmarsches 2003 in den Irak als fundierter Kritiker der propagandistischen Machenschaften der Neokonservativen in den USA hervorgetan hat, stehen die Analysten bei der CIA dem "Drängen zum Krieg" in Syrien "skeptisch" gegenüber. Nach Ansicht Giraldis sind die Vorbehalte seiner früheren Kollegen mehr als begründet. Er prognostiziert, daß der "unerklärte Krieg" in Syrien "viel, viel schlimmer" als derjenige letztes Jahr in Libyen ausfallen wird.

20. Januar 2012