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NAHOST/1333: Islamischer Staat auf dem Vormarsch in Syrien (SB)


Islamischer Staat auf dem Vormarsch in Syrien

Armee des neuen Kalifats erweist sich als schlagkräftig



Gestärkt durch ihre spektakuläre, erfolgreiche Offensive im Juni, bei der die Kämpfer der ISIS und ihre Verbündeten aus den sunnitischen Stämmen sowie der früheren Armee Saddam Husseins die Millionenstadt Mossul und weite Teile des Westens und des Nordwestens des Iraks eroberten, setzt die salafistische Truppe ihren Vormarsch nun in Syrien fort. Nicht zufrieden damit, den Belagerungsring um Bagdad immer enger zusammenzuziehen und den Peschmergas im irakischen Kurdistan zuzusetzen, versucht die Armee des am 29. Juni von ISIS-Chef Abu Bakr Al Baghdadi ausgerufenen Kalifats namens Islamischer Staat (IS) den kurdischen Nordosten Syriens einzunehmen, während sie gleichzeitig den Streitkräften Bashar Al Assads schwere Niederlagen zufügt. Damit ist eine neue Situation entstanden. Bis vor kurzem waren es die staatlichen Streitkräfte, die in Syrien die Oberhand hatten und den seit 2011 anhaltenden Bürgerkrieg fast gewonnen zu haben schienen.

Von einer regelrechten Armee des IS zu reden, ist in diesem Zusammenhang vollkommen angemessen. Als solche und "schlimmer als Al Kaida" hat sie Brett McGurk, Staatssekretär im US-Außenministerium am 23. Juni bei einer Anhörung des Senats in Washington bezeichnet. Kalif Ibrahim, wie sich Al Baghdadi inzwischen nennt, soll beinahe 20.000 Mann unter Waffen haben, von denen rund die Hälfte aus jungen Ausländern, die weder aus dem Irak oder Syrien kommen, besteht. Bei der Eroberung von Mossul und den umliegenden Militärbasen hat IS sowohl mehr als 400 Milliarden Dollar aus dem Tresor der dortigen Filiale der irakischen Zentralbank als auch 52 Haubitzen des Typs M198 - Stückpreis 500.000 Dollar - samt Munition, 1500 Humvee-Militärfahrzeuge und 4000 KPC-Maschinegewehre, die 800 Kugeln in der Minute verschießen, erbeutet. Gilt IS bereits wegen der Einnahmen aus dem Geschäft mit Rohöl aus den von ihm kontrollierten Teilen Ostsyriens als finanzträchtigste "Terrororganisation" der Welt, so dürfte er dank der massiven Aufstockung seines Waffenarsenals auch inzwischen als eine der schlagkräftigsten angesehen werden.

Die M198-Haubitzen, die aus US-Produktion stammen und für die irakischen Streitkräfte gedacht waren, können Ziele in einer Entfernung bis zu 35 Kilometern mit zwei 155-mm-Artilleriegranaten pro Minute beschießen. In einem Artikel der US-Zeitungsgruppe McClatchy vom 16. Juli meinte Jeremy Binnie vom Militärberatungsunternehmen IHS Janes, den IS-Dschihadisten könnte das Erlernen der GPS-Zielerfassungstechnologie des Kriegsgeräts schwerfallen. Bedenkt man die Tatsache, daß unter der Fahne des IS auch frühere Offiziere Saddam Husseins mit Erfahrung aus dem Iran-Irak-Krieg kämpfen, klingen die Äußerungen Binnies eher wie Wunschdenken.

Jedenfalls fehlt es auf seiten des IS nicht an militärischem Sachverstand, wie die vernichtende Zurückschlagung des Versuchs der irakischen Armee, vor rund zehn Tagen die Stadt Tikrit den Rebellen zu entreißen, zeigt. Dort sind die IS-Rebellen vor den Soldaten zurückgewichen, haben sie in das Zentrum der Stadt eindringen lassen, um sie dann in einer Sackgasse vollkommen aufzureiben. Wem die Flucht nicht gelang, wurde von den sunnitischen Gotteskriegern getötet. In den vergangenen Tagen ist es zu heftigen Kämpfen zwischen IS-Freiwilligen und der syrischen Armee bei Aleppo im Nordwesten sowie in den Provinzen Raqqa, Deir al Zor und Hama im Zentrum und Osten des Landes gekommen. Allein bei der Eroberung des Ölfeldes Schaar Mitte Juli sollen die IS-Rebellen 270 Soldaten, Wachmänner und Techniker ums Leben gebracht haben.

Am 25. Juli haben IS-Kämpfer den strategisch wichtigen Stützpunkt der 17. Division der syrischen Armee nahe der Stadt Raqqa überrannt. Bei dem Gefecht sollen 85 Soldaten und 13 Aufständische gefallen, weitere 100 bis 200 Soldaten geflohen sein. Rund 50 der getöteten Angehörigen der Assad-Armee sollen nicht im Kampf, sondern nach der Gefangennahme von den IS-Rebellen hingerichtet worden sein. Anschließend hat man Bilder von ihren abgehackten Köpfen im Internet veröffentlicht. Damit haben sich die Vertreter des Kalifats schwerster Kriegsverbrechen schuldig gemacht. Am 28. Juli wurde die Einnahme des Militärstützpunktes Maylabieh nahe der Stadt Al Hasaka, Hauptstadt der gleichnamigen Provinz im syrischen Nordosten, durch den IS nach einer dreitägigen Schlacht gemeldet.

Seit einigen Wochen versuchen die IS-Kämpfer die Städte Ain Al Arab und Kobanai in der Provinz Aleppo an der Grenze zur Türkei zu erobern. Beide Städte und die umliegende Region befinden sich seit über einem Jahr mit Einverständnis der Zentralregierung in Damaskus unter der Kontrolle der kurdischen Partiyaq Yekitiya Demokrata (Partei der demokratischen Union - PYD), der syrischen Schwesterorganisation der PKK Abdullah Öcalans. Bisher leisten die Volksverteidigungseinheiten (YPG), der militärische Arm der PYD, erbitterten Widerstand. Dabei erhalten die YPG Unterstützung von den Kurden in der Türkei und im Irak. Vor kurzem soll die PKK 1000 eigene Kämpfer in die belagerte Krisenregion entsandt haben.

Am 24. Juli gelang es den Peschmergas, im irakischen Kurdistan nach einer siebenstündigen Schlacht die IS-Kämpfer aus zwei Bezirken in der Provinz Diyala, die sie seit einem Monat besetzt gehalten hatten, zu vertreiben. Vor der nahegelegenen Provinzhauptstadt Stadt Baquba, die nur 60 Kilometer nördlich von Bagdad liegt, haben am 26. Juli die irakischen Streitkräfte zusammen mit schiitischen Milizionären eine größere Gruppe IS-Kämpfer ausgelöscht. Inzwischen meldet die Regierung in Damaskus, die syrischen Streitkräfte hätten das Ölfeld Schaar wieder zurückerobert. Derlei Meldungen lassen erkennen, daß die Lage im irakisch-syrischen Kriegsgebiet sehr fluide ist. Dennoch steht fest, daß das neue Kalifat, dessen Gebiet auf beiden Seiten der irakisch-syrischen Grenze liegt, als Staat de facto existiert und nicht ohne weiteres wieder von der Landkarte zu tilgen ist.

Auch wenn die Meldungen aus dem Herrschaftsbereich Al Baghdadis wie die Einführung einer fundamentalistischen Auslegung der Scharia und die Zerstörung zahlreicher Kulturdenkmäler wie die Sprengung jener historischen Moschee in Mossul, in welcher der Prophet Jona - der der biblischen Überlieferung nach von einem Wal verschluckt und später ausgespuckt wurde - begraben sein soll, am 24. Juli sehr zu denken geben, laufen derzeit Tausende Angehöriger anderer Rebellengruppen zum IS über. Bis sich der irakisch-syrische Bürgerkrieg ausgetobt hat, wird es noch lange dauern. Es ist nicht einmal ausgeschlossen, daß er in weitere Länder übergreift - am meisten gefährdet sind der Libanon und Jordanien - bzw., daß er, durch eine noch aktivere Beteiligung der schiitischen und sunnitischen Schutzmächte Iran und Saudi-Arabien als bisher, drastisch eskaliert.

30. Juli 2014