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NAHOST/1213: In Syrien befinden sich die Rebellen auf dem Vormarsch (SB)


In Syrien befinden sich die Rebellen auf dem Vormarsch

Tritt der syrische Bürgerkrieg in die Endphase?



Im Krieg in Syrien, der seit März 2010 rund 40.000 Menschen, darunter geschätzte 10.000 Mitglieder der Streitkräfte das Leben gekostet hat, sind die Rebellen derzeit auf dem Vormarsch. Der Norden und der dünnbesiedelte Osten des Landes stehen nicht mehr unter staatlicher Kontrolle. Um die Handelsmetropole Aleppo im Norden wird seit Wochen erbittert gekämpft. In der Nordhälfte der Stadt und der Region bis zur nur 45 Kilometer entfernten Grenze der Türkei scheinen die Aufständischen das Sagen und damit eine einigermaßen gesicherte Nachschublinie zu haben. In den letzten zwei Wochen haben die Angehörigen der Freien Syrischen Armee (FSA) eine ganze Reihe von Armeedepots und Luftwaffenstützpunkten überrannt und dabei größere Mengen Waffen erbeuten können. Es stellt sich daher die Frage, ob die staatlichen Streitkräfte um Präsident Baschar Al Assad, die sich um den Westen und Süden sowie der Hauptstadt Damaskus konzentrieren und unter Personalmangel leiden sollen, kurz vor dem Zusammenbruch stehen. Doch selbst wenn das Assad-"Regime" demnächst fiele, ist zu befürchten, daß sich die verschiedenen Volkgruppen eine jahrelange Orgie ethnisch-konfessioneller Gewalt ähnlich der im Irak nach dem Sturz Saddam Husseins liefern würden.

Ungeachtet der am 11. November maßgeblich auf Druck der USA entstandenen Einigung der politischen Opposition zur sogenannten Syrischen Nationalkoalition mangelte es den verschiedenen Rebellengruppen in Syrien weiterhin an Koordination. Viele der aufständischen Milizen weigern sich, sich dem Oberkommando der FSA zu unterstellen. Dies gilt unter anderem für das Faruk-Bataillon, das hauptsächlich von der Türkei gesponsert werden soll und inzwischen einige der wichtigsten Übergänge entlang der syrisch-türkischen Grenze kontrolliert, sowie für die salafistische Al-Nusra-Front, die von reichen Sunniten in Saudi-Arabien und den anderen arabischen Staaten am Persischen Golf finanziert wird und die sich vor allem durch schwere Bombenanschläge in belebten Innenstädten einen Ruf verschafft hat. In einem Artikel, der am 27. November im Beiruter Daily Star erschienen ist, schrieb der US-Journalist David Ignatius, dessen Kontakt zur CIA legendär ist, der Einfluß der "extremistischen" Al-Nusra-Front wachse deshalb, "weil ihre Kämpfer, die auf Märtyrertum erpicht sind, die härtesten sind." Die Härte der Al-Nusra-Kämpfer ist auch darauf zurückzuführen, daß nicht wenige von ihnen Kriegserfahrung im Irak als Mitglieder von Al Kaida im Zweistromland gesammelt haben sollen.

Vor dem Hintergrund tagelanger Kämpfe um einige in den Händen der Rebellen befindliche Vororte von Damaskus explodierten am 28. November im östlichen Bezirk Jaramana, in dem hauptsächlich staatstreue Christen und Drusen wohnen, kurz hintereinander zwei schwere Autobomben, rissen mindestens 104 Menschen in den Tod und verletzten Hunderte weitere. Der Anschlag war besonders perfide ausgedacht, denn die zweite Autobombe - die 57 Menschen tötete - ging erst hoch, nachdem Passanten und Bewohner des Viertels angefangenen hatten, den Tatort der ersten Explosion nach Überlebenden abzusuchen, um ihnen Erste Hilfe zu leisten oder sie ins Krankenhaus zu schaffen.

Wäre eine solche Schreckenstat in Europa oder Nordamerika passiert, würden die hiesigen Sicherheitsexperten in den Medien schnell in der Taktik des Doppelanschlags die "Handschrift" Al Kaidas zu erkennen meinen. Mitnichten würde man dagegen gleich darauf spekulieren, daß vielleicht staatliche Stellen hinter dem Angriff stünden, denn damit beginge man die Sünde der Verbreitung von "Verschwörungstheorien". Offenbar gelten jedoch andere journalistische Maßstäbe, wenn ein heftiger "Terroranschlag" in Baschar Al Assads Syrien geschieht. Da ließ sich im Bericht für die allabendliche Nachrichtensendung Heute Journal des Zweiten Deutschen Fernsehens am 28. November dessen Kairoer-Korrespondent Dietmar Ossenberg zu der Vermutung hinreißen, es müßten nicht zwingend christen- und drusenfeindliche Sunni-Extremisten hinter dem Angriff stecken, er könne auch das Werk des syrischen Geheimdienstes gewesen sein. Wie Ossenberg zu dieser Einschätzung gelangt ist, wo doch die staatlichen Stellen in Damaskus vor allem an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung ein vitales Interesse haben müßten - und sei es auch nur dem Schein nach - bleibt schleierhaft.

Innerhalb der letzten 72 Stunden haben die Aufständischen zudem den ersten Hubschrauber und den ersten Kampfjet der syrischen Streitkräfte abschießen können. Der Abschuß des Transporthubschraubers erfolgte am 27. November nahe des Armeestützpunktes Scheich Suleiman, 30 Kilometer nordwestlich von Aleppo nahe der Grenze zur Türkei. Recht zügig haben die verantwortlichen Rebellen bei Youtube ein Video des Vorgangs veröffentlicht. Zu sehen ist, wie ein hoch in der Luft fliegender Hubschrauber von einer hitzesuchenden Rakete aus russischer Produktion getroffen wird und der Pilot anschließend um eine kontrollierte Landung seines brennenden Fluggeräts kämpft. Vermutlich ist sie ihm nicht gelungen. In dem Video sieht man, wie der Hubschrauber hinter dem Horizont verschwindet. Gleich danach ist von dort ein kurzes Aufblitzen zu sehen.

Ebenfalls nahe der Grenze zur Türkei, in der Ortschaft Daret Ezza in der Provinz Aleppo, kam es am 28. November zum Abschuß des Kampfjets. Das Flugzeug stürzte auf einen Olivenhain. Vorher konnten Pilot und Kopilot mit dem Schleudersitz aussteigen und mit dem Fallschirm landen. Fernsehbildern zufolge hat zumindest einer von ihnen den Abschuß überlebt. Auf einem Amateurvideo, das im Internet veröffentlicht wurde, waren die ausgebrannten Wrackteile an der Absturzstelle sowie Rebellen, die einen schwerverletzten, blutüberströmten uniformierten Mann - vermutlich einen der Piloten - wegtragen, zu sehen.

Unter Verweis auf den positiven Einfluß der Stinger-Raketen der CIA auf die Kampfkraft der afghanischen Mudschaheddin im Kampf gegen die Sowjetarmee in den achtziger Jahren meinen nun viele Kommentatoren, daß der Einsatz von tragbaren Boden-Luft-Raketen seitens der Rebellen einen Wendepunkt im syrischen Bürgerkrieg bedeutet. Woher die Raketen kommen ist auch eine vieldiskutierte Frage. In einem Bericht, der am 29. Oktober in der Washington Post unter der Überschrift "Officials: Syrian rebels' arsenal includes up to 40 antiaircraft missile systems" erschienen ist, heißt es laut namentlich nicht genannten Geheimdienstlern der NATO und mit ihr befreundeter Staaten im Nahen Osten, die "neue Waffe" der Aufständischen komme auf jedem Fall zum Teil aus Katar. Darüber hinaus wird spekuliert, daß ein anderer Teil aus den überrannten syrischen Militärstützpunkte stammt. Doch wenn es sich um sowjetische Fabrikate handelt, könnten sie auch aus den geplünderten Arsenalen Muammar Gaddhafis entwendet worden sein. Schließlich strömen mit Hilfe der NATO seit Ende letzten Jahres Hunderte gewaltbereite Islamisten aus Libyen nach Syrien, um ihren Beitrag zu dem vor allem von den USA ersehnten "Regimewechsel" in Damaskus zu leisten.

Angesichts der jüngsten Entwicklungen an der Kriegsfront in Syrien überrascht eine Nachricht, die ein Artikel der New York Times am 29. November enthielt, wenig. Unter der Überschrift "U.S. Weighs Bolder Effort to Intervene in Syria's Conflict" sowie unter dem üblichen Hinweis auf "nicht namentlich genannte Regierungsmitglieder" berichtet Amerikas Paper of Record, die Regierung von Präsident Barack Obama erwäge eine "größere Beteiligung" der USA am Geschehen in Syrien. Nach fast zwei Jahren, in denen man die Rebellen finanziell und militärisch - letzteres natürlich indirekt über Saudi-Arabien, Katar und die Türkei - unterstützt hat, sei es an der Zeit, daß die Ordnungsmacht Amerika "größeres Profil" zeige. Als Begründung wird der angebliche Wunsch Washingtons, ein Versinken Syriens in endgültiges Chaos zu verhindern, angeführt. Vermutlich sollen später die Syrer für die Gnade der USA, die wie kein zweites Land für die Destabilisierung Syriens verantwortlich sind, dankbar sein. Wie es im Sprichwort heißt: Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.

29. November 2012