Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

NAHOST/1185: Die Türkei greift in den Bürgerkrieg in Syrien ein (SB)


Die Türkei greift in den Bürgerkrieg in Syrien ein

Die Stunde der Türkei als neo-osmanische "Ordnungsmacht" rückt näher



Eine Granate, die aus Syrien kommend am 3. Oktober im türkischen Grenzort Akcakale einschlug und eine Frau und vier Kinder in den Tod riß, hat die Regierung in Ankara zum Anlaß genommen, in den Bürgerkrieg im Nachbarland einzugreifen. Seitdem kommt es an der syrisch-türkischen Grenze immer wieder zu gegenseitigem Artilleriebeschuß. Wegen der starken Anti-Kriegsstimmung in der eigenen Bevölkerung beteuert die politische Führung in Ankara, allen voran Premierminister Recep Tayyip Erdogan, stets, keine eigenen Ziele im Syrien-Konflikt zu verfolgen, sondern an einer friedlichen Beilegung interessiert zu sein. Die Tatsachen sprechen eine andere Sprache. Ihren Waffennachschub aus Saudi-Arabien und Katar erhalten die Aufständischen hauptsächlich über den Lieferweg Türkei. Dort werden sie auch teilweise ausgebildet, erhalten ihre Offiziere ihre Instruktionen von Mitarbeitern der amerikanischen, britischen und türkischen Geheimdienste, werden ihre Reihen durch sunnitisch-salafistische Extremisten aus aller Welt aufgestockt. Die Türkei nimmt von Anfang an aktiv an den Bemühungen der NATO teil, das "Regime" Baschir Al Assads zu stürzen. Doch weil es immer noch nicht absehbar ist, ob die Rebellen dieses Ziel jemals erreichen werden, muß die Türkei, die über die personell größte Armee in der NATO nach den USA verfügt, die angefangene Sache selbst zu Ende führen.

Offenbar gezielt haben die Rebellen die Kämpfe im Norden der syrischen Provinz Idlib an der Grenze zur Türkei provoziert. Interessanterweise berichtete das Zweite Deutsche Fernsehen im Mittagsmagazin am 4. Oktober, daß die Granate, welche einen Tag zuvor in der Türkei die ersten zivilen Opfer des Krieges im Nachbarland forderte, von den Aufständischen und nicht von den staatlichen Streitkräften abgefeuert worden sei. Es wurde im ZDF-Bericht sogar ein Türke aus der Grenzregion zitiert, der die Befürchtung äußerte, die syrischen Rebellen versuchten sein Land in den Krieg hineinzuziehen und er sich deshalb Besonnenheit seitens Ankara wünsche. Auf den ausgestrahlten Fernsehbildern vom Ort des Geschehens waren nur türkische Nationalflaggen und Fahnen der oppositionellen Freien Syrischen Armee zu sehen, was die These stützt, daß die Granate aus einem Gebiet abgefeuert worden sein mußte, das nicht unter der Kontrolle von Baschir Al Assads Truppen stand.

Die Reaktion Ankaras auf die Provokation an der Grenze scheint wohlüberlegt gewesen zu sein. Trotz Friedensmärschen in vielen Großstädten verabschiedete das Parlament in Ankara am Abend des 4. Oktober ein Gesetz, daß der Regierung die Anwendung militärischer Gewalt in Syrien erheblich erleichtert. In einer Stellungnahme erklärte Erdogan, die Türkei sei "an einem Krieg nicht interessiert, gleichzeitig aber nicht weit davon entfernt". Einen Tag zuvor hatte die türkische Luftwaffe als Vergeltung für den Granatenbeschuß von Akcakale einen Angriff auf ein Feldlager der syrischen Armee nahe dem Ort Tal Abyad geflogen und dabei drei Soldaten getötet sowie drei Panzer, zwei gepanzerte Fahrzeuge und eine Artilleriebatterie zerstört. In einem am 6. Oktober erschienenen Bericht der in Dubai erscheinenden Tageszeitung The National wurde Veysel Ayhan, Leiter des International Middle East Peace Research Centre in Ankara mit den Worten zitiert: "Sie [die Türkei] haben die Ziele nicht willkürlich beschossen. Es war ein systematischer Angriff. Die Ziele waren vorher bekannt."

Ayhan unterstellte der Erdogan-Regierung, mit den Vergeltungsschlägen eine Pufferzone auf der syrischen Seite der Grenze errichten zu wollen. Der größere Bewegungsraum dort würde die "logistische Unterstützung der Türkei für die Rebellen erleichtern", erklärte er. Hatte die Militärführung in Damaskus zunächst die eigenen Streitkräfte von der Grenzregion nahe Akcakale zurückgezogen, um weitere Vorfälle dort zu vermeiden, so berichtete der türkische Nachrichtensender NTV am 5. Oktober darüber, daß syrische Piloten inzwischen den Befehl erhalten hätten, auf einer Distanz von mindestens zehn Kilometern zur türkischen Grenze zu bleiben, wollten sie nicht abgeschossen werden.

Doch die Schaffung einer De-Fakto-Pufferzone an der Grenze geht den bedrängten syrischen Rebellen nicht weit genug. Im besagten Bericht von The National forderte der ehemalige Botschafter Syriens in Schweden, Mohammad Bassam Imadi, der heute Mitglied im oppositionellen Syrischen Nationalrat ist, eine Ausweitung der Pufferzone auf eine Breite von 50 Kilometer. Imadi begründete seine Forderung mit der Behauptung, durch die Schaffung einer größeren Pufferzone könnten Zehntausende syrische Flüchtlinge in der Türkei in ihr Heimatland zurückkehren. Doch das Argument scheint vordergründig zu sein. Eine solche Pufferzone, wie sie Imadi vorschwebt, würde sich auf die syrische Handelsmetropole Aleppo erstrecken, wo sich Rebellen und Regierungstruppen seit Wochen erbittert bekämpfen. Offenbar will Imadi, daß die Türkei hilft, eine Entscheidung in der Schlacht um Aleppo zugunsten der Aufständischen herbeizuführen.

Gerade in den letzten Tagen ist in der internationalen Presse viel von einer zunehmenden Verstärkung "islamistischer" Kräfte auf seiten der syrischen Rebellen die Rede. Am 6. Oktober berichtete die New York Times unter der Überschrift "Rebels Say West's Inaction Is Pushing Syrians to Extremism", die angebliche Untätigkeit der NATO treibe die Aufständischen in die Armee der Dschihadisten, und am 7. Oktober schrieb das Blatt unter der Schlagzeile "Citing U.S. Fears, Arab Allies Limit Syrian Rebel Aid", aus Rücksicht auf Ängste Washingtons würden die arabischen Alliierten den Anti-Assad-Kräften schwere Waffen vorenthalten. Man könnte den Eindruck gewinnen, daß der Einmarsch der türkischen Streitkräfte in Syrien mit den Argument propagandistisch vorbereitet wird, daß der demokratische NATO-Staat endlich für Ordnung in Syrien sorgen müsse, weil Damaskus nicht mehr Herr der Lage sei und die Gefahr bestehe, daß das strategisch wichtige Land in die Hände al-kaida-naher Kräfte falle. Sollte dieses Szenario einer offenen türkischen Militärintervention tatsächlich eintreten, hätten sich die Erdogan-Regierung und ihre NATO-Partner in der Syrien-Krise als Brandleger und Feuerwehr in einem betätigt.

8. Oktober 2012