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NAHOST/1596: Gaza - Abbrüche, Brüche und Ausbrüche ... (SB)


Gaza - Abbrüche, Brüche und Ausbrüche ...


Was ein strahlender Benjamin Netanjahu auf der Einweihungsfeier der neuen US-Botschaft in Jerusalem als "glorreichen Tag" proklamierte, wird für Israel als Tag der Schande in die Geschichtsbücher eingehen. Am 70. Jahrestag der Gründung des Staates Israel haben dessen Soldaten an der Grenze zum Gazastreifen 60 palästinensische Demonstranten erschossen und weitere 2400 verletzt. Der israelische Premierminister sieht sich auf dem absoluten Höhepunkt einer langen politischen Karriere. Doch möglicherweise werden sich Netanjahus jüngste Erfolge - die umstrittenen Entscheidungen der Regierung Donald Trump, erstens die US-Botschaft von Tel Aviv in das besetzte Ostjerusalem zu verlegen, und zweitens das von Barack Obama mit dem Iran geschlossene Atomabkommen aufzukündigen - als Pyrrhussieg erweisen. Mit seiner konsequenten Torpedierung aller Bemühungen um einen gerechten Frieden mit den Palästinensern hat Netanjahu Israel in eine Sackgasse manövriert, deren einziger Ausweg ein verheerender Krieg mit dem Iran und der schiitischen Hisb-Allah-Miliz im Libanon zu sein scheint.

Trumps überraschender und einseitiger Beschluß vom vergangenen Dezember, geltende UN-Resolutionen zu ignorieren und das US-Konsulat in Jerusalem zur neuen Botschaft Washingtons zu machen, hat nicht nur in der arabischen Welt Entsetzen und Ängste vor einer Gewalteskalation ausgelöst. Präsident Mahmud Abbas, dessen Fatah-Bewegung die Palästinenser im Westjordanland mehr schlecht als recht verwaltet, erklärte den Nahost-Friedensprozeß endgültig für tot und sprach den USA das Recht ab, als neutraler Vermittler bei Verhandlungen mit den Israelis aufzutreten. Im Grunde war der Friedensprozeß jedoch bereits 2014 an der Weigerung der Netanjahu-Regierung, vom fortgesetzten Ausbau der jüdischen Siedlungen im Westjordanland abzusehen, gescheitert.

Als Reaktion auf die geplante Botschaftsverlegung sowie aus Unzufriedenheit mit der Unfähigkeit von Hamas und Fatah, eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden, welche die Interessen der Palästinenser effektiv vertritt und den Menschen im dem von Israel und Ägypten von der Außenwelt abgeriegelten Gazastreifen Linderung verschafft, haben palästinensische Aktivisten eine Protestaktion organisiert, die den Namen "Großer Rückkehrmarsch" tragen sollte. Damit sollte für alle Welt sichtbar die Forderung der Palästinenser auf die Anerkennung ihres Rechts auf Rückkehr in ihre frühere Heimat im heutigen Israel hervorgehoben werden.

Angefangen haben die Demonstrationen vor dem Grenzzaun zwischen Gaza und Israel am 31. März. Gleich am ersten Tag haben Israels Scharfschützen 15 Palästinenser niedergestreckt und Hunderte weitere verletzt. Seitdem reißt die Blutorgie nicht ab. Auf Steinhagel und vereinzelte Brandbombenwürfe reagieren die israelischen Streitkräfte mit Schüssen, welche die getroffene Person, wenn sie sie nicht gleich töten, so doch schwer verstümmeln. Dies geht auf die verwendete Munition zurück. Die Israelis schießen auf meist unbewaffnete Demonstranten mit Dummdumm-Geschossen. Statt glatte Durchschüsse zu hinterlassen, verursachen die Kugeln schwere Fleisch- und Knochenschäden. Deshalb muß einem hohen Prozentsatz der Verwundeten das eine oder andere Bein amputiert werden; sie sind für ihr restliches Leben verkrüppelt. Waren bis zum 14. Mai insgesamt 49 Menschen durch israelische Schüsse ums Leben gekommen, so hat sich an diesem Tag die Zahl mehr als verdoppelt. Es waren die höchsten Opferzahlen unter den Palästinensern seit der letzten Gazaaggression Israels im August 2014.

Während Netanjahu und die Trump-Regierung Hamas für die "Zusammenstöße" verantwortlich zu machen versuchen, reagieren Menschen auf der ganzen Welt mit Abscheu und Empörung. Viele Länder haben den israelischen Botschafter einbestellt, Südafrika hat ihn sogar ausgewiesen. Die Argumente Netanjahus und seines Verteidigungsministers Avigdor Lieberman, Israels Soldaten verrichteten "heilige Arbeit", alle im Gazastreifen seien wegen der Hamas-Regierung "Terroristen", lassen Überzeugungskraft vermissen - um es milde auszudrücken. Vor allem in den USA läßt der Rückhalt für Israel unter den Juden, die überwiegend säkular-liberal eingestellt sind, stark nach. Dafür war die Entscheidung der Hollywood-Schauspielerin Natalie Portman, aus Protest gegen die Vorgänge am Gazazaun im April nicht in Israel zu ihrer Auszeichnung als diesjährige Trägerin des philantrophischen Genesis-Preises zu erscheinen, wobei Netanjahu die Laudatio halten sollte, das bislang spektakulärste Indiz.

An der feierlichen Eröffnung der neuen US-Botschaft in Jerusalem nahmen unter anderem Trumps Tochter Ivanka und ihr Ehemann Jared Kushner, Trumps Nahost-Sonderbeauftragter, der auch ein langjähriger Freund des Familie Netanjahus ist, teil. Unter den weiteren Gästen befand sich der schwerreiche Kasinokönig Sheldon Adelson, der als finanzieller Großspender Trumps und Netanjahus bekannt ist. Anwesend waren auch der US-Botschafter David Friedman und Jason Greenblatt, Trumps Nahost-Beauftragter, die genauso wie Kushner seit Jahren in den USA Spenden für den Ausbau der illegalen jüdischen Siedlungen im Westjordanland eintreiben. Nicht umsonst bezeichnete die linksliberale israelische Tageszeitung Ha'aretz die prunkvolle Zeremonie als eine "Zurschaustellung einer messianischen US-israelischen Achse".

Wie nachhaltig Trump und Netanjahu das Ansehen Israels in den USA beschädigt haben, zeigt die extrem negative Berichterstattung der zwei wichtigsten Zeitungen in New York mit seiner bekanntlich großen jüdischen Gemeinde. In der Ausgabe vom 15. Mai wartete die New York Daily News auf der Titelseite mit einem großen Foto auf, das zeigte, wie Ivanka Trump die Gedenktafel am Eingang der neuen US-Botschaft in der Heiligen Stadt enthüllt; dazu anspielend auf die tödlichen Vorgänge am Grenzzaun zu Gaza die Überschrift "Daddy's Little Ghoul" ("Papas kleiner Ghul"). Am selben Tag stilisierte die NYT-Kolumnistin Michelle Goldberg Ivanka Trump zu einer "zionistischen Marie Antoinette" hoch. Das sind Spitzen, wie sie in den US-Mainstream-Medien noch vor wenigen Wochen undenkbar gewesen wären.

Ungeachtet Netanjahus Dauerdämonisierung der Hamas versucht diese vergeblich, einen Modus vivendi mit dem Staat Israel zu erreichen. Am 28. März, noch vor dem Ausbruch der jüngsten Proteste an der Nordgrenze des Gazastreifens, hatte Ha'aretz ein ausführliches Interview mit Dr. Ahmed Yousef, einem ranghohen Mitglied der Hamas-Bewegung, veröffentlicht. Auf die abschließende Frage, welche Botschaft er am liebsten an die Israelis richten möchte, antwortete der Vertraute und ehemalige Berater von Premierminister Ismail Haniyeh wie folgt:

Ich würde ihnen sagen, schauen Sie, Sie haben als Juden auf der ganzen Welt viel gelitten. Sei es in Spanien oder Europa, Sie haben Leid und Agonie erfahren. Sie wurden während des [Zweiten Welt-] Kriegs in Europa sowie während der Inquisition in Spanien schlecht behandelt. Wiederholen Sie nicht das, was Ihnen angetan wurde. Sie bringen Leid über die Palästinenser, indem Sie sie an die Wand drücken. Dieses Land Palästina ist heiliger Boden für alle Menschen der abrahamitischen Religionen, die hier über Jahrhunderte zusammengelebt haben. Ich denke, daß wir alle - Muslime, Christen und Juden - hier in diesem gesegneten Land leben, das Allah für die einfachen Menschen in Palästina gewählt hat; Muslime, Juden und Christen gleichermaßen. Das ist meine Botschaft an die jüdische Gemeinde in Israel bzw. an das jüdische Volk in Israel.

Für derlei entgegenkommende Botschaften zeigt sich Benjamin Netanjahu, der in den neunziger Jahren durch seine konsequente Ablehnung des Oslo-Abkommens mit den Palästinensern - "Land gegen Frieden" - den Aufstieg zum Premierminister geschafft hat, absolut taub. Die fehlende Aussöhnung mit den Palästinensern und den Nachbarstaaten setzt Israel jedoch einer permanenten Kriegsgefahr aus, die über kurz oder lang das Ende für das zionistische Projekt bedeuten muß. Schätzungen namhafter Militärexperten zufolge verfügt die Hisb-Allah-Miliz inzwischen über mehr als 100.000 ballistische Raketen. Bei einer Wiederholung des Libanonkriegs von 2006 werden die Schäden und die Verluste für Israel extrem hoch sein.

15. Mai 2018


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