Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

NAHOST/1301: Türkei und Rebellen stecken hinter Giftgasangriffen in Syrien (SB)


Türkei und Rebellen stecken hinter Giftgasangriffen in Syrien

Brisante Enthüllungen Seymour Hershs in der London Review of Books



Die Veröffentlichung eines Tonmitschnitts am 27. März bei Youtube, auf dem zu hören war, wie führende türkische Regierungsvertreter offen die Möglichkeit einer Falsche-Flagge-Operation erörtern, um Ankara einen Vorwand für eine Militärintervention im syrischen Bürgerkrieg zu liefern, hat für mediale Furore gesorgt. Bei den von Außenminister Ahmet Davutoglu, Hakan Fidan, dem Chef des türkischen Geheimdiensts MIT, und Yasar Gürel, dem stellvertretenden Generalstabschef der türkischen Streitkräfte, diskutierten Szenarien handelt es sich um einen Raketenangriff vom syrischen Territorium auf Ziele in der Türkei bzw. um einen Überfall auf das Mausoleum Suleiman Schahs, des Großvaters von Osman I., dem Gründer des Osmanischen Reiches, das im Norden Syriens liegt und nach dem Vertrag von Ankara aus dem Jahr 1921 völkerrechtlich zur Türkei gehört, weswegen dort türkische Soldaten dauerhaft stationiert sind. Fidan schlägt vor, den eventuellen Vorfall al-kaida-nahen "Terroristen" in Syrien in die Schuhe zu schieben, um im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eine entsprechende Resolution zur Mandatierung türkischer Vergeltungsmaßnahmen durchzubekommen.

Wenngleich die türkische Regierung die Echtheit des Mitschnitts nicht prinzipiell bestritten hat - nach Meinung der fließend Türkisch sprechenden ehemaligen FBI-Übersetzerin Sibel Edmonds sind hier verschiedene Gespräche der genannten Personen zusammengeschnitten worden -, weiß niemand, wann die Aufnahme gemacht wurde. Daher könnte deren Inhalt nicht neueren Datums und auf die Zukunft gerichtet, sondern etwas älter sein und sich auf eine andere Phase des Syrienkrieges bezogen haben. Vor diesem Hintergrund hat der legendäre US-Investigativjournalist Seymour Hersh in seinem jüngsten, auf den 4. April datierten Artikel für die London Review of Books wirklich Brisantes über die heimliche Zusammenarbeit zwischen der türkischen Regierung unter Premierminister Recep Tayyip Erdogan und den islamistischen Rebellen in Syrien, allen voran der Al-Nusra-Front, präsentiert. Laut Hersh, der sich in seinem Beitrag auf diverse, nicht namentlich genannte Quellen im US-Sicherheitsapparat bezieht, geht der Einsatz des chemischen Kampfstoffs Sarin im syrischen Bürgerkrieg - im März 2013 bei Aleppo und Damaskus und am 21. August in Ghouta, einem Stadtteil der syrischen Hauptstadt - auf den MIT und Al Nusra zurück.

Hersh greift in seinem Artikel unter dem Titel "The Red Line and the Rat Line" einige Details auf, die zwar länger bekannt sind, jedoch von den Mainstream-Medien nicht an die große Glocke gehängt wurden. Dazu gehört die Beschlagnahmung von zwei Kilogramm Sarin bei der Festnahme mehrerer Al-Nusra-Rebellen durch türkische Zollbeamte im Mai 2013. Bereits im April hatte UN-Ermittlerin Carla Del Ponte, sehr zum Mißfallen der Regierungen in London, Paris und Washington, die Rebellen als wahrscheinlichste Urheber der Giftgasangriffe vom März bezeichnet. Im Juni wurden - von weiten Teilen der westlichen Presse vollkommen ignoriert - mehrere Chemiewaffenlabors sunnitischer Extremisten von der irakischen Polizei in Bagdad ausgehoben. Bekanntlich kämpfen die wichtigsten sunnitischen Mudschaheddin-Gruppen wie Al-Nusra und ISIL grenzübergreifend und betrachten ihre Dschihade in Syrien und im Irak als zwei Teile eines Krieges um die Errichtung eines Kalifats. Laut Hersh wußten die US-Geheimdienste spätestens ab Frühjahr 2013, daß "der MIT ... mit Al Nusra und ihren Verbündeten bei der Entwicklung einer Chemiewaffenfähigkeit direkt zusammenarbeitet".

Hersh berichtete von einer aufgeregten Diskussion im Weißen Haus am 16. Mai 2013 anläßlich des Besuchs von Erdogan in Washington. An dem Arbeitsessen nahmen auf amerikanischer Seite Präsident Barack Obama, Außenminister John Kerry und der damalige Nationale Sicherheitsberater Tom Donilon und auf türkischer Erdogan, Außenminister Davutoglu und Geheimdienstchef Fidan teil. Bei dem Treffen ging es den Gästen aus Ankara darum, Obama klarzumachen, daß seine "rote Linie" - der Einsatz von Chemiewaffen durch die syrischen Streitkräfte - überschritten worden sei, weshalb die NATO militärische Maßnahmen ergreifen müßte. Als Fidan seine Argumente etwas zu energisch vortrug und mit erhobenem Zeigefinger vor Obamas Nase herumfuchtelte, soll der Hausherr den MIT-Chef mit folgender kategorischer Aussage in seine Schranken verwiesen haben: "Wir wissen, was Sie mit den Radikalen in Syrien treiben." Bei der anschließenden Pressekonferenz haben sich Obama und Erdogan ihre Meinungsunterschiede nicht anmerken lassen, sondern nach außen hin weiterhin die gemeinsame Linie, wonach das "Regime" in Syrien um Präsident Baschar Al Assad weg müsse, vertreten.

In den Sommermonaten wuchs seitens der Republikaner im Kongreß um Scharfmacher wie John McCain sowie in den amerikanischen Medien der Druck auf Obama, militärisch in den syrischen Bürgerkrieg einzugreifen. In Hinblick auf die enormen Risiken eines solchen Einsatzes setzte sich das US-Militär, allen voran Generalstabschef Martin Dempsey, gegen den aktionistischen Reflex zur Wehr. Doch als sich dann am 21. August die Nachricht von dem verheerenden Giftgasangriff in Al Ghouta verbreitete, schien Obamas "rote Linie" tatsächlich überschritten und ein Eingreifen der USA und ihrer Verbündeten nur noch eine Frage von Tagen zu sein; das Weiße Haus ordnete die Vorbereitung eines größeren Bomben- und Raketenangriffs an.

Für die Eskalation haben laut Seymour Hersh die türkische Regierung, die sich im Syrienkrieg ein Ende mit Schrecken statt ein Schrecken ohne Ende wünscht, und die Al Nusra gesorgt. Doch der russische Auslandsgeheimdienst machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. Er sammelte Proben des verwendeten Kampfstoffs ein und schickte sie an die britischen Kollegen. Im staatlichen britischen Chemiewaffenlabor Porton Down hat man recht schnell festgestellt, daß das verwendete Sarin nicht die chemische Signatur der Bestände der syrischen Streitkräfte trug. Diese wichtige Information wurde sofort nach Washington weitergeleitet. Ihr Durchsickern im britischen Beamtenapparat dürfte mit ein Grund gewesen sein, warum sich eine Mehrheit der Abgeordneten im Londoner Unterhaus am 28. August gegen eine von der konservativen Regierung David Camerons beantragte Kriegsermächtigung entschied.

Laut Hersh waren es diese beiden Botschaften aus Großbritannien - der Entschluß des Parlaments und die Informationen über die Herkunft des in Ghouta verwendeten Sarins - die übrigens auch von Dempsey und der US-Generalität aufgegriffen wurden -, die Obama dazu veranlaßten, den geplanten Großangriff zu verschieben bzw. sich damit an den Kongreß zu wenden. Als dann Rußlands Präsident Wladimir Putin Mitte September Assad dazu bewegen konnte, in die Vernichtung der syrischen Chemiewaffen unter Aufsicht internationaler Experten einzuwilligen, war die Gefahr einer Ausweitung des Syrienkrieges erst einmal gebannt.

In seinem Artikel geht Hersh unter dem Begriff "Rattenlinie" auf einen weiteren Nebenaspekt des syrischen Bürgerkrieges ein, nämlich auf den illegalen Transport schwerer Waffen und islamistischer Kämpfer aus Libyen über den Seeweg nach Syrien nach dem gewaltsamen Sturz Muammar Gaddhafis im Herbst 2011. Hierbei beleuchtet er die Hintergründe des Überfalls auf das US-Konsulat in der ostlibyschen Rebellenhochburg Benghazi am 11. September 2012, der bekanntlich Botschafter Christopher Stevens und drei seiner Mitarbeiter das Leben kostete. Wenige Stunden vor dem Überfall hatte Stevens mit dem türkischen Generalkonsul in Benghazi, Ali Sait Akin, gegessen. Bei dem Treffen soll es um die Beilegung eines Streits über die Aufteilung von mehr als 400 Tonnen libyscher Waffen, darunter auch Boden-Luft-Raketen, gegangen sein, die fünf Tage zuvor mit dem Frachter Al Entisar im türkischen Hafen Iskanderum angekommen waren.

Laut Hersh diente die geheime CIA-Station in Benghazi, die auch Ziel des Überfalls war, dem Zweck der Waffenbeschaffung für die Aufständischen in Syrien. Demnach haben Mitarbeiter der CIA und des britischen Auslandsgeheimdienstes MI6 Gaddhafis Waffendepots nach Verwertbarem durchsucht und brauchbares Material nach Benghazi bringen lassen, wo der türkische MIT den Weitertransport übernahm. Und weil die CIA die Aktion gemeinsam mit dem MI6 betrieb, hatte sie nicht, wie es bei eigenen Operationen sonst vorgeschrieben ist, die Geheimdienstausschüsse von Senat und Repräsentantenhaus darüber in Kenntnis gesetzt. Dieser Umstand würde auch die desaströse Informationspolitik der demokratischen Obama-Regierung nach dem Überfall in Benghazi erklären, als sich vor allem Außenministerin Hillary Clinton und UN-Botschafterin Susan Rice in Widersprüche verwickelten, die sie zur Zufriedenheit der oppositionellen Republikaner im Kongreß bis heute nicht haben ausräumen können.

7. April 2014