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NAHOST/1570: US-Militär beschwört IS 2.0, um in Syrien zu bleiben (SB)


US-Militär beschwört IS 2.0, um in Syrien zu bleiben

Der globale Antiterrorkrieg des Pentagons findet niemals ein Ende


Am 22. November findet in Astana die nächste Runde der Friedensverhandlungen für Syrien statt. Die Gespräche sind Teil einer umfassenderen Initiative Rußlands, des Irans und der Türkei, den Syrienkrieg zu beenden - ohne Hilfe bzw. Einmischung der USA, Frankreichs, Großbritanniens, Israels, Jordaniens und der sunnitischen Petromonarchien am Persischen Golf, die allesamt seit 2011 die syrischen Rebellen beim Versuch, mit Waffengewalt das "Regime" Baschar Al Assad zu stürzen, aktiv unterstützt haben. Dieser Versuch ist wegen der massiven Militärintervention Rußlands, der iranischen Revolutionsgarden und der libanesisch-schiitischen Hisb-Allah-Miliz in den beiden letzten Jahren zugunsten der Syrischen Arabischen Armee (SAA) gescheitert.

Am 17. November hat der irakische Innenminister Kasim al Aradschi die Rückeroberung der Stadt Rawa in der westlichen Provinz Anbar und damit die Vertreibung der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) aus ihrer letzten Hochburg im Zweistromland gemeldet. Damit sei "die militärische Präsenz des IS im Irak beendet", so Al Aradschi. Zwei Tage später gab die SAA auf der anderen Seite der Grenze im syrischen Osten die Einnahme der Stadt Albu Kamal, der letzten Trutzburg des IS, bekannt. Angesichts dieser Entwicklung läßt sich feststellen, daß das grenzübergreifende Kalifat, das IS-Chef Abu Bakr Al Baghdadi im Juni 2014 nach der Einnahme von Mossul, der zweitgrößten Stadt des Iraks, verkündet hatte, nicht mehr existiert.

Was die weitere Entwicklung betrifft, gibt es die unterschiedlichsten Vorstellungen. In Bagdad will Iraks Premierminister Haider Al Abadi, der nach der erfolgreichen Offensive gegen den IS sowie der gelungenen Vereitelung kurdischer Unabhängigkeitsbestrebungen als großer Sieger dasteht, Zugeständnisse an die sunnitische Bevölkerung machen, um sie an den irakischen Zentralstaat zu binden und den ideologischen Nährboden der Dschihadisten trockenzulegen. Auch zu diesem Zweck beabsichtigt er, die US-Streitkräfte, die seit 2014 im Rahmen der internationalen Anti-IS-Allianz in den Irak geströmt sind, nach Hause zu schicken. Man kann davon ausgehen, daß die USA versuchen werden, die Absichten Al Abadis zu durchkreuzen. In Washington ärgern sich Demokraten und Republikaner gleichermaßen über den gestiegenen Einfluß, den der Iran in der irakischen Politik seit dem Sturz Saddam Husseins 2003 ausübt. Die John McCains und Lyndsey Grahams dieser Welt verbreiten schon länger die These, nur wegen des Fehlens einer maßgeblichen US-Militärpräsenz im Irak habe sich vor drei Jahren der IS so rasch ausbreiten können, weshalb Bagdad dem Pentagon den weiteren Betrieb mehrerer Stützpunkte zugestehen müsse.

Im Falle Syriens sind die Amerikaner ebenfalls erfinderisch, wenn es darum geht, ihre militärischen Interessen zu begründen, wenngleich jeder selbst entscheiden darf, ob ihm die Argumentation plausibel erscheint oder nicht. Auf einer Pressekonferenz am 13. November im Pentagon wurde der amtierende US-Verteidigungsminister James Mattis, der bekanntlich während der Besatzung des Iraks wegen des rücksichtslosen Vorgehens seiner Truppen gegen Aufständische den Spitznamen "Mad Dog" erhielt, gefragt, ob nach dem Verlust allen Territoriums seitens des IS die Zeit für das amerikanische Militär gekommen sei, seine "Mission" für beendet zu erklären. Ganz der moderne Technokrat, beschwor Mattis die Horrorvision eines "IS 2.0", der weiterhin die volle Aufmerksamkeit der Antiterrorkrieger verdiene. Die in Syrien befindlichen US-Streitkräfte - Mattis nannte keine Zahl - würden deshalb bis auf weiteres dort bleiben. Man wolle nicht unverrichteter Dinge abziehen, so der Pentagonchef. Wörtlich sagte er: "Der Feind hat nicht erklärt, daß er in der Region fertig ist, also werden wir solange weiterkämpfen, wie sie kämpfen wollen. Wir werden nicht einfach gehen, bevor der Genfer Prozeß wieder in Gang gekommen ist." Gemeint sind die Friedensverhandlungen für Syrien unter UN-Schirmherrschaft, die im Februar 2016 nach zwei Tagen ergebnislos abgebrochen wurden und inzwischen von der Astana-Runde überholt worden sind.

Nach Angaben des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan verfügen die USA im Norden Syriens in Absprache mit den kurdisch-dominierten Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) über insgesamt dreizehn Militärstützpunkte. Die Absicht der USA, ihre Militärpräsenz in Syrien bis auf weiteres aufrechtzuerhalten, lehnt die Zentralregierung in Damaskus kategorisch ab. Ohne deren Zustimmung halten sich amerikanische Soldaten in Syrien illegal auf, verstoßen deren Basen gegen das Völkerrecht. Dagegen haben die Syrer Rußland den Betrieb einer Marinebasis bei Tartus am Mittelmeer und von vier Luftwaffenstützpunkten offiziell zugestanden.

Im Rahmen der verstärkten Zusammenarbeit zwischen Damaskus und Teheran sowie als Dank für die Hilfe in der Stunde der Not wollen die Syrer den Iranern die Einrichtung mindestens eines Militärstützpunkts gestatten. Gegen das Vorhaben läuft Benjamin Netanjahu, der seit Jahren das "Mullah-Regime" in Teheran zu einer "existenziellen Bedrohung" Israels aufbauscht, Sturm. Schützenhilfe erhält der israelische Premierminister dieser Tage von seinen Freunden im US-Kongreß. Dort hat am 14. November eine Gruppe von Abgeordneten und Senatoren aus beiden Parteien einen öffentlichen Brief an Außenminister Rex Tillerson verfaßt, in dem es hieß, das State Department möge "eine Strategie für Syrien entwickeln", damit "die Vereinigten Staaten den Iran daran hindern, an der Türschwelle zu Israel und Jordanien Fuß zu fassen, und iranische Waffenlieferungen an die Hisb Allah blockieren."

Das Pentagon arbeitet längst an der geforderten Strategie. Zu ihr gehört der niemals endende Einsatz gegen jedwede "Terroristen", die nicht zufälligerweise immer dort wieder auftauchen, wo sich die USA militärisch-diplomatisch einzumischen gedenken. Jüngster Beleg für diese perfide Vorgehensweise ist der Enthüllungsbericht der BBC vom 13. November, wonach die SDF und ihre US-Militärberater noch im Oktober bei der Einnahme von Rakka, einst Hauptstadt des IS in Syrien, rund 4000 schwerbewaffnete Kalifatskämpfer samt Familienangehörigen einfach abziehen ließen.

In der rund achtminütigen Dokumentation, die man unter dem Namen "Fall of Raqqa: The Secret Deal" bei YouTube finden und anschauen kann, heißt es, der Konvoi, der aus 47 Lastwagen, 13 Bussen und privaten Geländewagen einzelner IS-Kommandeure bestand, sei sechs bis sieben Kilometer lang und drei Tage in westlicher Richtung unterwegs gewesen, bis die Dschihadisten von der Landstraße abbogen und in den Weiten der syrischen Wüste verschwanden. Währenddessen wurde der Konvoi von Kampfjets der Anti-IS-Koalitionäre nicht im geringsten gestört. Einzelne Kämpfer - die meisten von ihnen sollen keine Syrer, sondern Ausländer, darunter Franzosen, Saudis, Chinesen, Ägypter und Aserbaidschaner, gewesen sein - sind angeblich bereits in Istanbul aufgetaucht, von wo aus sie Anschläge in Europa auszuführen beabsichtigen. Die restlichen dürften sich auf dem Weg in das Gouvernement Idlib, nördlich von Aleppo, gemacht haben, das sich in den letzten Monaten zum Rückzugsgebiet der salafistischen Gotteskrieger in Syrien entwickelt hat.

21. November 2017


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