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NAHOST/1266: Kämpfe in Tripolis - Libyen vor dem Bürgerkrieg (SB)


Kämpfe in Tripolis - Libyen vor dem Bürgerkrieg

Libyens Zentralregierung bekommt die Milizen nicht in den Griff



Am 7. November ist es in der libyschen Hauptstadt Tripolis zu den schwersten Kämpfen seit dem Sturz Muammar Gaddhafis vor zwei Jahren gekommen. Bei Feuergefechten in mehreren Stadtteilen wurden drei Menschen getötet und rund ein Dutzend verletzt. Die Teilnehmer der Auseinandersetzung griffen sich gegenseitig mit Maschinengewehren und Granatwerfern an. Nach Angaben der Nachrichtenagentur Reuters mußten verängstigte Gäste aus dem Hotel Raddison Blu evakuiert werden, nachdem dort die Fensterscheiben der Empfangshalle durch Querschläger zu Bruch gegangen waren. Die jüngsten Ereignisse in der libyschen Hauptstadt sprechen dafür, daß die instabile Lage in dem Mittelmeerland allmählich in einen regelrechten Bürgerkrieg umschlägt, der verheerende Folgen haben dürfte.

Auslöser der Kämpfe war ein vierstündiges Feuergefecht, bei dem am 5. November in Tripolis ein Milizenführer aus der Hafenstadt Misrata ums Leben gekommen ist. Zuvor war im Stadtteil Suq Al-Juma der Fahrer eines Automobils ohne Nummernschilder von staatlich autorisierten Milizionären angehalten und zur Überprüfung seiner Identität vorübergehend festgenommen worden. Wenige Stunden nach der Freilassung kam diese Person mit bewaffneten Freunden zurück, um sich für die Schmach zu rächen. Ob der Milizenführer, der hierbei ums Leben kam, mit der Person identisch ist, die zuvor in Gewahrsam genommen worden war, ist unklar. Fest steht, daß zwei Tage später eine größere Gruppe Milizionäre mit Geländewagen aus dem 187 Kilometer östlich von Tripolis gelegenen Misrata versucht hat, Suq Al-Juma zu erstürmen.

In Libyen stehen mehr als 200.000 Milizionäre unter Waffen. Nach der Beseitigung des früheren "Regimes" sollten die Milizen, die am Sturz Gaddhafis teilgenommen hatten, für die Einhaltung der öffentlichen Ordnung sorgen. Deswegen bekamen die meisten Milizangehörigen ein Gehalt vom Staat ausgezahlt. Auf die Weise sollten kurzfristig viele junge Männer, die ansonsten mit Waffengewalt geplündert hätten, ruhiggestellt werden. Langfristig war geplant, die Milizen aufzulösen und einen Teil ihrer Anhängerschaft bei Armee und Polizei in den Staatsdienst aufzunehmen, während der Rest sozusagen ins zivile Leben zurückkehren sollte.

Zwei Jahre später hat sich der wohlgemeinte Plan als Wunschtraum erwiesen. Der Staat hat die Milizen nicht in die Schranken weisen können. Das Gegenteil ist der Fall. Mit Hilfe der Milizionäre hat die oppositionelle Moslembruderschaft im vergangenen Mai das Parlament zur Verabschiedung eines Gesetzes zur Entlassung aller früheren Gaddhafi-Getreuen aus dem Staatsdienst gezwungen. Am 10. Oktober wurde am hellichten Tag in Tripolis sogar Premierminister Ali Zeidan von Anhängern des Milizenführers Abdelmonem al-Said vorübergehend entführt. Die Hintergründe der Aktion, die Zeidan als "kalten Putsch" bezeichnete, sind bis heute verborgen geblieben.

Angesichts der jüngsten Entwicklung mutet die Ankündigung der Regierung, sie werde ab dem 1. Januar 2014 die Gehälter für die Milizionäre nicht mehr auszahlen, bis dahin sollten sich alle, die im Staatsdienst verbleiben wollen, bei den staatlichen Streitkräften bewerben, wie eine Geste der Hilflosigkeit an. Das Auslaufen der staatlichen Zuwendungen an die Milizen wurde am 6. November, dem Tag nach dem Scharmützel in Suq Al-Juma, verkündet. Die weit schwereren Kämpfe am darauffolgenden Tag in Tripolis zeigen deutlich, wie sehr die Zentralregierung den Ereignissen hinterherhinkt. Wie der erfahrene Nahost-Korrespondent Patrick Cockburn in einem am 28. Oktober bei Counterpunch erschienenen Artikel zu bedenken gab, setzen sich Libyens Milizen gegen ihre drohende Entmachtung aktiv zur Wehr. So haben sie in den letzten 12 Monaten Attentate auf mehr als 80 ranghohe Armee- und Polizeikommandeure mit tödlichem Erfolg verübt. Das jüngste Opfer der inoffiziellen "Säuberungswelle" wurde Ahmed Al-Barghathi, Leiter der Militärpolizei in Benghazi, den unbekannte Täter am 18. Oktober erschossen, als er nach dem Freitagsgebet eine Moschee in der ostlibyschen Rebellenhochburg verließ.

Das Milizenunwesen ist auch der eigentliche Grund dafür, daß in Libyen der Ölexport fast zum Erliegen gekommen ist. In Benghazi haben in den vergangenen Wochen gleich zwei Gruppen eine eigene Regierung für die Region Kyrenaika (Arabisch Barqa) - neben dem südlichen Fessan und westlichen Tripolitanien eine der drei historischen Großprovinzen Libyens - ausgerufen. Rund um Benghazi sind die meisten Ölraffinerien und -exportterminals von Milizionären besetzt und stehen deshalb still. Bei den Förderanlagen, die zum Teil in der Region um Benghazi und zum Teil in der südlichen Sahara liegen, sieht die Situation ähnlich aus. Dadurch sind Libyens Ölexporte auf schätzungsweise 250.000 Barrel pro Tag geschrumpft und in der Folge die Haupteinnahmequelle der Zentralregierung in Tripolis praktisch versiegt. Statt auf eine rasche Besserung der Wirtschaft und einen zügigen Abbau der grassierenden Arbeitslosigkeit steuert Libyen auf eine drastische Verschärfung der sozialen Lage zu, wenn der Staat demnächst der Bevölkerung nicht mehr stark subventioniertes Brot, gebacken aus Mehl von internationalen Lebensmittelmärkten, zur Verfügung stellen kann. In Libyen stehen die Zeichen auf Sturm. Ein Ausweg aus der Abwärtsspirale ist nicht in Sicht.

8. November 2013