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NAHOST/1175: Syrienkrise bringt Iran und Türkei gegeneinander auf (SB)


Syrienkrise bringt Iran und Türkei gegeneinander auf

Ankara und Teheran ringen um die Regionalhegemonie



Der Bürgerkrieg in Syrien, wo sich derzeit Regierungstruppen und Aufständische einen erbitterten Kampf um die Kontrolle über die Wirtschaftsmetropole Aleppo liefern, droht den Staat auseinanderzureißen. Gelingt es dem Machtapparat um Präsident Bashar Al Assad nicht, das Gewaltmonopol des Staates wiederherzustellen - ein Szenario, das mit jedem weiteren Tag der Krise immer unwahrscheinlicher wird -, steht Syrien ein jahrelanger Konflikt zwischen den verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppierungen bevor. Die Auflösung des syrischen Staates hätte schwerwiegende Folgen für den ganzen Nahen Osten, denn der Prozeß der Balkanisierung würde mit großer Wahrscheinlichkeit auf die Nachbarstaaten übergreifen und eine blutige Neuordnung des ganzen Nahen Ostens nach sich ziehen. Schließlich sind die zwischenstaatlichen Grenzverläufe in der Region das Ergebnis jenes berüchtigten Kuhhandels, genannt Sykes-Picot-Abkommen, mit dem Briten und Franzosen nach dem Ersten Weltkrieg weite Teile des besiegten Osmanischen Reiches unter sich aufteilten. Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, daß es in letzter Zeit zwischen Syriens größten Nachbarn, der Türkei und dem Iran, die beide Hegemonialinteressen verfolgen, zu erheblichen Spannungen kommt.

Was die Destabilisierung Syriens betrifft, so spielt der NATO-Staat Türkei dabei eine führende Rolle. Der Nachschub an Rüstung und Freiwilligen für die Aufständischen in Syrien läuft weitestgehend über den Südosten der Türkei. Berichten der westlichen Presse zufolge haben CIA-Mitarbeiter zusammen mit Kollegen aus der Türkei, Saudi-Arabien und Katar ein "Nervenzentrum" in der Stadt Adana nahe dem NATO-Stützpunkt Incirlik eingerichtet, von wo aus Waffen, Geld und Kommunikationsgeräte an die verschiedenen syrischen Rebellengruppen verteilt und ihre umstürzlerischen Aktivitäten koordiniert werden. Angeblich haben die militanten Regierungsgegner in Syrien, in deren Reihen sich inzwischen zahlreiche sunnitische Salafisten à la Al Kaida befinden, tragbare Bodenluftraketen von der Türkei erhalten, um Flugzeuge der syrischen Luftwaffe abschießen zu können. Außerdem ließ Ankara an der Grenze zu Syrien eine große Ansammlung von Streitkräften auffahren, die gegebenenfalls unter dem Vorwand der "humanitären Intervention" in das Nachbarland einmarschieren und den Rebellen zum Sieg verhelfen könnten. Gleichzeitig liefert sich die türkische Armee in den Kandil-Bergen, nahe der Grenze zum Irak und Iran, seit Tagen schwere Gefechte mit Freiwilligen der kurdischen Arbeiterpartei (PKK).

Über diese Entwicklung sind die Iraner, die befürchten müssen, durch den Sturz Assads einen wichtigen Verbündeten und damit auch eine Landverbindung zu den politischen und religiösen Glaubensgenossen bei der schiitischen Hisb-Allah-Bewegung im Libanon zu verlieren, alles andere als glücklich. Die Zeiten, als Teheran die Türken wegen deren Nicht-Teilnahme am Irakkrieg der Angloamerikaner 2003 und deren Bemühungen um eine friedliche Lösung des "Atomstreits" des Irans mit dem Westen als Partner und Friedensmacht wertschätzte, sind scheinbar vorbei. Ende Juli hat die iranische Führung Ankara formal vor einer direkten Beteiligung der türkischen Streitkräfte an der militärischen Auseinandersetzung in Syrien gewarnt - und damit indirekt mit Krieg gedroht.

Zwei Ereignisse der letzten Tagen haben die Spannungen zwischen beiden Staaten deutlich erhöht. Am 1. August besuchte der türkische Außenminister Ahmed Davutoglu die nordirakische Stadt Kirkuk. Dabei unterließ er es, die Regierung in Bagdad über sein Vorhaben in Kenntnis zu setzen. Bei seiner Stippvisite im Nordirak beriet er mit Massud Barsani, dem Präsidenten des kurdischen Autonomiegebiets, über die Lage in Syrien, insbesondere im kurdischen Nordteil, wo Ankara angeblich die Entstehung eines eigenständigen Staats unter Führung der PKK befürchtet. Die irakische Zentralregierung Nuri Al Malikis hat in Ankara wegen des unangemeldeten Besuchs Davutoglus protestiert. Darin sieht die irakische Regierung eine offene Unterstützung der Türkei für die Autonomiebestrebungen Barsanis, der seit einiger Zeit an Bagdad vorbei - dafür aber in Absprache mit Washington - westeuropäische und amerikanische Großkonzerne zur Ölförderung in den kurdischen Nordirak holt. Die Pipelines, über die das Öl exportiert wird, laufen von Kirkuk in die türkische Hafenstadt Ceyhan. Weitere könnten später durch Syrien an dessen Mittelmeerküste verlegt werden.

Gegen den Vorwurf der ungebetenen Einmischung in die irakische Innenpolitik hat sich die türkische Regierung ungewöhnlich heftig gewehrt. In einem am 5. August im türkischen Fernsehen ausgestrahlten Interview rechtfertigte Premierminister Recep Tayyip Erdogan den Besuch Davutoglus in Kirkuk, wo irakische Kurden und Araber seit dem Sturz Saddam Husseins erbittert um die Hohheit streiten, mit dem Hinweis, dort hätten die Türken eigene "Landsleute". Gemeint sind die irakischen Turkmenen, als deren Schutzgarant sich die Türkei sieht. Bei dieser Gelegenheit machte Erdogan Premierminister Maliki, einen Schiiten, und den Iran für die innenpolitische Krise im Irak verantwortlich. Malikis kompromißlose Haltung gegenüber den Kurden, den Sunniten um Ex-Premierminister Ijad Allawi und schiitischen Kritikern um Muktada Al Sadr wäre ohne Rückendeckung aus Teheran nicht möglich, so Erdogan.

Die Verschleppung von 48 iranischen Bürgern am 4. August in Damaskus durch syrische Rebellen hat auch für großen Mißmut in Teheran gesorgt. Die Entführer behaupten, es handele sich bei den Geiseln um Angehörige der iranischen Revolutionsgarden, die den syrischen Streitkräften zuletzt als Berater zur Seite gestanden haben. Die Behörden in Teheran erklären dagegen, daß die Iraner auf der Pilgerfahrt zu einem schiitischen Schrein in der syrischen Hauptstadt gewesen seien. Zugleich hat der Iran eingeräumt, daß sich unter den Pilgern ehemalige Staatsbedienstete, darunter auch Ex-Revolutionsgardisten, befinden könnten. Irans Außenminister Ali Akbar Salehi hat die Türken und die Kataris um Hilfe bei der Freilassung der Entführten gebeten. Gleichzeitig droht der Iran selbst in den Konflikt in Syrien militärisch einzugreifen, sollte seinen Landsleuten etwas geschehen.

Am 7. August war Irans nationaler Sicherheitsberater Saeed Jalili demonstrativ mit Syriens Präsident Assad in Damaskus zusammengetroffen. Vor Journalisten machte Jalili die USA für das Schicksal der iranischen Geiseln verantwortlich, weil sie hinter den "Terroristen" in Syrien stünden. Er erklärte kategorisch, daß es den Gegnern des Irans, Syriens und der Hisb Allah niemals gelingen werde, deren gemeinsame Widerstandsfront zu brechen. Am selben Tag geißelte Ali Laridschani, der Sprecher des iranischen Parlamentes, der in den Medien als nächster Präsident der islamischen Republik gehandelt wird, die "Kriegstreiberei" der USA und Israels und prognostizierte, das "zionistische Regime" würde am Ende als der Hauptleidtragende der Katastrophe in Syrien da stehen.

In der Syrien-Frage befinden sich die Türkei und der Iran momentan auf Kollisionskurs. Der Bürgerkrieg in Syrien und die politische Instabilität im Irak bieten Erdogan und Davutoglu eine historische Gelegenheit, die traditionelle türkische Einflußsphäre im Nahen Osten wieder zu etablieren. Die Träume der sunnitischen Neo-Osmanen in Ankara ließe sich jedoch nicht ohne einer Zurückdrängung des Einflusses des schiitischen Irans verwirklichen, was Teheran niemals akzeptieren würde. Nächste Woche findet in der saudischen Hafenstadt Dschiddah am Roten Meer ein Treffen der Organisation Islamischer Staaten (OIS) statt. Dort werden die wichtigsten Kontrahenten des derzeit alles überlagernden Konfliktes zwischen Schiiten und Sunniten - darunter Irans Präsident Mahmud Ahmadinedschad und Saudi-Arabiens König Abdullah - zusammenkommen. Es könnte die letzte Chance sein, einen grauenhaften Religionskrieg im Nahen Osten zu vermeiden. Man kann nur hoffen, daß die Beteiligten sie ergreifen.

9. August 2012