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NAHOST/1561: Hamas und Fatah legen ihren Streit in Palästina bei (SB)


Hamas und Fatah legen ihren Streit in Palästina bei

Abbas, Sinwar und Dahlan wollen gemeinsam Israel entgegentreten


Nach wochenlangen Verhandlungen und monatelanger Geheimdiplomatie haben am 12. Oktober in Kairo die rivalisierenden palästinensischen Gruppen Hamas und Fatah sich versöhnt und dies durch einen schriftlichen Vertrag besiegelt. Das Abkommen sieht die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit für Palästina als Ganzes - also Gazastreifen und Westjordanland - sowie den Beitritt der Hamas zur palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) vor. In einer ersten Reaktion hat der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu gegen die Versöhnung der Fatah um Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas mit den "Massenmördern" von der Hamas gewettert und eine Zusammenarbeit mit der geplanten Einheitsregierung in Ramallah ausgeschlossen. Die lautstarken Proteste lenken jedoch von der Tatsache ab, daß die Beilegung des innerpalästinensischen Konflikts im Interesse der USA und Israels liegt. Mit Blick auf die zunehmende Konfrontation mit dem Iran, die bald in einen großen Krieg ausarten könnte, hatten US-Präsident Donald Trump und Netanjahu der ägyptischen Militärdiktatur um General Abdel Fattah Al Sisi grünes Licht für ihre Vermittlungsbemühungen bei den Palästinensern gegeben.

Anfang des Jahres hat Kairo den einstigen Fatah-Geheimdienstchef Mohammed Dahlan, der selbst aus dem Gazastreifen kommt, jedoch nach einem gescheiterten Putschversuch 2007 gegen die Hamas von dort fliehen mußte und seitdem in den Vereinigten Arabischen Emiraten lebt, als Sonderbotschafter eingeschaltet. In Gesprächen mit der Hamas konnte Dahlan, dem eigene Ambitionen auf die palästinensische Präsidentschaft nachgesagt werden, weshalb Abbas ihm mißtraut, erreichen, daß die Teilnehmer des damaligen Bruderzwists das Kriegsbeil begruben. Ermöglicht wurde dies durch großzügige Zuwendungen aus Abu Dhabi. Jede Familie im Gazastreifen, egal ob auf Hamas- oder Fatah-Seite, die bei der blutigen Auseinandersetzung vor zehn Jahren einen Vater, Sohn oder Bruder verloren hat und bereit ist, auf den Anspruch auf Rache und Vergeltung zu verzichten, bekommt 50.000 Dollar Entschädigung von der VAE wegen ihres Verlustes.

Ausgehandelt hat dies Dahlan mit seinem früheren Schulkameraden Jahja Sinwar, der im Februar zum neuen Hamas-Chef gewählt worden war. Der Gründer des Sicherheitsdienstes der Hamas war 1988 wegen der Entführung und Tötung zweier israelischer Soldaten zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden. 2011 kam er im Austausch gegen den entführten israelischen Militärangehörigen Gilad Schalit frei. Auch wenn Sinwar seit 2015 namentlich auf der offiziellen Terroristenliste Washingtons steht, scheinen die Ägypter mit ihm als wichtigsten politischen Akteur im Gazastreifen höchst zufrieden zu sein. Seit Sinwar statt Ismail Haniyyah in Gaza Stadt das Sagen hat, läuft die Zusammenarbeit der Hamas in Sicherheitsfragen mit den ägyptischen Behörden aus der Sicht Kairos optimal. Die Hamas beliefert Militär und Geheimdienst Ägyptens mit Informationen, die zur Niederschlagung des Aufstand beitragen, den die sunnitische Fundamentalistentruppe Islamischer Staat (IS) vor allem auf der Halbinsel Sinai, aber nicht nur dort, probt. Darüber hinaus soll sich Sinwar gegenüber den ägyptischen Gesprächspartnern von den überregionalen Zielen der Moslembruderschaft losgesagt und ein ausschließliches Interesse an der nationalen Sache der Palästinenser bekundet haben.

Nach der Einigung von Kairo soll spätestens bis zum 1. Dezember die Palästinensische Autonomiebehörde (PA), die seit dem Sieg der Hamas bei den Parlamentswahlen 2006 in Absprache mit Tel Aviv das Westjordanland verwaltet, auch die Zuständigkeit für den Gazastreifen erhalten und bis zum 1. November die Kontrollen an den Grenzübergängen nach Israel und Ägypten übernehmen. Die monatelange Sperrung der Gelder für Beamtengehälter im Gazastreifen und für Stromlieferungen dort, mit der Abbas die Hamas erfolgreich erpreßt hat, soll in den nächsten Tagen aufgehoben werden. Am 21. November wollen sich Hamas- und Fatah-Vertreter in Kairo zu Gesprächen über die Bildung einer Einheitsregierung treffen. Ebenfalls vor Ende des Jahres soll Abbas, dessen Amtszeit als Präsident eigentlich 2009 ablief, zum erstenmal seit über zehn Jahren dem Gazastreifen einen Besuch abstatten. 2018 sollen im Gazastreifen und Westjordanland Parlamentswahlen stattfinden, in deren Vorfeld sich Hamas und Fatah im gesamten palästinensischen Gebiet wieder ungehindert politisch betätigen können.

Unbeantwortet bleiben bisher zwei Fragen: erstens, ob die Hamas das Existenzrecht Israels und die Gültigkeit seiner bisherigen Abkommen mit PLO und PA anerkennen wird, zweitens, was aus dem militärischen Arm der islamischen Bewegung wird. Sollte die Hamas an ihren Statuten, die eine Beseitigung des "zionistischen Regimes" zum obersten Ziel erklären, nichts ändern, werden Hamas-Vertreter in der neuen Einheitsregierung ihre Mitgliedschaft bei der Organisation ruhen lassen, um Verhandlungen mit den Israelis zu ermöglichen. Die militärische Problematik könnte sich als schwieriger erweisen. Im Gazastreifen hat die Hamas rund 25.000 Mann unter Waffen, die nach drei Kriegen gegen Israel seit 2007 kampferprobt sind. Die Kassam-Brigaden verfügen über ein umfangreiches Waffenarsenal, in dem sich unzählige Raketen und einige unbemannte Flugzeuge befinden. Hinzu kommt ein Netzwerk an unterirdischen Tunneln, die Überraschungsangriffe hinter feindlicher Linie, das heißt in Israel selbst, ermöglichen.

Israel verlangt eine Entwaffnung der Kassam-Brigaden und macht dies zur Bedingung für künftige Verhandlungen mit der PA. Pro-israelische Beobachter in der westlichen Presse malen die Gefahr, daß sich die Hamas mittels der Kassam-Brigade zu einem Staat im Staate ähnlich der schiitischen Hisb-Allah-Miliz im Libanon entwickeln könnte, an die Wand. Die von der Kassam-Brigaden ausgehende Bedrohung sollte jedoch nicht überbewertet werden. In den letzten Jahren hat die Hamas Israel immer wieder einen Waffenstillstand angeboten, doch war es stets die Netanjahu-Regierung, die den Vorschlag abgelehnt hat.

Spielt er seine Karten richtig aus - und bisher hat er das stets gemacht -, könnte Netanjahu als größter Nutznießer aus der palästinensischen Versöhnung hervorgehen. Mit dem "Terror"-Vorwurf an die Adresse der künftigen Regierung in Ramallah kann er weiterhin den Nahost-Friedensprozeß verschleppen, während er durch die militärische Neutralisierung der Hamas um so freier gegenüber dem Iran mit dem Säbel rasseln kann. Ob Netanjahu jemals ernsthaft einen Krieg mit Teheran erwägt hat, ist unklar. Fest steht jedoch, daß die Dauerhysterie über die angeblich von Teheran ausgehende "existentielle Bedrohung" Israels von dem unablässigen Ausbau jüdischer Siedlung im Westjordanland und Ostjerusalem sowie von der fortgesetzten Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung ablenkt. Eine Änderung dieses Kurses ist nicht abzusehen.

18. Oktober 2017


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