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NAHOST/1462: Libyen - Rückeroberung Sirtes gestaltet sich schwierig (SB)


Libyen - Rückeroberung Sirtes gestaltet sich schwierig

Der Islamische Staat verteidigt erbittert sein Kalifat in Libyen


Angesichts der rund 10.000 Flüchtlinge, die jeden Monat mit kleinen, nicht hochseetauglichen Booten von Libyen nach Italien zu gelangen versuchen und von denen eine nicht geringe Anzahl ertrinkt, sehen sich EU und NATO zum Handeln gezwungen. Europäische Kriegschiffe im Mittelmeer leisten in Seenot geratenen Flüchtlingen Hilfe, während man in Berlin, London, Paris, Rom und Washington an Plänen für ein militärisches Eingreifen in Libyen arbeitet, um dort den "Menschenschleppern" das Handwerk zu legen und für stabile Verhältnisse zu sorgen. Doch die schon länger in Aussicht gestellte Entsendung einer 6000 Mann starken Interventionstruppe der NATO nach Libyen läßt auf sich warten. Das hat seinen guten Grund. Dem Westen fehlt es auf libyscher Seite offenbar an geeigneten Partnern, wie der klägliche Versuch der neuen Regierung der Nationalen Einheit (Government of National Accord - GNA), die Stadt Sirte, seit Februar 2015 Hochburg der "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS), zurückzuerobern, zeigt.

Ende März war die GNA, die zuvor in Tunesien unter Vermittlung des deutschen UN-Sondergesandten Martin Kobler aus der Taufe gehoben worden war, per Schiff in Libyen gelandet. Von einem Marinestützpunkt in der Nähe von Tripolis aus hat die neue Regierung unter der Leitung des Geschäftsmanns Fayiz Al Sarradsch mit Waffengewalt und Bestechung die Kontrolle in der libyschen Hauptstadt übernommen. Der in Tripolis seit dem Sturz Muammar Gaddhafis 2011 regierende, von Islamisten dominierte Allgemeine Volkskongreß (General National Congress - GNC) hat das Feld zunächst den Männern des von der "internationalen Gemeinschaft" unterstützten Al Sarradsch überlassen. Das 2014 vom Volk gewählte, im östlichen Tobruk sitzende Repräsentantenhaus (House of Representatives - HoR), dem die libysche Nationalarmee unter der Leitung des CIA-Vertrauensmanns, Ex-General Khalifah Hifter, untersteht, wartet die Entwicklung in der westlichen Hälfte des Landes ab. Premierminister Al Farradsch hat als Verbündeten die schlagkräftige Miliz der Stadt Misurata, die etwas mehr als 200 Kilometer östlich von Tripolis an der Küste liegt, gewonnen.

Anfang Juni ging von Misurata eine Offensive zur Rückeroberung der noch 275 Kilometer weiter östlich liegenden IS-Hochburg Sirte aus. An der Operation nehmen Milizionäre aus Misurata und militärisch ausgebildete Mitglieder der Petroleum Facilities Guard (PFG), welche die Ölfelder, Pipelines und Raffinerien Libyens bewacht, teil. Wie die New York Times am 10. Juni berichtete, sind rund zwei Dutzend Experten amerikanischer und britischer Spezialstreitkräfte als Berater beteiligt. US-Spezialstreitkräfte sollen seit vergangenem Jahr sowohl bei Misurata als auch bei Benghazi eigene Basislager unterhalten. Im Libyen sind ohnehin seit Monaten Elitesoldaten nicht nur aus den USA und Großbritannien, sondern auch aus Frankreich, Italien, Ägypten, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Jordanien zur Aufklärung und als Verbindungsoffiziere unterwegs.

Nach der Einnahme mehrerer umliegender Dörfer stand die Anti-IS-Streitmacht vor den Toren Sirtes. Am 10. Juni hieß es seitens der Einheitsregierung in Tripolis, der Countdown habe begonnen, die Vertreibung der Dschihadisten aus ihrem "Kalifat" werde "zwei bis drei Tage dauern". Inzwischen hat sich diese Einschätzung als vollkommen unrealistisch erwiesen. Ungeachtet der Unterstützung durch die US-Luftwaffe und vor der Küste befindliche Kriegschiffe der NATO ist der Vorstoß der GNA-Truppe nach Sirte schnell ins Stocken geraten. Im Zentrum der Stadt haben sich rund 1800 IS-Kämpfer, die zu 70 Prozent ausländische Freiwillige sind, verschanzt und leisten erbitterten Widerstand. Unter anderem mittels mit Sprengstoff gefüllten Autos, die von Selbstmordattentätern gefahren werden, haben sie den Milizionären aus Misurata und deren Alliierten schwere Verluste zugefügt. Medienberichten zufolge sind die Krankenhäuser in Misurata inzwischen überfüllt, während man mit NATO-Transportflugzeugen verletzte Milizionäre zur chirurgischen Behandlung nach Italien und in die Türkei geflogen hat. Aktuell werden die Verluste auf seiten der regierungstreuen Truppen mit mehr als 164 Toten und mehr als 500 Verletzten angegeben. Über die Anzahl der getöteten IS-Kämpfer oder Zivilisten ist nichts bekannt.

Ein blutiger Selbstmordanschlag am 16. Juni an einem Kontrollposten in der Kleinstadt Abugrein, die 130 Kilometer östlich von Sirte und seit Mitte Mai hinter der eigentlichen Front liegt, läßt erkennen, daß der IS, der insgesamt über rund 5000 Kämpfer in ganz Libyen verfügen soll, nicht leicht und nicht schnell zu besiegen sein wird. Schließlich schlägt sich die Armee von Ex-General Hifter trotz der militärischen Unterstützung Ägyptens und der Vereinigten Arabischen Emirate seit zwei Jahren in Benghazi mit der Ansar Al Scharia herum, ohne sie endgültig bezwingen zu können. Von einem gesellschaftlichen Frieden, der diesen Namen verdient, ist Libyen noch sehr weit entfernt, wie die Ermordung von zwölf ehemaligen Angehörigen des Gaddhafi-Regimes, die vor kurzem wegen guter Führung aus dem Gefängnis entlassen worden waren, zeigt. Am Vormittag des 12. Juni hat man die Leichen der Männer an verschiedenen Orten in der Hauptstadt gefunden. Alle Opfer waren durch Kopfschüsse hingerichtet worden.

18. Juni 2016


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