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NAHOST/1320: ISIS-Salafisten rufen Kalifat in Syrien und Irak aus (SB)


ISIS-Salafisten rufen Kalifat in Syrien und Irak aus

Zerfall des Iraks weckt Begehrlichkeiten der Nachbarstaaten



Nach ihren jüngsten militärischen Erfolgen im Irak haben die sunnitischen Dschihadisten vom Islamischen Staat im Irak und Syrien (ISIS) am 29. Juni mit der Veröffentlichung eines pompös wirkenden Videos im Internet in dem von ihnen kontrollierten Gebiet, das von Aleppo im Nordwesten Syriens unweit der türkischen Grenze bis zur irakischen Provinz Diyala nördlich von Bagdad reicht und im Osten an den Iran grenzt, ein Kalifat ausgerufen. Abu Bakr Al-Baghdadi, der Gründungschef des ISIS und dessen Vorläuferorganisation Al Kaida im Irak, wurde zum Kalifen "aller Muslime" auf der Welt erklärt. Hauptstadt des neuen "Islamischen Staats" ist vorerst Raqqa, Hauptstadt der gleichnamigen Provinz im Nordosten Syriens, die sich seit März 2013 in den Händen der militanten Gegner von Präsident Baschar Al Assad befindet.

Durch den Vormarsch der Aufständischen im Irak hat sich der sunnitisch-schiitische Konflikt dort mit dem Bürgerkrieg in Syrien zu einem Regionalkrieg verschmolzen, der zusehends eskaliert und schwerwiegende Folgen haben dürfte. Die israelische Luftwaffe hat zum Beispiel am 22. Juni Angriffe auf neun Positionen der syrischen Streitkräfte geflogen. Die Operation erfolgte als Vergeltung für die Tötung eines 15jährigen arabisch-israelisch stämmigen Jugendlichen an der Grenzlinie auf den Golanhöhen durch eine syrische Rakete. Inzwischen soll sich Damaskus über die Vereinten Nationen bei Tel Aviv für den Vorfall entschuldigt haben. Angeblich hielten die syrischen Streitkräfte den Wagen, in dem der Junge zusammen mit seinem Vater unterwegs war, um Reparaturarbeiten am Zaun durchzuführen, für ein Fahrzeug der Rebellen. Dies berichtete die Times of Israel am 28. Juni. Im selben Artikel wurde der israelische Oberstleutnant Anan Abbas dahingehend zitiert, daß die syrische Seite der Demarkationslinie, also jener Teil der Golanhöhen, der nicht von den Israelis seit 1967 illegal besetzt wird, "zu 95 Prozent" unter der Kontrolle der Aufständischen, "darunter der al-kaida-nahen Al-Nusra-Front", steht. Damit dürfte der größte Teil der Golanhöhen, den Israel 1981 annektierte, für den Staat Syrien für immer verlorengegangen sein.

Auch an anderer Stelle nutzt Israel die aktuellen Kriegswirren, um die Grenzen des Nahen Ostens zu seinen Gunsten zu verschieben. Am 20. Juni erhielt Israel erstmals Öl aus dem autonomen nordirakischen Kurdistan. Das Öl war per Pipeline in die türkische Hafenstadt Ceyhan gepumpt und dort auf den Tanker SCF Altai geladen worden, der es in den Hafen von Ashkelon transportierte. Für die Zentralregierung in Bagdad stellt der mit ihr nicht abgesprochene Export irakischen Öls in die Türkei und weiter nach Israel einen illegalen Akt dar. Für die Kurden dagegen war es ein entscheidender Schritt Richtung staatlicher Unabhängigkeit. Nicht zufällig haben seitdem mehrere führende Politiker aus Israel - Präsident Shimon Peres, Premierminister Benjamin Netanjahu und Außenminister Avigdor Lieberman - und der Türkei die Loslösung Kurdistans vom Irak für unvermeidlich erklärt.

Israel, dessen Streitkräfte sich aktuell Scharmützel mit der Hamas im Gazastreifen liefern und eine großangelegte Suche nach drei entführten, jüdischen Siedler-Jugendlichen auf der Westbank durchführen, nutzt die Erfolge des Islamischen Staates im Irak und in Syrien, um in die Rolle des Beschützers für das arabische Nachbarland Jordanien, genauer gesagt für das dortige Königshaus der Haschemiten, zu schlüpfen. Nachdem ISIS-Kämpfer vorübergehend Teile der irakisch-jordanischen Grenze übernommen hatten, meldete am 25. Juni Ynetnews.com, die Online-Ausgabe der israelischen Zeitung Yedioth Aharonot, eine deutliche Zunahme der Zusammenarbeit zwischen den Sicherheitsapparaten Israels und Jordaniens. Hierzu wurde eine Quelle in der jordanischen Botschaft in Tel Aviv zitiert. Die US-Internetzeitung Daily Beast berichtete am 27. Juni unter Berufung auf Regierungsquellen in Washington, daß König Abdullah II. Israel und die USA um militärischen Beistand bitten werden, falls die Bedrohung durch die radikalislamischen ISIS-Milizen, die viele Sympathieträger in Jordanien habe, weiter zunehme.

Auch die USA nutzen den Vorwand der sunnitisch-salafistischen Bedrohung, um ihre Position im Nahen Osten zu verbessern. Washington hat 300 Militärberater nach Bagdad entsandt, welche den schwächelnden, schiitisch-dominierten Streitkräfte des Iraks unter die Arme greifen sollen. Die Obama-Administration drängt Premierminister Nuri Al Maliki, dessen Weigerung, ein Truppenstationierungsabkommen mit Washington zu schließen, die USA Ende 2011 zum Abzug aller Militäreinheiten aus dem Irak zwang, zum Rücktritt. Nach außen hin bekennen sich die USA zum Erhalt des Staates Irak und plädieren für die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit, in der Kurden, Sunniten und Schiiten ihren Platz finden. Das Hauptinteresse Washingtons besteht jedoch nach wie vor in der Schwächung des Einflusses des mehrheitlich schiitischen Irans im Irak, in Syrien und im Libanon - ein Anliegen, das die USA seit Jahren mit Israel und Saudi-Arabien teilen.

Nicht umsonst hat Obama am 26. Juni - vier Tage, nachdem die letzten chemischen Waffen der staatlichen Streitkräfte Syriens per Schiff außer Landes gebracht worden waren - beim Kongreß in Washington die Bewilligung von 500 Millionen Dollar zur Ausbildung und Ausrüstung der "gemäßigten" syrischen Rebellen beantragt. In einem Artikel, der am 27. Juni bei der britischen Tageszeitung Independent erschienen ist, hat deren langjähriger Kriegs- und Nahost-Korrespondent Robert Fisk Obamas Initiative als Täuschungsmanöver bezeichnet. Nach Einschätzung Fisks gibt es kaum noch "Gemäßigte" unter den Aufständischen in Syrien. Er geht davon aus, daß wie bisher das Geld und die Waffen, welche der Westen und die arabischen Staaten am Persischen Golf den Assad-Gegnern zur Verfügung stellen, entweder in die Hände der Al-Nusra-Front oder des Islamischen Staats gelangen. Hielt die Al Nusra bisher zu Aiman Al Zawahiri, der im vergangenen Februar Al-Baghdadis ISIS wegen ihrer Brutalität gegen die Schiiten und andere Ungläubige aus dem Al-Kaida-"Netzwerk" hinauswarf, so hat es in letzter Zeit wieder Hinweise auf eine Versöhnung beider Organisationen gegeben.

Bei einer Stippvisite am 27. Juni in der Hafenstadt Dschidda am Roten Meer ist US-Außenminister John Kerry mit dem saudischen König Abdullah und Ahmad Al Dscharba, dem Chef der oppositionellen Syrischen Nationalkoalition, die von den NATO-Mächten und ihren wichtigsten Verbündeten in der islamischen Welt im Rahmen des von ihnen 2012 ins Leben gerufenen Privatvereins "Freunde Syriens" als legitimes Sprachrohr des syrischen Volkes anerkannt wurde, zusammengekommen. Alle drei Männer waren sich einig, daß "Extremismus" und "Terrorismus" im Nahen Osten bekämpft werden müssen. Abdullah hat sich aus Rücksicht auf den hohen Gast aus den USA für die Bildung einer Notstandsregierung in Bagdad ausgesprochen, dafür gleichzeitig den Rücktritt von Premierminister Al Maliki und eine Zurückdrängung des iranischen Einflusses im Irak gefordert. Seinerseits lobte Kerry Al Dscharba, der über eine von Abdullahs vielen Ehefrauen mit dem saudischen Monarchen verwandt sein soll, als jemanden, der über seine Stammesverbindungen im Irak und in Syrien für eine Wende zum Besseren sorgen könne. "Die gemäßigte Opposition in Syrien ... hat die Fähigkeit, ein wichtiger Akteur bei der Zurückdrängung der ISIS-Präsenz zu sein, nicht nur in Syrien, sondern auch im Irak", fabulierte Kerry auf einer Pressekonferenz am Flughafen von Dschidda.

Al Dscharba hatte vor kurzem eine Kontroverse innerhalb der Syrischen Nationalkoalition ausgelöst, als er General a. D. Abdel Fattah Al Sisi per Brief zum Amtsantritt als neuer Präsident in Ägypten gratulierte und damit den gewaltsamen Sturz Mohammed Mursis vom vergangenen Jahr in nachhinein guthieß. Aus Protest war daraufhin der Oberste Geistliche der syrischen Moslembruderschaft, Ali Sadreddine Bayanouni, am 10. Juni aus der Nationalkoalition ausgetreten. Die Respektbekundung Al Dscharbas an die Adresse Al Sisis läßt sich leicht erklären. Nach Kerrys Besuch bei Al Sisi am 22. Juni und der damit einhergehenden Reaktivierung der "historischen Partnerschaft" zwischen Washington und Kairo soll die ägyptische Regierung Spezialstreitkräfte an die irakisch-saudische Grenze entsandt haben. Dies berichtete am 25. Juni DEBKAfile. Im selben Artikel behauptete der private, mossad-nahe israelische Nachrichtendienst, die Angriffe der syrischen Luftwaffe auf ISIS-Positionen nahe der Stadt Al Qaim an der Grenze zum Irak am Tag davor hätten Flugplätzen gegolten, über die Saudi-Arabien den Dschihadisten Nachschub zukommen ließe.

30. Juni 2014