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NAHOST/1416: Erlebt Rußland in Syrien ein zweites Afghanistan? (SB)


Erlebt Rußland in Syrien ein zweites Afghanistan?

Orthodoxie und Sunnitentum in Syrien auf Kollisionskurs?


In Medien und Politik findet derzeit eine lebhafte Diskussion darüber statt, ob Rußland in Syrien, wo es seit nunmehr zwei Wochen Luftangriffe auf Rebellenstellungen durchführt, ein zweites Afghanistan erleben wird. 1979 sind sowjetische Truppen der befreundeten afghanischen Regierung zu Hilfe gekommen, um einen Aufstand antikommunistischer, religiös motivierter Guerillas, die von den USA, Pakistan und Saudi-Arabien unterstützt wurden, niederzuschlagen. Auf dem Höhepunkt des Kriegs waren 115.000 sowjetische Soldaten in Afghanistan stationiert. Dennoch konnte Moskau die Auseinandersetzung nicht für sich entscheiden und mußte 1988 alle Truppen abziehen. Die schwere Niederlage für den Kreml, an der die CIA mit der teuersten und aufwendigsten aller verdeckten Aktionen - Operation Cyclone - sowie Zehntausende muslimische Freiwillige aus aller Welt wesentlichen Anteil hatten, führte nur drei Jahre später zum Untergang des Warschauer Paktes und zur Auflösung der Sowjetunion.

Bislang hat Rußland keine Bodentruppen für den "Antiterrorkampf" nach Syrien entsandt, den der Sprecher der Russischen Orthodoxen Kirche, Wsewold Chaplinals, Anfang Oktober als eine "heilige Schlacht" bezeichnet hatte. Auf dem Marinestützpunkt Tartus sowie auf zwei Fliegerhorsten in der Mittelmeerprovinz Latakia sind etwas mehr als 2000 Militärangehörige aus Rußland stationiert, die hauptsächlich mit dem Waffennachschub für die syrischen Streitkräfte sowie der Durchführung der Angriffe der russischen Luftwaffe auf aufständische Ziele befaßt sind. Am Boden wird die Syrische Arabische Armee (SAA) von schätzungsweise mehreren tausend iranischen Soldaten und Kämpfern der schiitisch-libanesischen Hisb-Allah-Miliz unterstützt. Offenbar soll es vorerst bei dieser Arbeitsteilung bleiben. Die Regierung in Moskau erwägt nach eigenen Angaben keine Entsendung von Bodentruppen nach Syrien. Nichtsdestotrotz kann die Militärintervention in Syrien für Rußland zu einer weitaus blutigeren Angelegenheit werden, als von Präsident Wladimir Putin ursprünglich einkalkuliert.

US-Präsident Barack Obama prognostiziert bereits, die Russen würden im syrischen Sumpf versinken, während Pentagon-Chef Ashton Carter vor "schweren Konsequenzen" in Form "terroristischer" Anschläge islamistischer Extremisten auf zivile Ziele in Rußland warnt. Das Königshaus Saudi-Arabiens und die anderen sunnitischen Autokratien am Persischen Golf sind über Moskaus militärisches Eingreifen in den syrischen Bürgerkrieg mehr als aufgebracht, da es ihre mehr als vierjährigen Bemühungen, das säkulare "Regime" um den syrischen Präsidenten Baschar Al Assad mit Hilfe salafistischer Dschihadisten zu stürzen, durchkreuzt. Medienberichten zufolge haben sie deshalb in den letzten Tagen die Rüstungshilfe für die syrischen Rebellen drastisch hochgefahren.

Am 8. respektive am 9. Oktober haben die BBC, der Guardian und die Onlinezeitung Middle East Eye einen nicht namentlich genannten Regierungsbeamten aus Katar dahingehend zitiert, daß der jüngste Aufruf von 53 muslimischen Geistlichen in Saudi-Arabien an alle "wahren Muslime" zur Teilnahme am heiligen Krieg gegen Assads Armee sowie die Streitkräfte Rußlands und des schiitischen Irans in Syrien eine ungeheure Wirkung entfalten dürfte: "Rußland hat ein Frankenstein-Monster in der Region geschaffen, das es nicht unter Kontrolle bekommen wird. Mit dem Aufruf zum Dschihad werden sich die Dinge ändern. Alle werden hingehen, um zu kämpfen. Es gibt 1,5 Milliarden Muslime. Stellen Sie sich vor, was passiert, wenn nur ein Prozent von ihnen mitmacht."

Die verschiedenen Rebellenformationen in Syrien kündigten ebenfalls schwere Vergeltung für die russischen - und westlichen - Luftangriffe an. In einer Audiobotschaft, die am 12. Oktober veröffentlicht wurde, rief Abu Mohamed Al Jolandi, Anführer der al-kaida-nahen Al-Nusra-Front, deren Sympathisanten im Kaukasus zu Anschlägen und Überfällen auf das russische Militär auf. Die verschiedenen Rebellengruppen in Syrien sollten sich vereinigen, um die "westlichen Kreuzzügler" zurückzuschlagen. "Der Krieg in Syrien wird den Russen das Grauen, das sie in Afghanistan erlebt haben, vergessen lassen; mit Gottes Hilfe werden sie an der syrischen Türschwelle zerschmettert werden", so Jolani, der zudem auch verstärkte Gewaltakte gegen Syriens Alewiten forderte.

Am 13. Oktober meldeten sich per Audiobotschaft sowohl die "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) als auch die angeblich "gemäßigte" Freie Syrische Armee (FSA) mit eigenen Stellungnahmen zur Intervention Rußlands im Syrienkrieg. IS-Sprecher Abu Mohammad Al Adnani äußerte sich wie folgt: "Islamische Jugendliche überall, tretet einen Dschihad gegen die Russen und Amerikaner bei ihrem Kreuzzug gegen die Muslime los". FSA-Kommandeur Raschid Al Hourani kündigte seinerseits "Märtyrer-Operationen" - mit anderen Worten Selbstmordanschläge - gegen russische Ziele an.

Wie der Zufall so will, schlugen ebenfalls am 13. Oktober auf das Gelände der russischen Botschaft in Damaskus, gerade als vor deren Toren eine pro-russische Demonstration Tausender Assad-Anhänger stattfand, zwei Mörsergranaten ein, ohne dabei jemanden zu verletzen. Einen Tag zuvor meldete der russische Inlandsgeheimdienst FSB, eine zehnköpfige "Terrorzelle", von denen einige IS-Ausbildungslager in Syrien bzw. im Irak besucht haben sollen, in Moskau ausgehoben und damit eventuell den einen oder anderen Anschlag verhindert zu haben. Interessanterweise hatte sich Putin am 11. Oktober am Rande des Formel-1-Autorennens im russischen Sochi mit dem saudischen Verteidigungsminister und Stellvertretenden Kronprinzen Mohammed, dem Sohn von König Salman, und mit Kronprinz Mohammad bin Zayed Al Nahyan aus dem Vereinigten Arabischen Emiraten getroffen. Über den Inhalt der beiden Gesprächsrunden ist praktisch nichts bekannt geworden, außer daß Syrien ein wichtiges Thema war. Gehen von Sochi keine Impulse aus, mit denen sich die abzeichnende Eskalation im Syrienkrieg noch abwenden ließe, dürften die Folgen erschreckend sein.

15. Oktober 2015


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