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NAHOST/1659: Libyen - Fehleinschätzungen und Verkennungen ... (SB)


Libyen - Fehleinschätzungen und Verkennungen ...


In Libyen ist der lange schwelende Machtkampf zwischen der international anerkannten Regierung der Nationalen Einheit (Government of National Accord - GNA) um Premierminister Fayiz Al Sarradsch in der Hauptstadt Tripolis und Feldmarschall Khalifa Hifter, der im Auftrag einer Gegenregierung namens House of Representatives (HoR) mit Sitz im östlichen Tobruk die sogenannte Libysche Nationalarmee (LNA) befehligt, in blutige Kämpfe ausgeartet. Es droht in Libyen, wo bereits jetzt schätzungsweise rund 800.000 Migranten aus ganz Afrika, die nach Europa wollen, unter erbärmlichen Bedingungen in Lagern gehalten werden, eine humanitäre Krise vergleichbar derjenigen in Syrien während der vergangenen acht Jahre.

Für die Zuspitzung der Lage ist Hifter hauptverantwortlich. Im Februar und März hat die LNA im Rahmen einer beeindruckenden Großoffensive den Süden und Südwesten Libyens erobert, die meisten Tuareg- und Tabu-Milizen dort zum Teil bezwungen und zum Teil mittels Bestechung auf ihre Seite gezogen. Dabei hat die LNA auch El Scharara, das größte und einträglichste Ölfeld Libyens, unter ihre Kontrolle gebracht. Am 4. April erteilte Hifter seinen Truppen den Befehl zur Einnahme von Tripolis, dem sie sich von Süden und Osten her nähern. Seitdem wird um die libysche Hauptstadt sowie die anderen Städte an der Nordwestküste erbittert gekämpft. Nach jüngsten Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind bei den Kämpfen um Tripolis und Umgebung bislang mindestens 147 Menschen gewaltsam ums Leben gekommen und weitere 614 Personen schwer verletzt worden. Tausende von Menschen sind vor Artilleriefeuer und Luftangriffen auf der Flucht.

Im Interview mit der BBC hat der UN-Sondergesandte Ghassan Salamé am 15. April Hifter offen bezichtigt, unter dem Vorwand einer Antiterroroperation einen klassischen Militärputsch durchzuführen. Die Enttäuschung des ehemaligen Kulturministers des Libanons über die jüngste Entwicklung dürfte groß sein, hatte doch Salamé zuletzt an einer Konferenz gearbeitet, die am 14. April in der Stadt Ghadames beginnen sollte und auf der die wichtigsten politischen Akteure ihre Differenzen beilegen und den Weg für Parlaments- und Präsidentenwahlen bis Ende des Jahres freimachen sollten. Aus dem anvisierten demokratischen Aufbruch in Libyen wird nun nichts.

An der südlichen Mittelmeerküste zeigt sich erneut, daß die Vereinten Nationen nichts ausrichten und auch keine Konflikte beilegen können, solange involvierte Groß- und Regionalmächte nicht mitspielen. Unterstützt wird Hifters Griff nach der Macht vor allem von Saudi-Arabien, Ägypten, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Frankreich. Am 12. April meldete das Wall Street Journal unter Verweis auf Regierungsquellen in Riad, Hifter habe Ende März bei einem Besuch in Riad vom saudischen König Salman und Thronfolger Mohammed "Millionen von Dollar" erhalten, um die Einnahme von Tripolis zu finanzieren, die eigenen Soldaten zu bezahlen sowie die mit der LNA verbündeten Milizen bei Laune zu halten.

Bei einer Stippvisite in Kairo am 14. April hat Hifter die volle Rückendeckung von seinem großen Vorbild, dem ägyptischen Diktator General a. D. Abdel Fatah Al Sisi, erfahren. Nach dem Treffen der beiden "starken Männer" hieß es offiziell: "Der Präsident hat die Unterstützung Ägyptens bei der Bekämpfung des Terrorismus und der extremistischen Milizen zugesichert, um für alle libyschen Bürger Sicherheit und Stabilität im eigenen Land zu erzielen." Ähnlich Saudi-Arabien und den VAE sieht Ägypten in Hifter und der LNA die einzige Kraft in Libyen, die das Land einigen und dem politischen Einfluß der von Katar und der Türkei geförderten Moslembruderschaft Einhalt gebieten kann. Während Riad Hifter finanziell hilft, ist die Unterstützung Kairos und Abu Dhabis hauptsächlich militärischer Natur.

Doch es sind nicht allein die arabischen Autokraten, die Hifter anfeuern, sondern auch die Franzosen. Beim jüngsten EU-Gipfel am 10. April in Brüssel blockierte der französische Präsident Emmanuel Macron eine Resolution, welche Hifter wegen seiner Militäroffensive verurteilt hätte. Daraus wurde statt dessen die Aufforderung an alle Kriegsparteien, die Waffen schweigen zu lassen. Italien, das seit Jahren die GNA und die Vermittlungsbemühungen Salamés unterstützt, fühlt sich im Ringen um Einfluß in Libyen und Zugang zu dessen gigantischen Ölvorkommen von Frankreich hintergangen. Sollte die Situation in Libyen außer Kontrolle geraten und Hifter der große Enthauptungsschlag gegen seine Gegner mißlingen, wäre es Italien, das sich vor allen anderen europäischen Ländern mit der Flüchtlingsproblematik auseinandersetzen müßte.

Hatte vor einer Woche die Regierung in Paris behauptet, Frankreich verfolge in Libyen "keine heimlichen Interessen", so strafte eine Meldung des Nachrichtenportals Arabi21 vom 15. April diese Aussage Lügen. Unter Verweis auf eine nicht namentlich genannte Militärquelle berichtete Arabi21 von einer "Gruppe französischer Berater" in der Stadt Garyan, die 75 Kilometer südlich von Tripolis entfernt liegt und aktuell der LNA als Hauptquartier bei der laufenden Offensive gegen Tripolis dient. Dem Informanten von Arabi21 zufolge verwenden besagte "Berater" aus Frankreich, bei denen es sich wahrscheinlich um Spezialstreitkräfte handelt, Drohnen, um sich aus sicherem Abstand über die militärische Lage an der Küste zu informieren und der LNA entsprechende Empfehlungen für das weitere Vorgehen geben zu können.

Ungeachtet aller Hilfe mächtiger ausländischer Akteure ist der von diesen erhoffte Durchmarsch Hifters alles andere als sicher. Die GNA hat zwar keine eigene Armee, was Al Sarradschs fehlende Durchsetzungskraft der letzten Jahre erklärt, kann aber auf die zahlreichen Milizen im libyschen Nordwesten zählen, die nichts außer der Feindschaft zu Hifter, in dem sie Gaddhafi 2.0 sehen, gemein haben. Zu den Gruppen, die sich an der versuchten Zurückschlagung der LNA-Offensive beteiligen, gehören unter anderem die Bunyan al-Marsous (BAM) der Stadt Misurata, vier islamistische Milizen aus Tripolis sowie die Benghazi Verteidigungsbrigade, die aus der Al-Kaida-nahen Ansar Al Scharia hervorgeht, die Hifters LNA 2017 nach langwierigem Häuserkampf aus Benghazi vertrieben hat und deren Angehörige sich nun nach Vergeltung für ihre gefallenen Kameraden sehnen. Auch die "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) nutzt die Gunst der Stunde. Die libyschen Kalifatsanhänger, welche die Misurater 2016 im Auftrag der GNA und mit Hilfe der US-Luftwaffe aus ihrer Hochburg in der Stadt Sirte verjagten, haben vor zwei Tagen einen Kontrollposten der LNA im Süden Libyens überfallen und dabei sechs Soldaten getötet.

16. April 2019


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