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NAHOST/1197: Zentrifugalkräfte reißen den Irak auseinander (SB)


Zentrifugalkräfte reißen den Irak auseinander

Von einem einheitlichen Staat kann im Irak nicht die Rede sein



Fast ein Jahr nach dem Abzug der letzten US-Kampftruppen kommt der Irak noch immer nicht zur Ruhe. Täglich finden dort Bombenanschläge und Überfälle statt. Wegen der Regelmäßigkeit solcher Vorfälle erfährt man in den westlichen Medien inzwischen erst davon, wenn die Opferzahl eine zweistellige Höhe erreicht - was derzeit etwa alle zwei Wochen der Fall ist. Der Grund für die anhaltende Instabilität des Iraks ist die Zerstrittenheit zwischen Kurden, Schiiten und Sunniten sowie zwischen deren jeweiligen Gönnern im Ausland - vornehmlich der Türkei, den USA, dem Iran und Saudi-Arabien. An der Rivalität der Großmächte geht derzeit Syrien elendig zugrunde. Dorthin waren rund eine Million Iraker geflüchtet, als ihr eigenes Land nach dem gewaltsamen Sturz Saddam Husseins 2003 in Chaos versank.

Derzeit kehren Tausende irakische Flüchtlinge vor der Gewalt in Syrien in ihre Heimat zurück, ohne richtig zu wissen, was sie dort erwartet. Zwischen 2005 und 2007 tobten im Irak heftige Kämpfe zwischen Schiiten und Sunniten. Durch die ethnisch-religiösen Säuberungen wurden in der Hauptstadt Bagdad und an vielen anderen Orten Bereiche geschaffen, wo entweder nur Schiiten oder nur Sunniten leben können. Folglich werden viele heimkehrende Iraker nicht in ihre früheren Wohngegenden ziehen können und müssen sich nach anderen Möglichkeiten umsehen. Hinzu kommt, daß gleichzeitig nicht wenige junge irakische Männer nach Syrien fahren, um sich am Bürgerkrieg zu beteiligen - die Sunniten bei irgendwelchen al-kaida-nahen salafistischen Gruppen auf der Seite der Rebellen, die Schiiten zusammen mit Angehörigen der libanesischen Hisb Allah und der iranischen Revolutionsgarden auf der Seite der Streitkräfte von Präsident Baschar Al Assad. So gesehen ist der Krieg im Syrien lediglich das jüngste Kapitel eines größeren regionalen sunnitisch-schiitischen Konfliktes, dessen Lunte die Angloamerikaner durch den Einmarsch in den Irak und die Beseitigung des dortigen "Regimes" gelegt haben.

Wie tief der konfessionelle Graben im Irak noch ist, zeigt der zweite Schuldspruch, den am 1. November ein Gericht in Bagdad gegen den irakischen Vizepräsidenten Tarek Al Haschemi, den höchsten sunnitischen Würdenträger des Zweistromlandes, verhängt hat. Wie in dem ersten Verfahren im September wurde Haschemi auch diesmal für schuldig befunden, sunnitische Milizionäre mit Mordanschlägen gegen politische Gegner beauftragt zu haben, und zum Tode verurteilt. Derzeit befindet sich Haschemi in der Türkei, wo ihm Zuflucht gewährt wird. Er führt die Anklage auf eine politische Intrige zurück und wirft seinerseits Premierminister Nuri Al Maliki, einem Schiiten, vor, die staatliche Armee und Polizei mit eigenen Getreuen besetzt zu haben.

Derzeit steht Maliki außenpolitisch enorm unter Druck. Die USA werfen ihm vor, daß er es zulasse, daß die Iraner den Irak als Transitland für den Transport von Waffen nach Syrien benutzen. Washington verlangt von Bagdad, daß alle iranischen Flugzeuge, die den irakischen Luftraum benutzen, kontrolliert werden. Innenpolitisch liefert sich Maliki einen heftigen Machtkampf mit den Kurden in Sachen Öl und Gas. Unterstützt von der Türkei und den USA haben die Autonomiebehörden im kurdischen Nordirak begonnen, auf eigene Faust Öl zu exportieren. Derzeit erreicht das Öl die Türkei in Tanklastwagen. Die Regionalregierung in Erbil diskutiert mit Ankara über den Bau einer Pipeline, die dann entweder über türkisches Territorium - oder eventuell nach einem "Regimewechsel" in Bagdad - über syrisches Gebiet ans Mittelmeer verlegt werden könnte. Sehr zu Verärgerung Bagdads, dafür vermutlich aber in Absprache mit Washington, haben in den letzten Monaten die US-Energiekonzerne ExxonMobil und Chevron ihre Aktivitäten im kurdischen Norden deutlich erhöht und sich dafür aus dem schiitischen Süden zurückgezogen. Anfang Oktober haben die Kurden erstmals begonnen, Ölverträge auf den internationalen Märkten abzuschließen.

Eine schnelle Einigung zwischen Bagdad und Erbil in der Frage der Aufteilung der Einnahmen aus dem Ölgeschäft ist genauso unwahrscheinlich wie eine rasche Lösung des politischen Streits zwischen Kurden, Schiiten und Sunniten. Vom Ausgang des Bürgerkriegs in Syrien sowie der weiteren Entwicklung des "Atomstreits" zwischen den USA und dem Iran wird abhängen, ob der Irak jemals gesellschaftlichen Frieden finden und eine Erholung des Landes von den langen Jahren des Krieges und der internationalen Wirtschaftssanktionen erreichen kann.

3. November 2012