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NAHOST/1394: Aufständische in Syrien auf dem Vormarsch (SB)


Aufständische in Syrien auf dem Vormarsch

Den einstigen einheitlichen Staat Syrien gibt es nicht mehr


Nach vier Jahren Bürgerkrieg besteht die Aussicht, daß die Syrische Arabische Armee (SAA) die Aufständischen bezwingen und die Herrschaft der Regierung in Damaskus um Präsident Baschar Al Assad im ganzen Land durchsetzen könnte, nicht mehr. Das Syrien aus der Zeit vor 2011 existiert faktisch nicht mehr. Die verschiedenen Städte und Landesteile befinden sich in den Händen diverser Akteure, einerseits der staatlichen Streitkräfte und der mit ihnen verbündeten Milizen aus Drusen, Alewiten, Christen, Assyrern et cetera, andererseits der Rebellen, die hauptsächlich in sunnitisch-salafistischen Kampfformationen wie Al-Nusra-Front, Islamischer Staat und Ajnad Al Sham organisiert sind. Auch wenn ein "Regimewechsel" in Damaskus nicht unmittelbar zu erwarten ist, stehen die Aussichten für die Anhänger der bisherigen säkularen Staatsform mehr als schlecht.

Mitte März haben die staatlichen Streitkräfte mit Idlib - nach Rakka im Nordosten, das sich seit März 2013 in den Händen von IS befindet - eine zweite Provinzhauptstadt an die Rebellen verloren. Idlib liegt ebenfalls im Nordwesten nicht weit von der Grenze zur Türkei. Nach Ansicht der Behörden in Damaskus sowie der meisten Militärexperten war die Einnahme Idlibs nur möglich, weil die Aufständischen, allen voran Al Nusra und Ajnad Al Sham, logistische Hilfe von der Türkei erhielten. Vor wenigen Tagen ist nun die strategisch wichtige Stadt Dschisr asch-Shughur, die zur Provinz Idlib gehört und an der wichtigsten Straßenverbindung zum Küstenstreifen Latakia, Hauptsiedlungsgebiet der Alewiten mit dem gleichnamigen Mittelmeerhafen als Provinzhauptstadt, liegt, ebenfalls von den Rebellen erobert worden.

Der für die syrischen Streitkräfte negative Ausgang der Schlacht um Dschisr asch-Shughur hat in den westlichen Medien eine Diskussion bezüglich der Überlebensfähigkeit des Assad-"Regimes" ausgelöst. Die Frage wurde zum Beispiel am 29. April unter der Überschrift "An Eroding Syrian Army Points to Strain" ("Syrische Armee unter Druck - Auflösungsgefahr besteht" in der New York Times ausführlich behandelt. In einem ebenfalls umfassenden, am 28. April im Londoner Guardian erschienenen Beitrag führten Nahost-Korrespondent Martin Chulov und Reporter Kareem Shaheen aus Beirut die jüngsten militärischen Erfolge der syrischen Rebellen im Süden nahe den Golanhöhen und der Grenze zu Israel und Jordanien sowie im Nordwesten auf eine verstärke Koordinierung zwischen Saudi-Arabien und der Türkei zurück.

Nach Angaben von Chulov und Shaheen hat Riad seine Vorbehalte gegenüber den von Ankara favorisierten Gruppen, die der Moslembruderschaft nahestehen, fallengelassen. Gemeinsam hätten die Türkei und Saudi-Arabien eine verstärkte Zusammenarbeit der verschiedenen aufständischen Milizen erzwungen. Im Guardian-Artikel wurde ein Waffenschmuggler mit Verbindung zu den Dschihadisten mit den Worten zitiert: "Sie [die Türken und die Saudis - Anm. d. SB-Red.] haben großen Wert auf Einheit und Disziplin gelegt. Wir haben viel weniger interne Machtkämpfe, als wir es gewohnt waren, gesehen und die Resultate sprechen für sich."

Ein nicht namentlich genanntes Mitglied der syrischen Opposition lobte gegenüber dem Guardian ebenfalls die neue Einigkeit unter den Rebellen, für die er zwei Erklärungen parat hatte. Erstens hätten die Saudis "alle am Kampf in Syrien Beteiligten davon überzeugt, daß der Iran der eigentliche Feind" sei, zweitens hätten sie den Rebellen größere Mengen schwerer Waffen, insbesondere der Panzerabwehrlenkwaffe BGM-71 TOW, zukommen lassen. In der Folge seien die TOW-Antipanzerraketen "in den vergangenen zwei Monaten im Norden und Süden Syriens häufig zum Einsatz gekommen und hätten viele Panzer und Panzerfahrzeuge der syrischen Armee vernichtet". Wegen ihrer enormen Schlagkraft unterliegt der Export der vom US-Rüstungsgiganten Raytheon produzierten TOW-Rakete strengsten Exportauflagen. Von daher müßte man annehmen, ihre Weitergabe an die syrischen Rebellen erfolge mit Zustimmung zumindest der CIA und des Pentagons, wenn nicht sogar des Weißen Hauses.

Der Vormarsch der syrischen Rebellen läßt als nächstes Offensiven gegen Hama, die drittgrößte Stadt Syriens und Hauptstadt der gleichnamigen Provinz südlich von Idlib, sowie gegen den Teil der nahe der türkischen Grenze liegenden Wirtschaftsmetropole Aleppo, der noch von SAA-Truppen gehalten wird, als wahrscheinlich erscheinen. Auf den großen Entlastungangriff, den die schiitisch-libanesische Hisb-Allah-Miliz gegen Rebellen-Positionen in der Bergregion Qalamoun nahe der Grenze zum Libanon angeblich starten wollte, wartet man immer noch vergeblich. In den vergangenen Tagen haben israelische Kampfjets mehrmals Stellungen der syrischen Armee in Qalamoun angegriffen und damit den Kämpfern von der al-kaida-nahen Al-Nusra-Front Hilfe geleistet.

In einem längeren Artikel, der am 28. April auf der Website Consortiumnews.com unter der Überschrift "Syria's Nightmarish Narrative" erschienen ist, hat Reporter-Legende Robert Parry US-Präsident Barack Obama heftig dafür kritisiert, dem verbrecherischen Treiben der Türken, Saudis und Israelis in Syrien tatenlos zuzusehen bzw. nichts dagegen zu unternehmen. Solange Washington Ankara, Riad und Tel Aviv gewähren lasse, sei die laufende Militäroperation der USA gegen die "Terrormiliz" IS zum Scheitern verurteilt, während das Chaos und das Blutvergießen im Nahen Osten nur noch zunehmen werde, prognostizierte Parry.

29. April 2015


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