Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

NAHOST/1321: Israel will Vergeltung für Tod dreier Jugendlicher (SB)


Israel will Vergeltung für Tod dreier Jugendlicher

Netanjahu-Regierung geht diplomatisch und militärisch in die Offensive



Die Entdeckung der Leichen dreier israelischer Jugendlicher am 30. Juni, 18 Tage nachdem sie beim Trampen auf dem Heimweg von ihrer Religionsschule nahe Bethlehem zu einer illegalen jüdischen Siedlung bei Hebron im Westjordanland verschwanden, hat die schon länger andauernde Krise im Nahen Osten erheblich verschärft. Benjamin Netanjahu, Premierminister der am meisten nach rechts gerichteten Regierung in der Geschichte Israels, hat die "radikal"-islamische Hamas-Bewegung für den gewaltsamen Tod der drei Thora-Schüler verantwortlich gemacht und schwere Vergeltung angekündigt. In der Nacht zum 1. Juli kam es gleich zu 34 Angriffen der israelischen Luftwaffe auf Ziele in dem von der Außenwelt abgeriegelten Gazastreifen, den die Hamas seit 2006 regiert.

Bereits die großangelegte Suchaktion der israelischen Armee in den letzten zweieinhalb Wochen hat aus Sicht der palästinensischen Bevölkerung auf der Westbank jede Verhältnismäßigkeit vermissen lassen. Mehr als 400 Personen wurden verhaftet, darunter auch viele Minderjährige. Tausende Wohnungen wurden durchsucht und die Inneneinrichtungen dabei schwer beschädigt, wenn nicht sogar zerstört. Zwei ältere Menschen sind während der brutalen Razzien einem Herzinfarkt erlegen. Sechs junge Palästinenser, die gegen die drakonischen Militärmaßnahmen protestierten bzw. sich den Anweisungen der Soldaten widersetzten, wurden erschossen. Der Eindruck, wonach es sich hier um eine kollektive Bestrafung, die nach dem Völkerrecht eigentlich illegal ist, handelte, hat sich durch die Freigabe von Informationen über den Entführungsfall, der wegen der bis zum Fund der drei Leichen verhängten Nachrichtensperre der israelischen Behörden bislang nur als Gerücht grassierte, verstärkt.

Um 22.25 Uhr am Abend des 12. Juni meldete sich einer der drei Jugendlichen per Smartphone kurz bei der Notrufnummer der israelischen Polizei in Hebron und erklärte im Flüsterton, daß er entführt worden sei. Die Polizei nahm an, daß es sich bei dem Anruf um einen Jugendstreich handelte, und unternahm zunächst nichts. Erst als am nächsten Vormittag ein Vater der Jugendlichen seinen Sohn bei der Polizei als vermißt meldete, lief gegen 8.00 Uhr - mehr als neun Stunden nach dem ursprünglichen Notruf - die Suchaktion an. Noch vor Mittag stellte die palästinensische Polizei 15 Kilometer südlich von dem Ort, wo die Leichen später gefunden werden sollten, das Wrack eines gestohlenen Hyundais sicher. Bei der Untersuchung des Autos fanden israelische Forensiker eine Patronenhülse und andere Hinweise, aus denen geschlossen wurde, daß es sich hier um das Tatfahrzeug handelte und daß die drei Jugendlichen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr am Leben waren.

Ungeachtet dessen hat die Netanjahu-Regierung während der wochenlangen großangelegten Suchaktion die Hoffnung genährt, daß die Entführten noch leben könnten. Es wurde eine gigantische Medienkampagne gestartet, um die Israelis wieder als unschuldiges Opfer arabischer Grausamkeit darzustellen. Die diplomatische und militärische Offensive ist als Reaktion der rechtskonservativen Koalitionsregierung auf zwei schwere politische Niederlagen zu verstehen, die sie in den letzten zwei Monaten hat einstecken müssen: erstens, auf den Kollaps der Nahost-Friedensverhandlungen und die Entscheidung der palästinensischen Autonomiebehörde um Präsident Mahmud Abbas zur Versöhnung mit der Hamas und der Gründung einer Einheitsregierung für das Westjordanland und den Gazastreifen, und zweitens auf das Votum der Presbyterianischen Kirche in den USA, sich der internationalen Kampagne Boykott, Divestment and Sanctions (BDS) gegen Israel anzuschließen.

Nach dem Fund der drei Leichen haben die israelischen Behörden in Hebron die Häuser der Familien zweier Hamas-Mitglieder, Marwan Qawasmeh und Amer Abu Eisheh, die als mutmaßliche Täter gehandelt werden und die angeblich nach dem Verschwinden der Jugendlichen untergetaucht sind, in die Luft gejagt. Es handelt sich hier um die erste Strafsprengung von Häusern mutmaßlicher palästinensischer "Terroristen" seit 2005. Die Hamas bestreitet vehement jede Verwicklung in den Vorfall und hat Israel mit einer "Dritten Intifada" gedroht, sollten die Repressionen und Vergeltungsmaßnahmen in den besetzten Gebieten nicht bald aufhören.

Doch dafür stehen die Chancen extrem schlecht. Der israelische Premierminister und seine Kabinettsmitglieder haben in den letzten Tagen mit martialisch-populistischen Sprüchen Erwartungen geschürt, die sich nicht ohne weiteres Blutvergießen realisieren lassen. Über Israel rollt momentan eine Woge der Gefühle, die von der Regierung zusätzlich genährt wird. Bei der Trauerfeier für die drei Getöteten, die am heutigen Nachmittag live im israelischen Fernsehen ausgestrahlt wurde, hat Netanjahu persönlich die Lobesrede gehalten. In den vergangenen Tagen haben sich die Mitglieder der israelischen Regierung mit drastischen Vergeltungsideen gegenseitig zu überbieten versucht. Außenminister Avigdor Lieberman hat die Rückeroberung und Wiederbesetzung des Gazastreifens angeregt, Verteidigungsminister Moshe Ya'alon den Bau einer ganzen Reihe neuer Siedlungen im Westjordanland vorgeschlagen. Inzwischen haben jüdische Siedler einen unbebauten Hügel bei Maale Adunim auf der Westbank besetzt. Sie fordern die Errichtung Tausender neuer Wohnungen dort, zum Gedenken an die drei ermordeten Thora-Schüler. Die weitere Eskalation ist offenbar längst vorprogrammiert und wird in den nächsten Stunden und Tagen viel Leid über die Menschen im Nahen Osten bringen.

1. Juli 2014