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NAHOST/1448: Setzt sich Libyens neue Einheitsregierung durch? (SB)


Setzt sich Libyens neue Einheitsregierung durch?

Eine neue Ära in Tripolis oder nur die Ruhe vor dem Sturm?


Eine Woche nach ihrer Ankunft in Abusita, einem Marinestützpunkt am Rande von Tripolis, scheint die neue Einheitsregierung Libyens auf dem besten Weg zu sein, das politische Wirrwarr in dem nordafrikanischen Land zu beenden und geordnete gesellschaftliche Verhältnisse wiederherzustellen. In Tripolis hat der bisher dort und im Westen Libyens regierende, von der Moslembruderschaft dominierte Allgemeine Volkskongreß (General National Congress - GNC) durch die Anwesenheit des designierten Premierministers Fadschez Al Sarradsch und sechs seiner Kabinettsmitglieder deutlich an Einfluß verloren. Gleichzeitig signalisiert der im östlichen Tobruk tagende, 2014 aus regulären Wahlen hervorgegangene Abgeordnetenrat (House of Representatives - HoR) die Bereitschaft, die Einheitsregierung (Government of National Accord - GNA) anzuerkennen.

Unter Vermittlung der Vereinten Nationen hatte eine kleine Gruppe von Vertretern des GNC und des HoR im Dezember in Marokko der Bildung einer Einheitsregierung zugestimmt. Doch nachdem der UN-Sondervermittler, der deutsche Diplomat Martin Kobler, Anfang Januar in Tunis die GNA aus der Taufe hob, fand sich bei der Abstimmung sowohl des GNC in Tripolis als auch des HoR in Tobruk keine Mehrheit für die Anerkennung des Kabinetts von Al Sarradsch. Die Abgeordneten beider Gremien lehnten das 18köpfige Kabinett als zu groß ab. Zudem mißtrauten sie den Zusagen über ihre künftige politische Mitwirkung. Gemäß dem am 17. Dezember im marokkanischen Badeort Skhirat beschlossenen Friedensvertrag soll das HoR Unterhaus des neuen libyschen Parlaments werden und der GNC Mitglieder in das Oberhaus schicken dürfen.

Darüber hinaus sträubte sich das HoR gegen die geplante Machtfülle des neuen Verteidigungsministers. Seit zwei Jahren stehen dem HoR weite Teile der früheren libyschen Nationalarmee Muammar Gaddhafis zur Seite. Unter der Leitung des CIA-Verbindungsmanns General Khalifah Hifter bekämpft sie in Benghazi die Ansar Al Scharia und an anderen Orten die "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS). Weil das HoR als Bollwerk gegen die Moslembruderschaft gilt, bekommt Hifters Armee militärische Unterstützung von Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Wenig überraschend hat deshalb vor wenigen Tagen Ägyptens Präsident General Abdel Fattah Al Sisi den westlichen Großmächten dringend davon abgeraten, sich mit eigenen Soldaten an der Bekämpfung des IS in Libyen zu beteiligen. Statt dessen sollte die NATO mit den Streitkräften Hifters zusammenarbeiten, so der ägyptische Machthaber. Vor diesem Kurs scheuen die USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Italien zurück, angeblich weil sie befürchten, daß sich Hifter zu einem zweiten Gaddhafi entwickeln könnte.

Die Einsetzung der neuen Einheitsregierung in Tripolis verläuft allerdings so reibungslos, daß Beobachter davon ausgehen, daß der Friedensplan von Skhirat dahingehend uminterpretiert wird, daß Hifters Position als Oberkommandierender der Streitkräfte bis auf weiteres unangefochten bleibt, um den Weg für die Anerkennung des neuen Kabinetts durch das HoR freizumachen. Seit der Landung in Tripolis haben Vertreter der GNA die Kontrolle über die meisten Ministerien mit Einverständnis der dort Beschäftigten übernommen. Auch die Zentralbank, auf deren Konten im In- und Ausland geschätzte 85 Milliarden Dollar liegen, hat sich der neuen Regierung unterworfen. Somit hat Al Sarradsch für die nächsten Monate genügend Finanzmittel in der Hand, um das wirtschaftliche Leben in Libyen zum Beispiel durch die Wiederaufnahme der Auszahlung der Beamtengehälter spürbar anzukurbeln. In den letzten Tagen haben sich nicht nur zahlreiche Städte und Kommunen, sondern auch die Milizen, welche die wichtigsten Ölraffinerien und Verladeterminals an der Küste bewachen, zur neuen Einheitsregierung bekannt. Folglich kann demnächst der Ölexport, der wichtigste Devisenbringer Libyens, der in letzter Zeit aufgrund des Kompetenzgerangels und wegen der Überfälle des IS fast vollständig zum Erliegen gekommen war, wieder hochgefahren werden.

War der Flughafen von Tripolis wochenlang für Maschinen der Einheitsregierung in spe gesperrt gewesen, landete dort am 5. April der UN-Sondervermittler Kobler, ohne dabei auf irgendwelche Schwierigkeiten zu stoßen. Am Nachmittag machte Kobler einen Rundgang durch die Altstadt, sprach mit Passanten und Geschäftsinhabern und posierte lächelnd für Selfies, um die Rückkehr Libyens zur Normalität für alle Welt zu demonstrieren. Am selben Tag hat Khalifa Al Ghawi, der bisherige Premierminister in Tripolis, der ursprünglich Al Sarradsch hatte festnehmen wollen, die Auflösung der GNC-Regierung angekündigt. Die Kapitulation Al Ghawis läßt sich auf die frühzeitige Entscheidung der Stadt Misrata und deren Milizionäre, sich auf die Seite der GNA zu stellen, zurückführen. Damit war dem GNC die wichtigste militärische Stütze seiner Macht abhanden gekommen. Seit der Landung in Abusita wird Al Sarradsch von Kämpfern aus Misurata und Mitgliedern der libyschen Spezialstreitkräfte bewacht.

Derzeit genießt die neue Einheitsregierung eine Schonzeit. Von ihr versprechen sich viele Libyer, die seit fünf Jahren nur Gewalt, wirtschaftlichen Einbruch und staatlichen Niedergang erleben, eine Verbesserung ihrer Lebensumstände. Doch es steht ein hartes politisches Ringen um Macht, Einfluß und Ressourcen bevor. Es wäre unrealistisch davon auszugehen, daß alle relevanten Gruppen der libyschen Gesellschaft die Autorität der GNA widerspruchslos akzeptieren werden. Ob Libyen die Rückkehr zur Normalität gelingt oder der Bürgerkrieg sich erneut Bahn bricht, hängt davon ab, wie Al Sarradsch die verschiedenen Kräfte behandelt. Die Gefahr besteht, daß sich unzufriedene Milizionäre bzw. Milizen dem IS, dessen Zahl in Libyen nach Angaben von US-General und AFRICOM-Chef David Rodriguez in den letzten zwölf Monaten auf rund 6.000 Kämpfer angewachsen ist, anschließen werden. Sollte die NATO der Versuchung nicht widerstehen und darauf mit einer eigenen Militärintervention reagieren, wäre das endgültige Chaos vorprogrammiert.

8. April 2016


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